Wie die Zeitschrift „Die Diagonale“ Fontanes 150. Geburtstag feierte …

Wie die Öffentlichkeit Jubiläen von Dichterinnen und Dichtern zelebriert, findet seit langem Forschungsinteresse. Man hat herausgefunden, in welchem erstaunlichen Maße sich der Geist der Zeit in jenen Formen des Feierns einnistet. In der Rückschau sind diese Formen beredt – selbst dann noch, wenn sich die Gedenkpraxis in Phrasen erschöpft und von dem zu Feiernden nichts bleibt als eine Strohpuppe im Scheinwerferlicht oder Fackelschein. Man mag darüber den Kopf schütteln, man mag über die Unbedenklichkeit, mit der sich Unbedarfte medial äußern, irritiert sein, und man mag verführt sein, Rechenschaft zu fordern und Rechnungen aufzumachen: Alles Unsinn. Die Sache ist zu aufschlussreich, und die Analyse ergiebiger als jede wohlfeile Gralshüterpose.

Neugier überwog, als mir – noch im Jubiläumsjahr 2019 – eine Zeitschrift in die Hand fiel, in der ich ganz Anderes gesucht hatte und unversehens „Fontane-fündig“ wurde. Das Periodikum trägt den Namen Die Diagonale, wurde 1966 in Westberlin gegründet und charakterisiert sich im Untertitel als „Halbsjahrsschrift für Literatur und Kritik“. Als Gründer nennt das Impressum drei Namen: Marianne Cantwell, Joachim Seyppel und Michael Krüger. Krüger, noch vor seiner Lektoren- und Autoren-Karriere im Hanser-Verlag und „Chef des Inhalts“, „war unermüdlich und erfolgreich im Besorgen von Manuskripten“, erinnert sich Seyppel 1994 in Trottoir & Asphalt. Erinnerungen an Literatur in Berlin 1945 – 1990 (Berlin: Stapp, S. 85). Hier erwähnt er auch die Fontane-Ausgabe, eine Ausnahme im ansonsten auf literarische Neuerungen ausgerichteten Redaktionsbestreben. Nicht ohne Stolz sein Resümee: „Jedenfalls druckte Die Diagonale in ihrer Eintagsfliegenexistenz mehr unbekannte, heute bekannte gute Leute als etwa die NDH [Neuen deutschen Hefte] in West- oder die NDL [Neue deutsche Literatur] in Ost-Berlin.“ (S. 86).

Die Idee, ein Fontane-Heft zu veranstalten, ging gewiss auf Seyppel zurück. Er war 100 Jahre nach dem Wanderungen-Autor geboren, den er schätzte und für aktualisierbar hielt. 1967 hatte er selbst, zusammen mit Franz Fühmann und im Auftrag des Ostberliner Aufbau-Verlags, mit literarischen Wanderungen durch die Mark Brandenburg begonnen. Als Fühmann aus politischem und persönlichem Verdruss ausgestiegen war, veröffentlichte Seyppel auf eigene Faust den Ertrag dieser märkischen Streifzüge unter dem Titel Ein Yankee in der Mark. Wanderungen nach Fontane (Berlin, Weimar: Aufbau 1969). Bald wechselte er von Berlin-Steglitz nach Berlin-Prenzlauer Berg, vor allem wohl der Liebe wegen, und ging, ein Jahrzehnt später, wieder zurück in den Westen, dann aber nach Hamburg. „Manchem mag dieses Hin und Her zwischen Ost und West als Opportunismus erscheinen, […]. Bei mir überwiegt der Eindruck, ich sei ein so untypisches Exemplar eines Deutschen nicht und wirke nur deswegen leicht außenseiterisch, weil ich gewisse Ideen (mit denen andere nur spielen) in die Tat umsetze. […]“ (Joachim Seyppel: Ich bin ein kaputter Typ. Bericht über Autoren in der DDR. Wiesbaden, München: Limes 1982, S. 24).

Ende der sechziger Jahre war sein Blick entschieden ostwärts gerichtet, in jeder Hinsicht. Auch politisch. Am 1. November 1968 unterbreitete Seyppel seinem Ostberliner Kollegen Günter Kunert einen Vorschlag, der die politische Dimension seines Fontane-Bildes anschaulich vor Augen führt:

[…] Du weißt, Fontane ist seit längerer Zeit mein Objekt. Im Sommer waren wir mehrere Wochen in Rheinsberg und am Stechlin-See, lasen den ‚Stechlin‘ noch einmal, den ‚Stechlin‘ mit der Fontane-Maske (jetzt meine ich den Alten selber) und den prophetischen sozialistischen Pastor Lorenzen in welcher Maske? Das blieb so haften, […]. Und am 30. Dez. 69, bald nach Euerm 20., ist Fontanes 150.: Daten, die plötzlich zusammenfallen, dies schon wichtiger. Fontane, den alten Fontane, der noch einmal wie 48 Rebell wurde, Adel, Bürgertum, Christentum, Militarismus verfluchte und im 4. Stand allein die Zukunft sah, dies immer wieder explizite in Briefen sagte, der die Mark Brandenburg gewissermaßen schon sozialistisch sah, den alten jungen Fontane mit einem Stechlin-Film DER STECHLIN auf moderne jugendliche Weise zum 150./20. ‚retten‘, was er aber gar nicht nötig hätte, wenn nicht so viele alte Damen ihn noch immer für sich beanspruchten: ihn für die Jugend retten, heranholen […]

Kunert, bei weitem nicht vergleichbar DDR-affin, schlug die Hände über dem Kopf zusammen und das Ansinnen schlankweg aus. Die DDR und Fontane an einem Geburtstagstisch, beide passgerecht füreinander und die Jugend gekleidet, bewirtet vom Westberliner Seyppel und dem Ostberliner Kunert: diesem Einfall war Witz nicht abzusprechen – unfreiwilliger.

Schlägt man das Fontane-Heft auf, um eine Vorstellung über deren (auch politischen) Kurs zu gewinnen, genügt der Blick auf den ersten Beitrag. Er ist ungezeichnet und widmet sich der „Gründung einer Schriftstellervereinigung in der Bundesrepublik“. Auf der Gründungsversammlung, wird referiert, habe Heinrich Böll die Formel vom „Ende der Bescheidenheit“ ausgegeben. Der Berichterstatter – vermutlich Seyppel – griff sie sogleich auf, um ihr zu Leibe zu rücken. Es ginge um Bescheidenheit, vielmehr komme darauf an, „daß auch der westdeutsche Schriftsteller seinen politischen Platz in der Gesellschaft erkennt und entsprechend handelt.“ Die Mehrheit der Autoren nämlich schwimme „im großen Strom des restaurativen Wirtschaftswunder“, nur wenige progressive leisteten Widerstand. Dass diese kleine Schar sich das Ziel gesetzt habe, „diesen Gesamtverband ‚zu unterwandern'“, lautet das Fazit, sei das Erfreulichste (Die Diagonale 9/1969, S. 4 u. 5).

Nach einer solchen beherzten Positionierung durfte man gespannt sein, wie sich diese Zeitschrift dem auf dem Titelblatt in großen Lettern angezeigten Jubiläum annimmt. Und wir mit den Zeitgenossen. Unter der Überschrift FONTANE ODER WIE GEHT ES WEITER sorgt schon die redaktionelle Notiz für Verblüffung: „Kurz vor Fontanes 140. Geburtstag […] legte die Nymphenburger Verlagshandlung einer kleinen Zahl deutscher, österreichischer und schweizer Autoren zwei Fragen vor: 1. ‚Was hat Fontane für Sie selbst bedeutet?‘ und 2. ‚Was bedeutet Ihrer Meinung nach Fontane für die deutsche Gegenwart?'“ Zwischen die Antworten blendete die Redaktion Zitate von Fontane. Welche Reaktionen die nun versammelten Autorennamen 1969 auslösten, ist nicht überliefert, leider. Hier nur einige, aber doch charakteristische mit angedeuteten Aussagen: Werner Bergengruen („nicht zu meinen Lehrmeistern […], wohl aber zu meinen Beglückern“, „Kontinuität deutscher Geistesäußerung“, S. 11), Georg Britting („Ich bin ein alter ‚Fontanist'“, „ein Glanz, ein Segen, der auf Taubenfüßen zu uns kommt“, S. 11 u. 12), Erich Kästner („Er schuf Berlin zum zweiten Male“, S. 13), Wilhelm Lehmann („Wer möchte Theodor Fontane entbehren?“ „Vernunft ist hier nichts Dürres, sie ist […] Natur geworden, sie blüht“, S. 15) und Werner Weber („Es gibt eine einzige große deutsche Prosa, die daherkommt, als hätte es Weimar, die literarische Jahrhundertresidenz, nicht gegeben. Die Prosa Theodor Fontanes“, S. 17).

Das wird man, wie jetzt wir, mit einigem, vornehmlich historischen Interesse gelesen haben, um dann gleich zu fragen: Was soll uns das 1969? Kaum gefragt, bot die Zeitschrift eine Antwort an – in dem sie das 1959er Modell fortsetzte. Doch in höchst zweifelhafter Gestalt. Seyppel hatte versucht, eine Fontane-Anthologie dieser Art zusammenzubringen und war gescheitert. Ein Westberliner Verlag hatte Bereitschaft signalisiert im Falle, „daß es Ihnen gelingt, renommierte Autoren für die Mitarbeit zu gewinnen.“ (S. 19) Die Namen, die Seyppel versammelte, waren mit Heinrich Böll, Günter Grass, Uwe Johnson, Christoph Meckel, Erwin Strittmatter, Martin Walser und Christa Wolf reizvoll, aber ohne Reiz die meisten Antworten: „Natürlich schrieb ich gerne über Fontane, aber ich weiß nicht, ob ich es schaffe“ (Böll, S. 19), „[…] möchte ich Sie heute schon auf eine mögliche Absage vorbereiten“ (Sekretariat Grass, S. 20), „Für eine solche Arbeit mangelt es mir an Zeit“ (Johnson, S. 20), „kann aber aus meinem eigenen Krimskrams nicht raus“ (Ch. Meckel, S. 21), „[…], so verweise ich auf die im SCHULZENDORFER KRAMKALENDER erschienene Skizze, die merkwürdigerweise SCHWEINEBALDRIAN heißt und etwas mit Fontane zu tun hat“ (Strittmatter, S. 23) oder „dies ist einer der Fälle, wo man mehr Lust als Substanz fühlt, […]“ (Wolf, S. 25). Dass nach all dem der Verlag den Herausgeber bat, „ihn von der […] gegebenen Zusage […] zu entbinden“, wer wollte es ihm verargen?

Wenn das, was die versammelte Autor:innenschaft aus dem 20. Jahrhundert zu Fontane zu sagen hatte, Schonkost blieb, bleibt die Frage: Entschädigt dafür die kräftige Fontane-Zitatkost? Wieder müssen Versatzstücke fürs Ganze herhalten: „der große Menschheitserfrischungsprozeß wird seinen Anfang nehmen“ (S. 11), „Wir sind in einem Goethe-Bann und müssen draus heraus“ (S. 13), „so bleibt der Berliner ein egoistischer, enger Kleinbürger“ (S. 13), „Ein so glückliches und bevorzugtes Leben und doch: ‚Was soll der Unsinn?'“ (S. 16), „Über unsern Adel muß hinweggegangen werden; man kann ihn besuchen wie das Ägyptische Museum“ (S. 24) und, passgerecht: „Zu der Empfindung eines ernsthaft ‚Gefeierten‘ bin ich eigentlich keinen Augenblick gekommen, jedes Hochgefühl blieb mir fremd, […] Es war ein Stück, in dem ich in einer bestimmten Rolle mitspielte, zugleich aber saß ich auch wieder im Parquet und alles zog wandelbildartig an mir vorüber.“ (S. 17). Eine Collage, mehr nicht, Wirkung garantiert.

Ganz am Ende dieses lose Geflochtenen endlich die ohne Fragezeichen gedruckte Frage: Wie geht es weiter, gestellt an Fontane, Meckel und Rainer Scholz (von dem im Heft einige Gedichte mitgeteilt werden). Ja wie? Wie man heute schreibe oder morgen, ja das seien Fragen, mit denen sich das Blatt immer wieder auseinandersetzte. Und es folgen Thesen, die nicht anders als schlicht zu nennen sind: zum Nutzen von Experimenten – dass man die Mache nicht sehen dürfe – totale Ironie, die sich selbst ironisiere …

Lässt sich aus dem, was die Redaktion und was Seyppel für den von ihnen verehrten Schriftsteller zusammen getragen haben, ein Geist der Zeit ablesen? War der politische Funke, der eingangs geschlagen wurde, kräftig genug, ein Feuerchen zu entfachen? Trat uns der Demokrat Fontane entgegen, den die DDR-Kulturpolitik sich durchsetzungskräftig zu erfinden begann? Wurde dem konservativen Preußen Fontane der Garaus gemacht? Ach und so fort: und immer wieder mit „Nein, das wohl nicht“ zu beantworten.

Nein, diesem Jubiläumsheft anlässlich des 150. Geburtstags Theodor Fontanes mangelt es an allem: bis zum -h- auf dem Deckblatt in Christa Wolfs Namen. Michael Krüger hat Recht behalten, als er 1998 in einem Interview anmerkte: Diese Zeitschrift „blieb Gott sei Dank unbekannt“, sie werde bloß „irgendwann einmal als Fußnote […] in einem Handbuch über deutschsprachige Kulturzeitschriften“ verkommen. Aber ganz so unversöhnlich brachial soll diese kleine Rückschau nun doch nicht ausklingen. Ehe die damalige Leserschaft das Heft zuklappte, bekam sie noch zwei Fontane-Empfehlungen mit auf den Weg – und das war mehr als nur eine Geste.

 

One comment

  1. Klaus-Peter Möller says:

    Lieber Herr Berbig,
    mit Interesse habe ich diesen wunderbaren Artikel gelesen. Es lohnt sich vielleicht darauf hinzuweisen, dass sich über die Hintergründe und Resultate der Umfrage von 1959, mit der Berthold Spangenberg recht erfolgreich und originell für die Nymphenburger Ausgabe warb, genaue Informationen finden lassen. Die Zuschriften, die der Verleger auf seine Umfrage erhielt, sind durch eine großzügige Schenkung von Christa Spangenberg seit 2000 im Theodor-Fontane-Archiv. Gotthard Erler hat die Sammlung in den Fontane Blättern 70, 2000, S. 155-158 vorgestellt (https://www.fontanearchiv.de/bibliographie/35006780/), im Heft 71 (S. 165-166) ist ein summarisches Verzeichnis abgedruckt. Auch die Werbe-Broschüren, in denen Spangenberg die Resultate der Umfrage publiziert hat (https://www.fontanearchiv.de/bibliographie/35002973/) werden im Fontane Archiv verwahrt. In einer Annotation verwies der Bibliograph Wolfgang Rasch umsichtig auch auf den auszugsweisen Nachdruck in der „Diagonale“ von 1969. Berthold Spangenberg und Kurt Schreinert ließen die Nymphenburger Ausgabe zu einer Legende werden, die bis heute wenig von ihrer Faszination verloren hat, auch wenn die Bände teilweise historisch überholt sind.
    Herzlich grüßend
    Ihr Klaus-Peter Möller (Archivar im Theodor-Fontane-Archiv, der die Sammlung Spangenberg seinerzeit bearbeitet und verzeichnet hat).

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