Ein wahrhaft weites Feld

Was soll das? Wollten Sie uns etwa beweisen, daß Sie es nicht besser machen können als Fontane? Da hatten wir ohnehin keine Zweifel.

Die Rezensionen gehen weit auseinander, die Meinungen könnten nicht gespaltener sein. Ich werde neugieriger auf diesen so brisanten Roman von Günter Grass, der schon zu lange in meinem Bücherregal steht, unbeachtet und ein wenig eingestaubt. In meinem Kopf polarisieren die einst wahrgenommenen Meinungen: „Ein sagenhaftes Buch“, ein „Jahrhundertroman“, „kläglich“ und dann der SPIEGEL Verriss von Marcel Reich-Ranicki aus dem Jahr 1995. Zeit, mir eine eigene Meinung zu bilden.

Worum geht es?

„Ein weites Feld“ ist die Geschichte Theo Wuttkes, der als Fontane-Experte nicht nur seine eigene Lebensrealität zu verarbeiten sucht, sondern diese verblüffend eng mit den biografischen Details Theodor Fontanes verknüpft. Die Zeit der Reichsgründung 1870/71 in Deutschland und die des Mauerfalls 1989/90 werden literarisch miteinander verwoben, was die stilistisch höchst anspruchsvolle Doppelstruktur des Romans ausmacht. Ereignisse sowie Vorfälle des Lebens Theodor Fontanes wiederholen sich in Wuttkes Leben, als hätte man es abgepauscht.

Die Lektüre

Berlin 1989, Wendezeit. Der Leser wird in die Zeit des Mauerfalls transportiert, gemeinsam dem literarischen Gefährten namens Fonty alias Theo Wuttke. Die Ähnlichkeiten zum uns bekannten Theodor Fontane sind verblüffend und doch befremdlich, wie auch seine Frau Emmi feststellt: „Er sah wie abgekupfert aus und hätte in Kino- und Fernsehfilmen, die übrigens in beiden Staaten produziert wurden, literarische Hauptfiguren darstellen können, so täuschend hatte er sich dem alten Briest, dem alten Stechlin und schließlich der weit älteren Originalvorlage genähert. Kein Wunder, daß Emmi klagte: ‚So redet doch mein Wuttke nich.'“ (S. 202) Die Parallelität beider Lebensgeschichten bleibt zu keinem Zeitpunkt unbeachtet.

In einer Kutsche zu McDonalds fahrend, ein Nugget in süß-sauer Soße tunkend über den Stechlin berichtend, an seiner Seite Hoftaller, seine Rolle im Geschehen? Noch unklar. Ranicki beschreibt ihn als Mephisto, als gescheiterten Versuch eine Romanfigur aufleben zu lassen, eine Peinlichkeit, die, Fonty flankierend, keine sinntragende Rolle im Roman zu spielen scheint. Ein hartes Urteil, doch es scheint nicht ganz unberechtigt.

Die ersten Seiten fließen vor sich hin, man staunt und stolpert über viele Kleinigkeiten, muss sich orientieren und mal stoppen. Die Fahrten im Paternoster des Bürogebäudes prägen sich recht schnell ein und zeichnen ein Bild, das Erinnerungen weckt an Kafkas ‚Prozess‘. Die ineinander verlaufenden Strecken und Wege, die umher wuselnden Mitarbeiter und mittendrin unser Protagonist, dessen Rolle immer noch unklar erscheint. Fest steht, dass Grass den Roman spickt mit Hintergrundwissen und zahlreichen Relationen, die sich kaum in ihrer Gänze nachvollziehen lassen. Erst Namen, wie Mathilde Möring oder Effi Briest, lassen aufhorchen und sich daran erinnern, dass es ja um Fontane gehen soll. So liest man mühsam weiter. Die Leistung des Romans besteht in einer Transportierung der Zeit des Mauerfalls in die der Reichsgründung. Dabei wird bereits deutlich, dass der Text nicht ohne eine Vielzahl an Verknüpfungen auskommen kann, die die Leser*in nun dekonstruieren muss.

Ein Zwischenstopp

Der Archivmitarbeiter Wuttke kämpft mit einem Nervenleiden. Der Begriff lässt aufhorchen, es sind Symptome, die Fontane-Lesern wohl bekannt sind. Einige von Fontanes Romanfiguren weisen ähnliche Krankheitsbilder auf: die Zurückgezogenheit, die körperliche Schwäche und Depression. Erst durch Hoftaller gelingt es Wuttke zu genesen. Er widmet sich der Niederschrift von Fontanes „Kinderjahren“ mit verblüffender Akribie. Die Grenzen zwischen Real- und Idealfigur scheinen immer mehr zu verschwimmen, aber zeugen auch von der uneingeschränkten Hingabe Fontys an seine Lebensaufgabe, die in vollständiger Identifikation mit der Person Fontanes mündet. In der Beschäftigung mit dem Leben und Werk Fontanes blüht Wuttke förmlich auf und präsentiert sich als eine Figur, die das Plaudern und ausgiebiges Spazieren liebt. Seine Euphorie erscheint ungebremst, wenn es um die angesprochene „Originalvorlage“ geht, der man mühelos den Namen Theodor Fontane zuordnen kann.

Eine große Qualität des Romans dürften sich die nahezu szenischen Beschreibungen zuschreiben. Die Studierstube Fontys erwacht durch detaillierte Beschreibung zum Leben:

Vorm Schreibtisch stand auf leicht geschwungenen Beinen der Armstuhl, dessen Rücklehne ein offenes Oval bildete. Und vom Stuhl zur Tür lief ein Teppich, den man besser Läufer oder Brücke nennen sollte, weil er den schmalen Durchgang zwischen Bett und Bücherbord auf sechs Schritte überbrückte. Fonty hatte dieses exotische Stück Mitte der fünfziger Jahre von einer Vortragsreise aus Eisenhüttenstadt mitgebracht: rotchinesischer Export aus neuester Produktion, dessen befremdliches Ornament aber inzwischen, die Gehspur lang, abgelaufen war. Nur an den Rändern der Teppichbrücke kringelte sich in Ranken und pflanzlichen Trieben viel Rosa, Limonadengelb, ausgewaschenes Blau und Grün, in dem Gift lagerte. Man hätte in dem Rankwerk Dämonen und züngelnde Drachen entdecken können. (S. 239)

Liebe zum Detail

Was besonders in Auge fällt ist die Genauigkeit, mit der der Roman gestaltet wurde. Die für die Dichotomie des Romans grundlegende Gegenüberstellung von Fontane und Fonty, von 1870/71 und 1989/90, ist Authentizität enorm wichtig. Sie wird erreicht durch die Liebe zum Detail, die sich über die einzelnen Kapitel erstreckt. Die Figuren erwachen dann zum Leben, wenn ihre Eigenarten und Charakteristika besonders gut zur Geltung kommen, beispielhaft illustriert an Fontys Drehen des Eherings am Finger: „Zuallererst fiel auf, daß Fonty, den wir fiebrig unruhig erlebten, häufig mit dem Ringfinger seiner linken Hand spielte, nein, nicht eigentlich spielte, er zog bei geschlossenen Augen am Ehering“ (S. 205). Das Bild der historischen Familie Fontanes über dem Schreibtisch Fontys konkretisiert die Überlappung der familiären Strukturen. So gehen die psychischen Verbindungen langsam in physische über. In diesen sorgsam konstruierten Szenen liegt die Qualität des Romans, die ich erst langsam für mich entdecken musste.

Was bleibt?

Berechtigt bleibt abschließend die Frage nach der Fiktion des Romans. Welche Teile entstammen hier einem Nachlass Fontanes, was ist schlichtweg erfunden und wie gelingt ein solches Zusammenspiel? Es lassen sich keine konkreten Antworten finden. Es ließe sich der Freiheit des Autors zusprechen keine Kennzeichnung der Differenzierung zwischen Fakt und Fiktion vorzunehmen. Eine Re-Lektüre der Biografie Fontanes ist kein Muss, aber sicherlich ein hilfreiches Werkzeug während der Lektüre. So ließen sich die Anspielungen in vielen Aspekten vermutlich dezidierter nachvollziehen, als es der erste Leseeindruck gewähren kann.

Vielleicht lässt sich Folgendes sorgsam vorläufig formuliertes Urteil finden: Es ist als große Leistung Günter Grass anzusehen einen Roman in einer solchen Intensität und Dichte zu verfassen, gerade dazu über einen in diesem Maße popularisierenden Dichter und Persönlichkeit, wie Theodor Fontane. Es gibt viele gute Passagen und viel zu schmunzeln. Aber reicht das aus? Zwar erscheint auch der Artikel von Reich-Ranicki von einer über den Roman hinausgehenden Empörung geprägt, aber er verfehlt im Kern nicht seine Intention. Die Überlappung zwei so prägender historischer Ereignisse ist literarisch nicht ohne Reibungen umzusetzen. Denn es ist ein wahrhaft weites Feld, das Grass sich mit diesem Roman zum Thema gemacht hat.

Günter Grass: Ein weites Feld. 2. Auflage, München: dtv 2015.

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