Im Sommer nach London

„Da sitz´ ich in meiner chambre garnie mit der Aussicht auf einen endlosen Tag – was fang ich an?“, schrieb Theodor Fontane im Frühjahr 1852 aus der Burton Street. Im Gegensatz zu ihm, der wegen tagelanger „Sündflut“ keinen Schritt vor die Türe setzte, reisen meine Frau und ich im Dürre- und Hitzemonat Juli nach London. Per klimatisiertem Reisebus, um Fontanes Spuren zu finden.

Tag 1: Beim Zwischenstopp in Antwerpen darf ein Besuch bei Peter Paul Rubens nicht fehlen. Fontane benötigte Empfehlungen, um dessen Gemälde im Königlichen Museum besichtigen zu dürfen. Das Rubenshuis, Wapper 9–11, ist seit 1946 Gedenkstätte und jedermann zugänglich. Präsentiert werden Einrichtungsgegenstände und Gemälde des geschäftstüchtigen Meisters, aber auch Werke flämischer und italienischer Künstler. Besonders beeindruckt uns Matthijs van den Berghs „Knabe auf dem Totenbett“, erinnert es doch an die schmerzlichen Verluste, die auch die Familie Fontane erleiden musste. Höhepunkte sind das riesige Atelier und der herrliche Renaissancegarten. Durch das Gartentor, einem römischen Triumphbogen nachempfunden, gelangen wir in den schattigen Hof und von dort hinaus in die 40 Grad heiße Stadt.

Erfrischung verspricht der historische Gewölbekeller De Pelgrom, Pelgrimstraat 11. Unter hundert Biersorten wählen wir „St. Bernardus Abt“, ein 10,5 prozentiges Starkbier. Was hielt eigentlich Fontane von Bier? Besang er nur „die Werdersche“? Das klären wir heute nicht mehr, sondern pilgern beschwingt zu unserem Hotel. Modern und sauber ist es – keine „Räuberhöhle, Wanzennest“ wie seinerzeit das Hôtel du Temple.

Tag 2: Nach London also! Überquerte Fontane 1852 den Ärmelkanal von Ostende nach Dover, soll unsere Überfahrt eine Autostunde weiter westlich erfolgen. Angesichts des ruhigen Sommerwetters bedrückt weniger die Furcht vor der Seekrankheit, als der kilometerlange Grenzzaun am Terminal von Calais. Wie lange wird Großbritannien das Einschleusen unerwünschter Flüchtlinge und Migranten verhindern können? „Das Land steht offen, aber die Häupter sind zu“, stellte Fontane bei seinem zweiten Londonaufenthalt fest. „The hospitable English house“ war bereits damals zu einer verbrauchten Redewendung geworden.

Pünktlich um 11:35 Uhr Mitteleuropäischer Zeit (MEZ) legt die voll beladene Pride of Kent ab. Wer zu lange dem Kontinent nachblickt, hat im Bordrestaurant das Nachsehen: Fish & Chips sind nämlich im Handumdrehen ausverkauft. Wir erwarten entspannt die weißen Klippen von Dover, „das halberleuchtete Kalkgebirge, das amphitheatralisch die Stadt umgibt“. Um 12:00 Uhr Greenwich Mean Time (GMT) erreicht die Fähre den Hafen. Das Gun Hotel, in dem Fontane mehrfach übernachtete, existiert längst nicht mehr und selbst die Strond Street lässt sich nur erahnen. Unser Bus fädelt sich ein in die vierspurige A 2, nahe Canterbury wird sie zur vielspurigen M 2, und gegen 14:30 Uhr kommt London!

„Der Zauber Londons ist – seine Massenhaftigkeit.“ Das Häusermeer, von dem Fontane staunend schrieb, ist in schwindelerregende Höhen gewachsen, die Bevölkerungszahl hat sich vervielfacht. Der Bus durchfährt einen Tunnel unter der Themse (Blackwall Tunnel) und taucht ein in den Tower Hill Coach Park. Die Reisegesellschaft strebt nach oben und wird von schwitzenden Beefeaters in Empfang genommen. Wir eilen unterm Regenschirm zum Tower Millenium Pier. Wenige Minuten später schaufelt uns ein Steamer der City Cruises die Themse hinauf. Das Custom House und die London Bridge, das Monument und Saint Paul´s Cathedral, Blackfriars Bridge und Waterloo Bridge sind eng mit Fontanes Erlebnissen verbunden. Wir schauen im Wechsel von links nach rechts, wo eine Sehenswürdigkeit die andere abwechselt. Kaum an der Westminster Pier angelangt, entert die nächste Touristenschar das Schiff.

Westminster Palace ist 1834 abgebrannt, Fontane hat ihn wiederauferstehen sehen. „Diese Parlamentshäuser sind da und haben viel Geld gekostet, das steht beides fest. Namentlich der letztere Umstand läßt den Gedanken gar nicht aufkommen, daß sie vielleicht doch nichts taugen könnten.“ Anderthalb Jahrhunderte später bröckelt der Palast und Big Ben (seit 2012 offiziell Elizabeth Tower) hüllt sich in Schweigen. Wird das riesige Ensemble bis 2021 tatsächlich saniert sein? Folgt auf den Brexit das versprochene „goldene Zeitalter“? Während die Polizisten den Feierabend herbeisehnen, fordern besorgte Bürger „No to racism! No to Boris Johnson!“

Das Thermometer zeigt noch immer 39 C. Durch College Street und -Garden spazieren wir zu Westminster Abbey. „Es sind so heiße Tage jetzt, und im Vorübergehen an dem alten Prachtwerk der englischen Baukunst lieb´ ich es einzutreten in das kirchenkühle Schiff, um mich satt zu trinken an jenem wunderbaren Blau, das ich Mal auf Mal aus den hohen  glasbemalten Fenstern auf mich niederströmen fühle.“ Beim Gottesdienst in Westminster Abbey glaubte Fontane sein englisches Hörverstehen verbessern zu können. Von der Poet´s Corner grüßen David Garrick, „der Verkörperer Shakespeareschen Wortes“, und William Shakespeare selbst. Wir haben nicht Zeit noch Muße bei allen Bildwerken zu verweilen, inmitten neuseeländischer Studentinnen strömen wir hinaus. Ein Königreich für einen guten Kaffee! Der Portier im Queen Elizabeth Center weiß, wo wir den finden: Gleich um die Ecke, im Café Fresco, 11 Tothill Street. Der frisch zubereitete Kaffee – anders als die üblichen Maschinengetränke – ist ein wirklicher Genuss!

Von der gegenüberliegenden St. James´s Park Station bringt uns die Circle Line zurück zum Tower Hill. Mit dem Bus erreichen wir das Hotel in Ealing Common. Nach Einchecken und Dusche gönnen wir uns ein Half-Pint „Stella Artois“ und – Fish & Chips. Keine kulinarische Delikatesse, aber besser als die von Fontane monierten Hammelkoteletts. BBC News zeigt Bilder vom Hitzechaos auf den Londoner Flughäfen, der Evening Standard witzelt über „The cool cats of Westminster“. Zum Glück sind wir gut gereist und über Nacht kühlt es sich spürbar ab.

Tag 3: Nach dem Frühstück – wer es mag, auch full English – treffen wir Ulla Thiessen, eine „verengländerte“ Schleswig-Holsteinerin, die uns mit viel Humor durch die Metropole begleiten wird. London steht im Zeichen der 200. Geburtstage von Königin Victoria und ihres Prinzgemahls Prinz Albert von Sachsen-Coburg und Gotha, die viel für das britisch-deutsche Einvernehmen geleistet haben. Ihre Tochter Victoria (Vicky) wurde 1858 mit dem preußischen Prinzen Friedrich (Fritz) Wilhelm vermählt. Der Presseagent Fontane war vor Ort und berichtete exklusiv darüber. In Carlton House Terrace, dem ehemaligen Sitz der preußischen Gesandtschaft, verlassen wir den Bus. Ulla führt uns vorbei am King George VI and Queen Elizabeth Memorial hinunter zur Mall. Um 11 Uhr wird zwischen Buckingham Palast und St. James´s Palast der tägliche Wachwechsel zelebriert. Pferde und Reiter, Bärenfellmützen und Trompeten trotzen dem englischen Regen. Und nach 30 Minuten ist das Spektakel vorbei.

Auf unserer Rundfahrt begegnen uns zahlreiche Denkmäler. Nach Ansicht Fontanes entbehrten sie jeglicher künstlerischer Zuverlässigkeit. Auf dem Trafalgar Square steht die Nelsonsäule, unweit davon (Vorsicht, Linksverkehr!) die Reiterstatue Karl Stuarts. „Wie wenig ist diese Statue und wie  viel hätte sie sein müssen in dem loyalen, königlichen England“, bedauerte Fontane, der dem gescheiterten König ein Drama widmete. Wir nehmen unseren Kaffee im Simpson´s in the Strand, 100 Strand. Unten, im Restaurant Grand Divan, gönnte sich Fontane etwas Gutes zu essen. Oben trank er seinen „Kaffe“, studierte die Presse oder schrieb Briefe. Der diensthabende Oberkellner hört sich das alles mit viel Interesse und Geduld an.

Es ist Freitagabend, die National Gallery hat bis 21 Uhr geöffnet. Gelegenheit, die Gemälde William Turners zu betrachten. Fontane hatte zwanzig seiner Landschaften einst im Marlborough House gesehen. „Turner ist auf dem Continente außer bei den Kunstverwandten kaum dem Namen nach bekannt.“ Na, das hat sich inzwischen ja gründlich geändert.

Über Covent Garden Market (Vorsicht, Taschendiebe!) geht es in die Long Acre. Im Haus Nr. 27 – heute Store des schwedischen Modelabels ARKET – befand sich 1852 das viel zitierte Windsor Castle, eine „Flüchtlingskneipe“ – eigentlich tabu für einen Mitarbeiter des Innenministeriums. Nach fünf Tagen wechselte Fontane in die Burton Street. Unser Ziel ist der Pub Freemansons Arms, 81–82 Long Acre. Im Speisesaal, zwei schmale Treppen hoch, wird unserer Gruppe ein Touristenmenü serviert. „Bishops finger“, ein 5,4 prozentiges Kentish Strong Ale, oder sonstige Getränke gibt es unten an der Theke.

Tag 4: Auf dem Programm steht ein Ausflug in die nähere Umgebung. Das Schloss Windsor, „köstlich gelegen mit einem mächtigen Rundturm“, kennen wir bereits. Noch unbekannt ist Eton – das berühmte Universitätsstädtchen, das Fontane mehrfach besuchte. Man überquert die Brücke über der Themse und fühlt sich sofort in eine andere Zeit versetzt. Am Eton College werden die Sprösslinge (ausnahmslos Jungen) wohlhabender Eltern auf eine Karriere vorbereitet – Selbstinszenierung inbegriffen. Noch ist es recht still hier, bis September sind alle in den Sommerferien.

Hampton Court lernte Fontane im Sommer 1852 kennen. In illustrer Gesellschaft von vier Damen und zwei Herren sowie einer „Wagenburg von Körben“ ließ er sich ab Richmond stroman rudern. Vor dem Picknick am Ufer der Themse stand die Besichtigung des Palastes, dessen ausführliche Beschreibung in „Ein Sommer in London“ (1854) haben wir natürlich dabei. Hampton Court Palace gilt sowohl als Musterbeispiel der Tudorarchitektur als auch Zeugnis der Verschwendungssucht Heinrichs VIII. Im neueren Teil des Palastes erwarten uns keine „schlanken Ulanengestalten“, sondern strenges Aufsichtspersonal (Fotografieren unerwünscht!). Die Bildergalerie empfand Fontane als „ein Revueabnehmen über die Träger der englischen Geschichte.“ Gern hätten wir „das blasse Antlitz Maria Stuarts“ gefunden, das ihn damals so beeindruckte. Es ist bereits vier Uhr nachmittags – Tea Time. Eilte Fontane zu Hühnerpastete und Portwein an die Themse, bescheiden wir uns mit Cream Tea im Fountain Court Café, „fruit scones with clotted cream and strawberry jam served with English breakfast tea“. Das Wort „served“ ist hochgestapelt, aber die Scones sind lecker und das historische Ambiente passt.

Für die Rückfahrt nach London nehmen wir die South Western Railway. In Waterloo Station steigen wir um in die Northern Line, ab Euston Station geht es zu Fuß zum Tavistock Square. Dort fragt ein englisches Ehepaar nach der Blue Plaque für den Romancier Charles Dickens. Wir haben sie bereits gesehen: am Tavistock House, wo heute die British Medical Association residiert. Aber wir suchen Theodor Fontane? Er wohnte hier ab Juni 1852, nur wenige Schritte entfernt … Unter der Adresse  1–6 Tavistock Square finden wir Age UK London, eine Wohltätigkeitsorganisation für ältere Menschen. Nicht hier, aber in den Tavistock Gardens, wo der Mittdreißiger gern unter Ahornbäumen saß, wäre ein Hinweis seiner würdig. Seine Verehrer werden dennoch zufrieden sein: Unter den 800 blauen Plaketten für berühmte Persönlichkeiten gibt es in London auch eine für Theodor Fontane: in 6 St. Augustine’s Road (Camden):

Tag 5: Obwohl noch mehr zu erkunden wäre, heißt es Abschied nehmen. Nachdem die Koffer verstaut sind, fahren wir nach Kew, Richmond. Die Royal Botanic Gardens zählen mit etwa 30.000 Pflanzenarten zu den bedeutendsten ihrer Art. Nicht weit vom Brentford Gate befindet sich Kew Palace, der vergleichsweise bescheidene Sommerpalast des Königs George III. Im Stil des 18. Jahrhunderts gekleidete junge Damen locken hinein und vermitteln Wissenswertes. Unser extravaganter Prince Pückler-Muskau ist ihnen dem Namen nach bekannt, aber Theodor Fontane gehört in eine andere Zeit. Apropos Zeit: Der Bus nach Dover wartet, um 14:45 Uhr geht die Fähre! Auf der Pride of Burgundy ergattern wir frische Fish & Chips und einen Fensterplatz. Wie wird Fontane wohl zumute gewesen sein, als er die britische Küste für immer hinter sich ließ?