„Die Wirklichkeiten fangen an“ – Hans-Peter Fischer im Interview

Sucht man in der Bibliographie der deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft nach Einträgen zu Fontanes „Berliner Alltagsgeschichte“ Irrungen, Wirrungen (1888), so wird man mit einer erschlagenden Vielzahl an Sekundärtexten konfrontiert. Kurzum; der Roman scheint ein beliebter Forschungsgegenstand zu sein. Einer der neusten Einträge gilt Hans-Peter Fischer. Jener fügte 2019 eine fast fünfhundertseitige, gar ungewöhnliche Studie in die lange Liste um die Literatur von Irrungen, Wirrungen hinzu: „Die Wirklichkeiten fangen an“. Theodor Fontanes „Irrungen, Wirrungen“ als Gradmesser einer sich verändernden Welt. Er widmet sich ganz dem Roman, in verschiedenen Aufsätzen, mit eigens geschriebenen Gedichten oder sogar einem Schauspiel Clara Poggendorf. Fischer studierte Literaturwissenschaft, Philosophie und Psychologie. Er unterrichtete bis 2009 am Otto-Hahn-Gymnasium in Dinslaken die Fächer Deutsch und Philosophie sowie ab der Stufe 12 Literatur.

Im Zuge der Tagung der Theodor Fontane Gesellschaft 2019 entstand der Kontakt vom Fontane Blog zu Hans-Peter Fischer und die Idee eines Interviews bezüglich seines neuesten Werkes. Wir danken Hans-Peter Fischer für seine Aufgeschlossenheit und für die Beantwortung der von uns gestellten Fragen:

Was war der Initiator, Ihr Antrieb für die langjährige intensive Beschäftigung mit Irrungen, Wirrungen? Was war Ihre Intention?

Fischer: Zweierlei kam zusammen: Einmal ein Artikel von Bernd W. Seiler in Die Zeit zu Fontanes unliebsam folgenreichen Ostertagen 1848 in Dresden. Indirekt ergab sich ein Hinweis zum Verständnis von Irrungen, Wirrungen: Bothos seltsamer Wunsch, die Bootsfahrt in Stralau wäre besser ausgefallen, erscheint über die Textbedeutung hinaus zusätzlich biographisch motiviert. Ich dachte mir dabei, wie viele solcher Einsprengsel gibt es noch, was bedeuten sie für das Romangefüge? Eine Fragestellung, die z. B. für mich die Erklärung, dass die Landgrafenstraße als Topos für „Unglückswohnung“ stehen kann, aus brieflichen Äußerungen ableitbar sein lässt, als Familienpattern also. Festzuhalten bleibt dennoch: Biographisches sollte zur Ausdeutung nur auf kleiner Schiene gefahren werden.

Sodann und ungleich gewichtiger ist die Lektüre von Michael Maars Geister und Kunst (1995) über die vielfältigen Bezüge Thomas Manns zu Andersens Märchen. In einer Anmerkung lesen wir, dass hiervon bereits viel bei Fontane vorkommt. Über Lene Nimptsch als „Kleine Meerjungfrau“ habe ich dann bislang Unentdecktes geschrieben, aber auch, wie vorbildhaft und fruchtbar Fontanes Schreibweise sich insgesamt für Thomas Mann erwies. Einen ersten Eindruck konnte ich gewinnen, als ich Ende der 1990er eine Gegenüberstellung von Romanhandlung und Ablauf des Märchens Kursteilnehmern der Stufe 12 des Gymnasiums vorlegte. Was an weiteren Entdeckungen folgte, hat mich in der Vielfalt selbst überrascht: Die Intrigenvielfalt oder die Bourgeoisie in ausschließlich jüdischem Gewand seien exemplarisch genannt. Das alles zu einem Gesamtkunstwerk der Finessenvielfalt Fontanes zusammenzustellen, umreißt die Frage nach der Intention.

 Wer sollten Ihre AdressatInnen sein, für welche Leserschaft haben Sie Ihr Buch verfasst?

Fischer: Der Adressat ist der interessierte Fontaneleser, dem es Spaß macht, zum eigenen Romanverständnis auch noch weitere, vom eigenen Verständnis abweichende Meinungen und Darlegungen zu erfahren. Mein Buch ist keine Variation von Königs Erläuterungen, wie wir sie von der Schule kennen. Erwartet wird, dass man sich zunächst möglichst intensiv mit dem Text, dann erst mit den von mir vorgelegten Einblicken beschäftigt. Der Leser konstituiert den Text, diese hermeneutische Grundüberzeugung konnte ich Mitte der 1960er Jahre beim Studium an den Universitäten in Köln und Tübingen gewinnen und für mich fruchtbar machen.

Zu Beginn Ihres Buchs sprechen Sie davon zwar einen „weiteren aber anders gestalteten Beitrag zu ‚Irrungen, Wirrungen‘ abzuliefern“. Gewiss unterscheidet sich Ihr Beitrag von anderen Monographien vehement. Unter Ihre Aufsätze, die sozusagen ein Kaleidoskop an Gedanken, Meinungen und Interpretationen Ihrerseits bilden, befinden sich Einschübe aus Illustrationen und Gedichten. Sie blieben gleichsam nicht bei der bloßen Analyse stehen und schufen selbst Ihre „Phantasmagorien“ oder auch Szenerien wie „Clara Poggendorf“. Sie erschufen beispielsweise Ihre Figur Botho und bewegten Ihn nach Paris, kreierten ein Narrativ, in dem dieser zu einem „Picasso-Betrachter“ wird, einem Betrachter des Gemäldes Les Demoinselles d’Avignon (1907). Wie kam es dazu? Was veranlasste Sie selbst kreativ zu werden, über die Narration, die der Roman uns bietet, hinauszugehen und was möchten Sie damit erreichen?

Fischer: Indem ich allein im letzten Band eine Vielzahl von Möglichkeiten kreiere, das Phänomen Fontane durch eigene Beiträge besser oder anders zugänglich zu machen, möchte ich, dass der Leser, der davon keinerlei Vorstellung hat, das eigene Kreative, das in jedem schlummert, als roten Faden aufgreift und in die Tat umsetzt. Jeder, der die letzte Verfilmung von Effi Briest (2009) gesehen hat, weiß um seine Reaktionen, seine Art des Umgangs mit Eingriffen in den Text. Oder wenn in der letztens zu sehenden TV-Verfilmung von Unterm Birnbaum (2019) die Vorgeschichte von Ursel und Abel Hradscheck quasi gestrichen wird, um eine möglichst elegante Versetzung ins Hier und Jetzt zu ermöglichen – da kommt Widerstand auf, dann eventuell ein Prozess in Gang, der das eigene Textverständnis herausfordert und möglicherweise neu justiert. Meine jeweiligen Eigengewächse bilden da keine Ausnahme, neben der Gestaltungsfreude soll stets vor Augen stehen, dass eine Vorlage aufgegriffen, variiert, aber nicht in Frage gestellt wird – im Gegenteil.

Welche von Ihnen in den Aufsätzen erläuterten Thesen, Motive oder Themenbereiche erachten Sie für besonders wichtig, im Besonderen mit Blick auf die Forschung? Was wären Ihre Wünsche für die Forschung um Irrungen, Wirrungen?

(c) Hans-Peter Fischer

Fischer: Ein heikles Thema, oder „sehr intrikat“, wie Fontane in einem Brief an Emilie schreibt. Gut lässt es sich mit Lessings Lob für Klopstock umreißen, das vieles als bloß daher gesagt entlarvt, womit man es in Wahrheit von sich fern hält. Sein Sinngedicht endet also folgerichtig mit einem süffisanten „wir wollen fleißiger gelesen sein“. Mein Buch kann einiges zur Klärung beitragen, vor allem dabei helfen, eine Erzählfigur in den Fokus zu rücken, die vor mir geradezu stiefmütterlich behandelt wurde – bis hin zur völligen Aussparung! Was leicht zu belegen ist: Noch in der neuen Reclam-Ausgabe von Irrungen, Wirrungen mit einem Nachwort von Philipp Böttcher fehlt jeglicher Hinweis auf Käthe. Damit zeigt sich zugleich, dass die von mir vorgelegten Arbeiten ignoriert wurden. Ich habe im Anschluss an die Nachwort-Lektüre kurz rekapituliert, wie viele Aspekte seitens der Forschung bislang übersehen wurden – über zehn Themenbereiche sind zusammengekommen. Besonders liegt mir am Herzen, darauf zu dringen, die Gestaltung der Käthe-Figur genauer in den Blick zu nehmen. Dass ich als Niederrheingewächs auf Schön-Kätchen aus Emmerich verweise, Mätresse Friedrichs I., ist dabei nur eine Facette von vielen.

Schon die Tatsache, dass der Erzähler Lene vor der Einsegnung ins Theater und Käthe auf einen Ball gehen lässt, sollte als Hinweis registriert werden, die Augen für parallele Handlungsstränge weit geöffnet zu halten. Kurios auch, dass Käthe den gleichen Jargon verwendet wie später Effi, wenn beide unisono nicht fassen können, dass dergleichen in „ihrem Preußen“ geschehe – Unsittliches also, in vermeintlicher, also vorgegebener Unschuld.

Was nur heißen kann, auch hier Fontanes Hinweisen zu folgen, zu konstatieren, dass er Käthes Part sehr genau konzipiert hat, sie also keineswegs als „flachsblond“ abtut, wie es in Interpretationen geschieht.

 

Hans-Peter Fischer:„Die Wirklichkeiten fangen an“. Theodor Fontanes ‚Irrungen, Wirrungen‘ als Gradmesser einer sich verändernden Welt. Mit Ilustrationen von Barbara Grimm.
Königshausen & Neumann, Würzburg 2019. 499 Seiten, 58,00 EUR. ISBN-13: 9783826066931

2 comments

  1. Dr. Joachim Kleine says:

    Hans-Peter Fischer und ich wechselten gelegentlich Briefe miteinander. Ich schätze seine Belesenheit und künstlerische Phantasie, bedaure aber, dass seine Trilogie zu Irrungen, Wirrungen zwar zu einer Unzahl von Vermutungen, doch zu nichts Schlüssigem, geschweige zu tieferem Verständnis Fontanes, nur zu Einblicken in die Unordnung und Unfertigkeiten seiner eigenen Gedankengänge führte. Auch in seinem dritten Anlauf löst er das im Untertitel angekündigte Versprechen nicht ein. Wer sich freilich gern in Spekulationen, Vermutungen und Versuchen ergeht, was sich bei Fontane herauslesen, hineindeuten und daraus machen lässt, mag hier auf seine (nicht unerheblichen) Kosten kommen.
    Joachim Kleine

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