Eugen Engels Oper „Grete Minde“

Es war ein Wagnis. Es ist ein Verdienst. Am 13. Februar 2022 hat das Theater Magdeburg Eugen Engels Oper „Grete Minde“ erstmals aufgeführt – 90 Jahre nach ihrer Entstehung, 80 Jahre nach dem Tod des Komponisten.

Engel, am 19. September 1875 in Widminnen (Ostpreußen) geboren, war Kaufmann wie sein Vater. Er lebte in Berlin. Sein Herz schlug für die Musik. Auf der Flucht vor der braunen Pest wurde er im März 1943 in Westerbork interniert und nach Sobibór deportiert, in eines dieser schrecklichen Vernichtungslager, in denen Menschen massenhaft ermordet wurden. Die Dimension dieses beispiellosen Verbrechens versuchte der im Januar dieses Jahres ausgestrahlte Film „Die Wannseekonferenz“ zu verdeutlichen. Engels Familie gehört zu den Opfern. Seine Geschwister wurden in Theresienstadt und Treblinka ermordet, er selbst vermutlich in einer Gaskammer in Sobibór. Seiner Tochter gelang 1941 die Flucht in die Vereinigten Staaten. Die Papiere ihres Vaters nahm sie mit:

Korrespondenz, Kompositionen, darunter die Partitur der in den 1930er Jahren entstandenen Oper „Grete Minde“. Durch die Aufführung wurde der Traum der Familie verwirklicht, dieses Werk aufgeführt zu sehen.
Es ist die erste Oper nach Fontanes Novelle Grete Minde, auch wenn sie später uraufgeführt wurde als die beiden anderen musikalisch-dramatischen Bearbeitungen dieses Stoffes, die 2009 von Søren Niels Eichberg zur 1000-Jahr-Feier von Tangermünde komponierte Oper (Libretto Constanze John) und das Musikalisch-Szenische Spektakel von Siegfried Matthus (Libretto Frank Matthus), das erstmals 2010 im Rahmen der Fontane-Festspiele in Neuruppin gezeigt wurde.

Fontane hat die Geschichte von Grete Minde 1879 als poetische Parabel nach dem Vorbild von Kleists Kohlhaas-Novelle erzählt – und wich dabei in wesentlichen Punkten von der geschichtlichen Überlieferung ab. Die historische Margaretha Minden wurde 1619 in Tangermünde nach einem Prozess aufgrund von Aussagen, die durch Folter erpresst wurden, als „Mordbrennerin“ verurteilt und auf grausame Weise hingerichtet. Fontanes Figur Grete Minde wird zu einer Amokläuferin, die sich an ihrem Halbbruder und ihrer Vaterstadt rächt, indem sie die Stadt in Brand setzt und sich zum Entsetzen der Bürger mit ihrem Kind und dem Kind ihres Halbbruders Gerdt auf dem bereits brennenden Turm von St. Stephan zeigt und mit dem zusammenbrechenden Kirchturm in das Flammenmeer stürzt. Lieblosigkeit, Xenophobie und Unrecht trieben sie zu dieser schrecklichen Tat – aber auch Stolz und Rechthaberei. In der Oper wird Gretes Brandstiftung als Verzweiflungstat erklärt: „Du frierst, armes Wurm, die Nacht ist kalt …“

In Tangermünde ist die Erinnerung an die historischen Begebenheiten aus dem 17. Jahrhundert bis heute auf besondere Weise präsent. An der Stelle, wo 1619 das Todesurteil für Minden verkündet wurde, erinnert eine einfühlsame Bronzeplastik an die Geschehnisse. Zur 1000-Jahr-Feier ließ die Stadt eine Oper nach Fontanes Erzählung komponieren und aufführen. Ob Minden den verheerenden Stadtbrand von 1617 wirklich gelegt hat, ist umstritten. Das Verfahren gegen sie und ihre Mitangeklagten lässt sich anhand der umfangreichen Prozessakten bis in kleinste Details nachvollziehen. Wenig weiß man dagegen darüber, wie Minden ihre Erbansprüche gegen ihren Bruder durchzusetzen versuchte. Offenbar hat sie ihr Recht nicht durchsetzen können. Die Auseinandersetzung ihrer Vaterstadt mit ihrem Schicksal ist bis heute nicht abgeschlossen. Tangermünde gehört zu den bewegenden historischen Frauenorten des Landes Sachsen-Anhalt.

Nun also liegt in Engels Oper eine weitere Bearbeitung dieses Stoffes vor, ein bisher noch nie aufgeführtes großes musikdramatisches Bühnenwerk, eine kostbare Hinterlassenschaft, ein gerettetes Familienerbe, eine Entdeckung, an der viele mitgewirkt haben. Sich mit diesem Werk auseinanderzusetzen, ist keine leichte Aufgabe, das Stück unvoreingenommen zu beurteilen, so gut wie ausgeschlossen. Die Aufführung ist keine Wiedergutmachung. Das Werk verdient Respekt als Leistung, nicht aus Mitleid.

Das Theater Magdeburg hat sich gründlich auf diesen besonderen Abend vorbereitet. Schon im Vorfeld wurde kommuniziert, dass hier ein Ereignis vorbereitet wird. Fontanes Novelle, die Grundlage für das Libretto war, wurde zur Vorbereitung der Uraufführung in einer szenischen Lesung rekapituliert. Ein wissenschaftliches Symposium diente der Klärung der Geschichte und der Voraussetzungen dieser Opern-Aufführung. TheaterwissenschaftlerInnen referierten über die Oper als Medium, den Komponisten und seinen Librettisten. Friederike Wein, die jüngst die Akten des Tangermünder Verfahrens gegen Margaretha Minden und ihre Mitangeklagten vollständig ediert hat, ließ die Distanz der Darstellung Fontanes zum historischen Verlauf deutlich werden. Die Dirigentin und Ensemblemitglieder gaben eine Einführung in die Komposition.

Vom Anspruch her ist Engels Werk eine große nationale Oper, die der Komponist bewusst in die Tradition von Weber, Wagner und Richard Strauß gestellt hat – neben den „Freischütz“ und die „Meistersinger von Nürnberg“. Mit seiner stets auf den Text bezogenen Komposition versuchte er, den emotionalen Gehalt der einzelnen Szenen musikalisch zu modulieren und auszudeuten. Die eingesetzten Mittel stehen im Dienst des Gefühlsausdrucks. Besonders im 2. und 3. Akt gelangen ihm eindrucksvolle, leidenschaftliche Höhepunkte, auch durch die geschickte Arbeit mit Anklängen und Zitaten, darunter Gretes Wiegenlied (Goechhausen/Spohr), das Arioso „Maria zart“ (Anoldt Schlick), der Choral „Mitten wir im Leben sind“ (Mendelssohn / EKG 518). Das in den 2. Akt implementierte populäre Muskatellerlied findet sich als Textbestandteil auch in Fontanes Novelle.

Das Libretto ist eng an Fontanes Novelle angelehnt, teilweise wörtlich daraus zitiert, allerdings wurde die Handlung komprimiert und in einigen Punkten auch etwas modifiziert. Der erste Akt zeigt Gretes Flucht aus der lieblosen Welt ihrer Vaterstadt. Ihre Wurzellosigkeit als Waise wird angedeutet, ihr Konflikt mit Trud, der Frau ihres Halbbruders Gerdt. Trud beneidet Grete um ihre Liebe zu Valtin. Sie ist hart und ungerecht zu ihr. Die Puppenspieler kommen, kündigen ein Spektakel an und führen es auf.
Mit einer Wirtshausszene in Arendsee setzt der zweite Akt ein. Drei Jahre sind vergangen, Grete und Valtin haben sich den Gauklern und Puppenspielern angeschlossen und ein Kind bekommen. Valtin ist krank und stirbt. Die Nonnen des Klosters von Arendsee kommen in das Wirtshaus, um sich das geistliche Spiel der Schauspieltruppe anzusehen. Die Oberin des Klosters segnet Valtin und sorgt dafür, dass er begraben wird, weil der Prediger Roggenstroh (so der Name bei Fontane) ihm ein christliches Begräbnis verweigert. In seinem letzten Augenblick nimmt Valtin Grete das Versprechen ab, in die Vaterstadt zurückzukehren, sich zu demütigen und für das Kind zu leben, notfalls ihr Erbe einzufordern. Aber die Domina sieht schon das Zeichen des Todes auf ihrer Stirn. Keine drei Tage werde sie mehr leben.

Der dritte Akt zeigt die Rückkehr Gretes in die Vaterstadt, die Konfrontation mit Trud und Gerdt, ihre Forderung nach Recht und Liebe, die nicht erfüllt wird, schließlich den Brand und ihr Sterben als loderndes Fanal, während der Chor tatenlos dasteht, die Hände zum Himmel streckt und um Hilfe fleht. Ist das nun ein Kommentar Engels zum Zeitgeschehen, dessen Dramatik und Dimension er zum Zeitpunkt des Entstehens seiner Oper kaum überblicken konnte, eine Projektion der Inszenierung des 21. Jahrhunderts oder eine eigene Lesart? Vor solche Fragen sieht man sich durch die Aufführung gestellt. Textzeilen fallen auf, die durch den Holocaust einen anderen Sinn bekommen haben. Kisten und Koffer sind Teil des gelungenen Bühnenbilds der Magdeburger Inszenierung. Sie sind nicht nur ein Sinnbild der Unbehaustheit, der Heimatlosigkeit, sie wurden auch zum Symbol der perfiden Vernichtungsstrategie des NS-Staates. Aber sie symbolisieren auch Hoffnung und die Möglichkeit einer Rettung. Nicht zuletzt erinnern sie an das Schicksal von Engels Hinterlassenschaft.

Am Erfolg der gelungenen Inszenierung des Magdeburger Theaters haben viele Beteiligte mitgewirkt, Solisten, Chor, Orchester, Dirigentin, Dramaturgin, Regisseurin, Bühnenbildnerin und andere. Die Namen stehen in dem lesenswerten Programmheft. Für die überzeugende Ensembleleistung verdient das Theater ein großes Kompliment. Mit stürmischem Applaus feierte das Premierenpublikum die Uraufführung. Der dramatischen Wucht dieses Werkes konnte sich keiner der Zuhörer entziehen, auch wenn die gesungenen Texte kaum zu verstehen waren. Die Inszenierung behalf sich mit einer Einblendung. Textbücher gibt es noch gar nicht. Für einen Klavierauszug soll der Komponist selbst gesorgt haben. Aber wo findet man den?

Das RISM hat den Namen des Komponisten bisher noch nicht verzeichnet. Zur Popularisierung seines Werkes ist noch viel zu tun. Die Fragen, die es aufwirft, sind noch nicht einmal gestellt. Die Auseinandersetzung mit den inhaltlichen Problemen hat noch nicht begonnen. In den Berichten vom Premierenabend wurde die Oper mehrfach als spätromantisch apostrophiert. Dabei bemühte sich der Komponist offenbar, aus der Tradition der Musikgeschichte eine eigene moderne Musiksprache zu entwickeln. Wie weit ihm das gelungen ist, wird die weitere Aufführungsgeschichte zeigen und die musikwissenschaftliche Forschung, die mit dieser Inszenierung erst angefangen haben.

 

Theater Magdeburg
Opernhaus / Bühne
Universitätsplatz 9
D – 39104 Magdeburg
Tel.: +49 (0)391 40 490 1111

„Grete Minde“ – Oper von Eugen Engel
13. Februar 2022 – 18:00 Uhr
20. Februar 2022 – 16:00 Uhr
  5. März 2022 – 19:00 Uhr
26. März 2022 – 19:30 Uhr

Deutschlandfunk Kultur: Ausstrahlung einer Aufzeichnung der Magdeburger Aufführung (LINK)
19. Februar 2022 – 19:05 Uhr

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