Vom „Innstetten-Syndrom“ – Fontane in Uwe Johnsons „Skizze eines Verunglückten“

Ein schmales Nebenwerk

Über Uwe Johnson und Theodor Fontane wurde hier auf dem Blog erst kürzlich berichtet. Es ging um Johnsons Hauptwerk Jahrestage und die Schulunterricht-Episode aus dem vierten Band. Und natürlich auch um den entsprechenden Prätext des Unterrichts: Fontanes Schach von Wuthenow. Überdies wurden weitere, tiefergehende Verweise angerührt aber nicht ausgeführt. Ein Verweis, der dabei unerwähnt blieb, manövriert die Fontane-Johnson-Spur fort vom Hauptwerk ins schmalere Nebenwerk.

Cover der Neuausgabe von 2016

1981 veröffentlichte der 1934 in Cammin in Pommern geborene Johnson die Skizze eines Verunglückten in der Festschrift Begegnungen. Max Frisch zum 70. Geburtstag. Nur ein Jahr später erschien das kurze Prosastück auch als Einzelexemplar in der Bibliothek Suhrkamp. Neben seiner Frankfurter-Poetik-Vorlesung Begleitumstände beendete die Skizze Johnsons seit Mitte der 1970er Jahre anhaltende „Schreibkrise“, sodass er 1983 den vierten Band seines eingangs erwähnten Hauptwerkes abschließen konnte. 1984 starb Uwe Johnson im Alter von 49 Jahren.

Ästhetik vs. Biografie

Dass die gerade einmal 76 Seiten der Skizze eines Verunglückten nicht minder diskussionswürdig sind als die Jahrestage, beweist ein Blick in die Johnson-Forschung. Dort changieren die Lesarten der Skizze zwischen zwei Deutungspolen: einem ästhetischen und einem biografischen. Versucht erstere Lesart die besonders kunstvolle, poetologische Struktur der Skizze zu fokussieren (vgl. Ribbat, Oschmann), neigt die letztere dazu, Johnsons Leben auf den Protagonisten der Skizze zu deuten (vgl. Neumann).

Fakt ist: „Undoubtedly, there is autobiography in ‚Skizze‘, yet the pre-eminence of interest in that loses sight of the text as text.“(Bond, S. 19) Schließlich bleibt es den Leser:innen doch selbst überlassen, welche Position er:sie dazu einnehmen möchte. Im Hinblick auf den Inhalt der Skizze zeigt sich die Schwierigkeit, die der Text seinen Leser:innen bereithält.

Ein einleitendes kursiv gesetztes Zitat von Johnson selbst (Büchner-Preisrede von 1971) eröffnet den Text. Darin wird ein alter Mann beleuchtet, der durch die Straßen New Yorks in ein Café geht, der seine deutsche Staatsbürgerschaft abgelegt hat. (vgl. Johnson, S. 7f.) Im Anschluss beginnt die Skizze erneut und verdeutlicht ihre Struktur als Skizze, wenn es heißt:

Herr Dr. J. Hinterhand (1906–1975) gestattet seit Juni 1975 die folgenden Berichtigungen, Ausführungen, Auskünfte und Nachträge. (Johnson, S. 8)

Es schließen sich zwölf nummerierte Abschnitte an, die im Konjunktiv die Lebensgeschichte des Protagonisten, Joe Hinterhand, darstellen. Die gebrochene Sichtweise entsteht durch die Situation: Ein anonym bleibender Berichterstatter gibt die „Berichtigungen, […]“ des Protagonisten wieder – jedoch kann sich der:die Leser:in nicht darüber im Klaren sein, ob der Text der Skizze mit den „gestatteten Ausführungen“ übereinstimmt. Der Text als Skizze offenbart sich nicht als authentisches Zeugnis, sondern als eine mögliche Variante des Lebens.

Intertextuelles Verwirrspiel

Dieses Leben des Joe Hinterhand ist es nun, das zu Fontane führt. Als Findelkind auf die Schwelle eines Waisenhauses gelegt und durch wechselnde Pflegefamilien habitualisiert, dadurch „Zeuge“ geworden, was „ein Mann und eine Frau einander antun können, habe er eine Vorstellung vom Leben in einer Ehe sich selbst noch einmal erfinden müssen“. (Johnson, S. 20) Diese Vorstellung des Protagonisten wird inspiriert von „Eidshelfern“ (Johnson, S. 71).

Dabei handelt es sich um zumeist männliche, kanonisierte Schriftsteller und Philosophen der Weltliteratur von Platon bis Bloch. In diesem Zusammenhang erschließt sich der Beruf des Protagonisten: Er ist Schriftsteller. In den Text der Skizze werden entsprechende, wohl ausgewählte Zitate der Eidshelfer integriert. Die hierbei entstehende Collage bilden letztlich das Verständnis von Liebe und Ehe des Joe Hinterhand ab.

Diese Collage offenbart sich aber rasch als narzisstisch und patriarchalisch. So beispielsweise, wenn als einzige Schriftstellerin Marie Luise Kaschnitz zitiert wird: „Ein Schriftsteller ist meistens ziemlich einsam und seine Frau ist für ihn die Verbindung mit der Welt.“ (Johnson, S. 44) Dass das Zitat von Kaschnitz einem größeren Zusammenhang entnommen ist, wird nicht erwähnt, die Konsequenz zieht nur der:die wissende Leser:in (vgl. dazu Bürgerhausen u. Golisch).

In eine ähnlich Kerbe schlägt dann auch das erste Fontane Zitat:

Es kommt nicht darauf an, daß irgend etwas, oder wohl gar alles, auf einer Musterhöhe wandelt, es kommt auf das „Zueinanderpassen“ an, und wenn man sich auf diesen Punkt hin nicht verrechnet, so wird man glücklich. Auch das ist richtig, daß das gegenseitige Sichhelfen eine große Rolle spielt. In dieser Beziehung ist mir immer die Geschichte vom „Swinegel un sine Fru“ als Musterstück niederdeutscher Weisheit und Poesie erschienen. […] Darin ist das Musterstück einer guten Ehe vorgezeichnet […] Aber dabei muß ich bleiben, ein anständiges Sichhelfen, mit guter Rollenverteilung, bedeutet viel in der Ehe, und „mine Fru“ hat diese große Sache geleistet. (Johnson, S. 45f.)

Das Zitat ist Fontanes später autobiografischer Darstellung Von Zwanzig bis Dreißig entnommen. In der Johnsonschen Skizze bricht Fontanes Text nach – „Darin ist das Musterstück einer guten Ehe vorgezeichnet“ – ab. Ein positives Bild wird suggeriert, ja ein „Musterstück“ von Ehe, das aber keineswegs auf „Musterhöhe“ zu wandeln braucht. Doch wird Fontanes eigentlichen Worten gefolgt, entlarvt sich die intertextuelle Collage des Protagonisten:

Darin ist das Musterstück einer guten Ehe vorgezeichnet, allerdings mit einem starken Beisatz von Pfiffigkeit und beinah Niederträchtigkeit. Und um dieses Beisatzes willen muß ich einräumen, daß „Swinegel un sine Fru“ beträchtlich über mein Ideal hinausgehn.

Vom „Innstetten-Syndrom“

Dass sich die Skizze aber nicht allein in solch einer Zitat-Collage erschöpft, sondern weiterhin mit Intertexten operiert, um bestimmte Erlebnisse des Protagonisten zu kolorieren, führt schließlich zu einer zweiten Fontane Anspielung. Die Darstellung des Joe Hinterhand ist an diesem Punkt des Johnsonschen Textes über die mustergültige Ehe hinausgeschritten.

Dem Protagonisten, von einem gesellschaftlichen Außen als Jude konstruiert und aus Deutschland ins Exil nach Amerika vertrieben, wird von seiner – stets namenlos bleibenden – Frau der Ehebruch gestanden. Sie hatte mit einem „Verfechter faschistischer Theorien“ (Johnson, S. 51) über mehrere Jahre ein Verhältnis. Das labile Nervenkostüm Hinterhands zerspringt daraufhin, der Betrug treibt ihn zur Tat. Er tötet sein Frau. Doch an seinen Idealen, seinen Eidshelfern, hält er fest.

Die Semantik der Skizze lässt keine andere Möglichkeit offen: Sollte er seine Vorstellung von Liebe und Ehe aufgeben, müsste er auch sein Leben aufgeben. Daher ist es nur logisch, dass Hinterhand in der Gerichtsverhandlung über den Mord an seiner Frau auf ein ihn plagendes Gefühl hinweist: das „Innstetten-Syndrom“. (Johnson, S. 53) Die anschließende Erklärung des Syndroms wird im Text der Skizze ausgelassen, radikal auf ein Detail gekürzt: „Die hätten in ihm das Innstetten-Syndrom hervorgerufen…Erklärung des so benannten Syndroms, Buchstabieren des Namens Wüllersdorf.“ (ebd.)

An dieser Stelle vollzieht der Johnsonsche Text eine Selbstreflexion. Indem der Name Wüllersdorf explizit markiert wird, jedoch die eigentlichen Protagonisten des Fontanschen Ehebetrugs (Effi, Crampas) nicht, deutet der Text der Skizze auf eine tiefergehende Gemeinsamkeit der Figuren Johnsons (Hinterhand) und Fontanes (Innstetten). Denn von Wüllersdorf ist in Effi Briest Gert von Innstettens Sekundant im Duell mit Major von Crampas. Er ist sozusagen sein Eidshelfer, der die tödliche Handlung beglaubigt.

Unter diesem Betrachtungswinkel erscheinen die Eidshelfer Hinterhands (von Platon bis Bloch) als dessen Sekundanten. Sie beglaubigen den Mord an seiner Frau, ja sie geben ihm Recht – doch nur in seiner ideellen Vorstellungswelt. Und genau dadurch entlarvt die Skizze ihren Protagonisten erneut. Seine selektive Zitat-Collage ist vergleichbar mit Innstettens veraltetem Ehrenkodex, der ihn zum Duell drängt.

– – –

In der Revue bietet Uwe Johnsons Skizze eines Verunglückten die mögliche Lesart eines verunglückten Protagonisten an. Dabei flechtet er Intertexte aus der Weltliteratur in die artifizielle Textstruktur der Skizze ein. Fontane nimmt dabei eine herausgehobene Stellung ein, da Johnson aus dessen Oeuvre zwei Werke zitiert (sonst nur noch bei Max Frisch). Überdies entlarvt sich an einem dieser Zitate reflexiv der Protagonist und somit auch die eine mögliche Lesart des Lebens, die der Johnsonsche Text dem:der Leser:in offeriert.

 

Literatur

  • Bond, D. G.: Reading Uwe Johnson’s Skizze eines Verunglückten: A writerly text. In: The Individual, Identity and Innovation. Signals from Contemporary Literature and the New Germany. Hg. von Arthur Williams u. Stuart Parkes. Bern u. a. 1994, S. 17-38.
  • Bormuth, Matthias: Intime Kommunikation und moderner Wertezerfall. Uwe Johnsons Skizze eines Verunglückten. In: Johnson-Jahrbuch 11 (2004), S. 45-64.
  • Bürgerhausen, Corinna: Variante eines verfehlten Lebens. Uwe Johnsons Skizze eines Verunglückten. Frankfurt a. M. u. a. 1999.
  • Fickert, Kurt: Zwei gemeinsame Ansichten: Zu Max Frischs Montauk und Uwe Johnsons „Skizze eines Verunglückten“. In: Johnson. Ansichten – Einsichten – Aussichten. Hg. von Manfred Jurgensen. Bern, Stuttgart 1989, S. 41-52.
  • Golisch, Stefanie: Die notwendige Niederlage. Zu Uwe Johnsons „Skizze eines Verunglückten“. In: Internationales Uwe-Johnson-Forum. Beiträge zum Werkverständnis und Materialien zur Rezeptionsgeschichte 3 (1993), S. 11-24.
  • Johnson, Uwe: Skizze eines Verunglückten. Frankfurt a. M. 1982.
  • Neumann, Bernd: Über Uwe Johnsons „Skizze eines Verunglückten“ und einige Beispiele einer biographischen Hermeneutik. In: Internationales Uwe-Johnson-Forum. Beiträge zum Werkverständnis und Materialien zur Rezeptionsgeschichte 2 (1992), S. 13-39.
  • Oschmann, Dirk: Die „Berichtigungen“ des Dr. Hinterhand. Über die poetologische Dimension von Uwe Johnsons Skizze eines Verunglückten. In: Johnson-Jahrbuch 9 (2002), S. 317-345.
  • Ribbat, Ernst: „Skizze eines Verunglückten“ als poetologischer Text. In: Uwe Johnson zwischen Vormoderne und Postmoderne. Internationales Uwe Johnson Symposium 22.-24.9.1994. Hg. von Carsten Gansel u. Nicolai Riedel. Berlin, New York 1995, S. 253-266.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert