Als ich einmal fast Denis Scheck war

20. August 2021: Ich war zeitig genug in Neuruppin, um meinen Zimmer-Schlüssel in Empfang zu nehmen und noch durch die Stadt zu bummeln. Gleich hinter der Tür zur Pension traf ich Johanna Hahn, Jurymitglied wie ich. „Wir müssen doch heute nichts machen, nicht wahr?“, fragte sie. „Nein, nur dabei sein und genießen“, sagte ich.

Die Sonne schien, ich durfte mich mit einer gefüllten Taube stärken, die im Restaurant „Rosengarten“ im Angebot war. Ich schwelgte in Kindheitserinnerungen. 

Am See saß der blecherne Fontane und schaute den Fontänen zu, die aus seinem Buch sprudeln. Mit den Schuhen stand er im Wasser. Es begann zu regnen, und ich musste für einen Moment den Schirm aufspannen. Ich schaute fasziniert zu, wie Regen- und Seewasser ein grauer Schleier wurden und gleich danach Parzival die Sonne reflektierte.

Zwei Frauen fragten, ob ich auch Touristin sei oder ob ich hier wohne. Nein, ich bin beruflich hier, antwortete ich. Wir verleihen heute Abend den Fontane-Literaturpreis. 

Inzwischen hatten Polizisten den Markt mit Absperrbügeln in zwei Teile geteilt. Das Bündnis „Schöner leben ohne Nazis“ und die Junge Alternative (AfD) kämpften akustische miteinander. Rio Reiser gegen „Märkische Heide“.  Den Luftraum konnte die Polizei nicht teilen, und ich zog mich lieber ins „Il Gelato“ zurück. Als ein Espresso und zwei Kugeln Eis mit einer beachtlichen Portion Sahne vor mir standen, schaute ich auf mein Handy. Ein Anruf von Mario Zetzsche, Kulturreferent der Stadt Neuruppin. Er wird wissen wollen, ob ich gut angekommen bin und meinen Zimmerschlüssel habe, dachte ich und rief zurück. Richtig, er fragte, ob ich schon in Neuruppin sei. Aber – das traf nicht auf alle Akteure des Abends zu. Der Laudator Denis Scheck stecke im Stau, sagte Herr Zetzsche. Ich trank einen Schluck Espresso. Mein Herz schlug etwas schneller. 

„Ob ich mir vorstellen könnte …“

‚Denis Scheck‘ dachte ich, ‚der hat doch vor kurzem Christa Wolf …‘

Es sei ein ziemlich langer Text und er könnte ihn mir gleich bringen.

Ich hatte also noch einen Moment Zeit, mir alles zu überlegen. Nein, ich hatte keine Zeit. Die Laudatio gehört zur Preisverleihung, und es geht um die Preisträgerin, Judith Zander.

Minuten später saß Mario Zetzsche mir gegenüber. Er wies mich auf eine wichtige Stelle im Text hin: „Des Effi Briest, das sei Absicht.“ Ich sagte noch einmal: „Ja, ich kann das.“ Und mein Herz schlug und ich dachte: ‚Bestimmt kommt er noch und ich kann ihm zuhören und weiß schon, was er sagt.‘ Und mein Herz, mein Herz schlug mit dem Mix aus Espresso und Lampenfieber, als würde ich gerade auf einem Trampolin hüpfen.

Ich las den Text leise zu Sahne, Mango-Eis und Sauerkirsch-Eis. Ich ging ins Hotel und las den Text laut. Sätze über fünf Zeilen, sowohl von Denis Scheck als auch von Judith Zander. Sätze, bei denen man trotz Erstickungsgefahr nicht den Faden verlieren darf. Englische Sätze und wo – verflixt nochmal – betont man Hapaxlegomena und wie spricht man Iwan Michelangelo D’Aprile aus?

Ich erkannte Zitate wieder, die auch in meinem Exemplar von Johnny Ohneland mit einem Klebezettelchen markiert waren. Das beruhigte mich. 

Dann ging ich zur Kulturkirche. ‚Bestimmt ist er schon da‘, dachte ich. Aber ich irrte mich.

Unter den Jurymitgliedern hatte es sich schon herumgesprochen, dass ich für Denis Scheck einspringen würde. Ihr Zuspruch half mir. Dann sang Katharina Franck ihren ersten Titel. So viel Energie, dachte ich, davon nehme ich mir was, danke, Katharina! Frauenpower!

Carmen Winter liest „Denis Scheck“, 20. August 2021 (Foto: Roland Berbig)

Noch eine Rede, noch eine Rede, Preisübergabe, dann war ich dran. Ein Schluck Wasser, ausatmen und hoch auf die Bühne. Ich las und las und nur ein oder zweimal stolperte die Zunge. Auch durchs Englische kaute ich mich mutig und dann: Beifall, weiche Knie, hinsetzen, atmen.

Ich konnte die elegante, kluge, hinreißende Dankesrede von Judith Zander genießen.

Schlussapplaus. 

Es raunte im Foyer: Jetzt ist er da. Das ist er doch, oder?

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