Abgelegenes zu Fontanes Freund Bernhard von Lepel

In elenden Zeiten, an denen man ersticken könnte und einen noch die eigene Hilflosigkeit jammert, da rettet manchmal eine Atempause im Abgelegenen. Und Abgelegeneres als das Nachstehende ist nicht leicht zu denken: Es geht nahezu gar nicht um Fontane, es geht kaum mehr um dessen Freund Bernhard von Lepel und auch nur eine Nuance drauf um dessen adlige Familie. Recht eigentlich aber geht es nur um einen reizvollen Ort in Mecklenburg-Vorpommern. Dieser Ort liegt auf der Halbinsel Gnitz, und wem dieser Flecken nichts sagt, dem hilft vielleicht der lokale Fingerzeit auf die Insel Usedom. Vom östlichen Rand aus dieser Insel in der Pommerschen Buch blickt man hinüber nach Swinemüne/Świnoujście, wo Theodor Fontane seine Kindheit verlebt hat.

Doch man muss die entgegengesetzte Richtung einschlagen, um zu jener erwähnten Halbinsel Gnitz zu gelangen. Wer das mit dem Rad unternimmt, wird seine Freude an der Bucht des Peenestroms Krumminer Wiek im Westen haben – und mehr noch am östlichen Achterwasser, in dem sich das Himmelslicht glitzernd spiegelt. Er wird hinaufschauen und in die Frühlingssonne blinzeln und nicht viel mehr erwarten als verschlafene mecklenburgische Dörfer mit Hundegebell und Entengeschnatter. Dass ihm die Ortsnamen Lütow, Neuendorf und Netzelkow etwas sagen, sehr unwahrscheinlich! Beim Mustern der Landschaften rechts und links wird sich seine angespannte Seele lösen, aber er wird auch dankbar seiner Geistesgegenwart gedenken, die ihn vor Aufbruch Brote hat schmieren lassen und die Thermoskanne mit Kaffee füllen.

Ist er – oder, natürlich, sie – allerdings von Fontane-Blog’schem Schlage, dann wird er im Rucksack eine übermäßig dickleibige Ausgabe des Briefwechsels zwischen Theodor Fontane und Bernhard von Lepel haben. Die hat Gabriele Radecke auf 1430 Seiten gebracht (Berlin, New York: Walter de Gruyter 2006), Julius Petersen, der die erste Edition herausgab, kam noch mit 935 Seiten aus (München: Beck 1940). Und der Ausflug in diese Ecke wird sogleich in ganz anderem Lichte stehen, wenn er bei einer kurzen Rast Lepels langes Schreiben an Freund Fontane vom 22./26. Juni 1855 aufschlägt. Nachdem es zuvor um so Langweiliges wie einen Dramenentwurf „Herodes“ von Lepel, ein Konterfei Fontanes und die Frage, ob Gott oder die Sonne „Centralpunkt“ (S. 412) in der Theorie der Lebens- und Ideenkreise sei, stößt der Stöbernde auf jene handfesten, realitätsnahen Zeilen:

Am Donnerstag werde ich zu einem Vetter nach Neuendorf b. Wolgast fahren, um dort (b. Zinnowitz) einige Seebäder zu nehmen. Ich denke 8-14 Tage dort zu bleiben. Schreibst Du mir, so setze meinen Vornamen bei, weil sonst Verwechslungen vorkommen können. […] (S. 412).

Da ist der Bloggist elektrisiert, er spürt: Irgendwie bin ich hier also auf Fast-Fontane’schem Boden, eingefärbt ins Lepel’sche. Gleich sieht er nach, wer denn jener Vetter Lepels sei und erfährt, was er in der Petersen-Ausgabe auch mitgeteilt bekommen hätte: Jener Cousin war Georg von Lepel, der nichts Geringeres als Besitzer eines Gutes Neuendorf-Netzelkow gewesen war. 1815 hatte er das Licht der Welt erblickt und 1874 für immer die Augen geschlossen. Damit stand das Reiseziel fest: Neuendorf und Netzelkow!

Umgehend ist aus dem Radtouristen ein Regionalliteraturwissenschaftler geworden. Den hält ein totes Wildschwein nicht auf, der lässt sich von einem Café Seelchen nicht verführen, und dem sind die Angebote eines Hofladens gleichgültig. Die Reifen seines Rades nehmen Kopfsteinpflaster in Kauf, Panzerplatten aus sowjetischer Besatzungszeit ignoriert er – es gilt Höheres. Dieses Höhere harrt tatsächlich seiner. Am besten, überlegt er, ich beginne mit „Netzelkow“. Schon aus der Ferne sieht er einen Kirchturm, näher gerollt, sogleich das Ortsschild und, angekommen, eine Kirche mit ausgelagertem Glockenstuhl. Ach, seufzt er, hätte ich die Feder eines Fontane oder den Stift eines Leistikow, dann wollte ich festhalten, was sich hier meinem Auge bietet! Kind des 21. Jahrhunderts, weiß er sich notdürftig zu behelfen. Er zückt sein mobiles Telefon und knipst herum, er zückt sein mobiles Notizheft und kritzelt hinein.

Endlich ist der erste Eindruck, auf den es doch ankommt, gebannt, da steht er auch schon unter dem nächsten. Was ist eine Kirche von außen, kennt man ihr Inneres nicht! Doch das große Tor ist verschlossen und kein touristenfreundliches Versteck für den Schlüssel sichtbar. Doch da ruft es vom Zaun des Nebengrundstücks (das er links liegen lassen muss, obwohl es kunstvolle Filzkleider und Kaffee mit Kuchen verheißt) her: „Suchen Sie den?“ Eine Hand winkt mit dem Schlüssel, und der wandert von dieser in seine Hand. Kaum ist das Schloss geöffnet und das Kirchtor offen, und kaum ist er eingetreten in die Stille des dunklen Raumes, da sieht er große Plakate an den Wänden. Plakate? Nein, es sind lange transparentartige Tücher, auf die Texte und Abbildungen gedruckt sind. Heidiwitzka, ruft unser Radreisende, denn schon nach den ersten Zeilen weiß er sich als Adressat. Die über Ort und Umgebung Bescheid wissen, geben ihm Bescheid – und das auch über die lange Geschichte der adligen Familie von Lepel! Er erfährt nicht nur, dass jenes Rittergut Neuendorf, an dem er, unwissend, schon vorbeigerast ist, über 700 Jahre (1240-1945) im Lepel’schen Familienbesitz gewesen war. Mit zwei Brüdern soll es begonnen haben, mit deren gepflanzten Eichen, so will es die Legende, geendet.

Netzelkow war der Hauptort. Von dort aus wurden auch Lütow und die vorgelagerte Insel Görmitz bewirtschaftet. In der Netzelkower Patronatskirche St. Marien steht ein sehenswerter Taufstein mit einer zwölfeckig behauenen Schale auf rundem Fuß aus der frühen Lepel-Zeit. Er ist einer der ältesten, vollständig erhaltenen auf Usedom. Der selben Zeit sind auch die beiden Glocken vom Glockenstuhl auf dem Kirchhof zuzuordnen. Eine der beiden zeigt das Lepelsche Wappen in der ältesten uns bekanntesten Form mit fünf Löffeln (Lepel = plattdeutsch Löffel) als Helmzier. Erst später trägt das Wappen neun Löffel. Die Kirche selbst ist erst im 14. Jahrhundert anstelle eines Vorgängerbaus errichtet worden.
Im 14. Jahrhundert zeigte sich recht bald, dass Netzelkow für die Lepels als Rittersitz zu klein wurde. Schon 1367 ist die Rede von einem “neuen Dorf“ auf dem Gnitz, dem späteren Neuendorf. Die dortigen Lepel-Besitzer waren dann allerdings vierhundert Jahre lang nicht die gleichen wie die von Netzelkow. Erst im 18. Jahrhundert kamen die Gnitzer Güter in die Hand eines einzigen Angehörigen der Familie. Von dieser Zeit an gehörten alle Lepelschen Acker- und Weideflächen wirtschaftlich zu Neuendorf. So blieb es bis 1945. Trotzdem waren, rechtlich gesehen, Neuendorf und Netzelkow noch im 19. Jahrhundert eigenständige Güter. In den Güteradressbüchern wurden sie getrennt ausgewiesen, wobei für Netzelkow die Wirtschaftsfläche mit 551 ha, die für Neuendorf mit 819 ha angegeben wurde.

Das liest er und blickt zur Eichenholztafel rechts neben der weit geöffneten Kirchtür. Da stehen sämtliche Besitzernamen bis zum Ausklang des 19. Jahrhunderts. Auf den flatternden Stoffen an den Wänden geht’s noch weiter in der Historie – und, zu seiner Beruhigung, hier unterschlägt man auch nicht den Namen Bernhard von Lepels. Dass dieser Umstand mit seinem berühmten ebenso unadligen wie untadligen Schriftsteller Theodor Fontane zu tun hat, darf als ausgemacht gelten. Unser Literaturtourist kommt aus der Fotografiererei nicht heraus – reißt sich aber schließlich los. Das Gut Neuendorf wartet noch, von ihm gesehen zu werden. Die St. Marien-Kirche ihrem Idyll überlassend, tritt er in die Pedale. Wie immer ist der Rück- kürzer als Hinweg – und schon steht er dort, wo Bernhard von Lepel vor etwa 165 Jahren seinen Vetter besucht und Badefreuden erlebt hatte. Ein Gefühl von kultureller Befriedigung erfüllt ihn, er trinkt den letzten Wasserschluck aus der Flasche und steckt sich einen Schokoriegel in den Mund. Langsam, als habe er nun alle Zeit der Welt, kehrt in jene zurück, die er leichthin und leichten Herzens für ein paar Stunden verlassen hat. Sie hat auf ihn nicht gewartet, die Welt wartet nie auf jemanden. Er sieht sich noch einmal um. Die Spätnachmittagssonne leuchtet sanft. Kein Licht der Welt betrügt so sehr über deren Zustand. Ein Wind kommt auf, Vogelstimmen klingen herüber, die Felder grünen unschuldig vor sich hin. Sie machen vergessen, dass man längst an ihrer Saat schuldig geworden ist. Und der dort auf dem Rad davon fährt, er hängt Gedanken nach, die so abgelegen sind wie jene Orte, die er hinter sich lässt im frühabendlichen Schein. Nein, Heil kommt von hier nicht, aber Heilung für den Augenblick.

 

Bilder vom Verfasser.

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