Es gibt keinen anderen Autor und keine Autorin, die ich derartig häufig neu kennengelernt habe wie Theodor Fontane. Gleichzeitig hat auch kein anderer Autor und keine Autorin mein Leseverhalten und meine weitere akademische Laufbahn so stark beeinflusst.
Kein bleibender Fontane-Eindruck in der Grundschule
Das erste Mal wurde mir Fontane in der 6. Klasse vorgestellt, als Balladen auf dem Unterrichtsplan standen. Wir sprachen eine Auswahl zur Übung durch. Zu Fontanes John Maynard und Herr Ribbeck auf Ribbeck im Havelland bekamen wir sogar zusätzliches Material, da letztere die Lieblingsballade meiner Deutschlehrerin war. Sie sprach das ganze Jahr über davon, mit der Klasse einen Ausflug nach Ribbeck zu machen. Das ergab sich zwar nie, aber bis heute ist die erste Assoziation meiner Eltern mit Fontane diese Ballade und diese Anekdote.
Wir besprachen in diesem Schuljahr nicht nur Lyrik, sondern sollten auch ein Gedicht auswendig lernen und vortragen. Die meisten meiner Mitschüler und Mitschülerinnen entschieden sich für John Maynard, weshalb mir bis heute dessen Anfang im Gedächtnis geblieben ist. Ich hingegen zog zum ersten und letzten Mal in meinem bisherigen Leben Goethe Fontane vor und wählte den Osterspaziergang, von dem ich im Gegenzug zu John Maynard keinen einzigen Vers behalten habe.
Der Beginn meiner Fontane-Begeisterung in der Oberstufe
Mein Interesse an Literatur und mehr von Fontane zu lesen, war dadurch aber nicht geweckt worden. Es dauerte sechs Jahre, bis er mir als Autor im ersten Semester der 12. Klasse erneut vorgestellt wurde. Zu diesem Zeitpunkt war Deutsch bereits zu meinem Lieblingsfach geworden. Meine Leistungskurslehrerin Frau H. hatte mich mit ihren gewählten Werken für die Themenbereiche „Sturm und Drang“ und „Romantik“ beeindruckt. Als wir nun in der 12. Klasse den vorgeschrieben Komplex „Realismus und Naturalismus“ behandelten, ließ sie dem Kurs die Wahl der Romane, da es keine Werkvorgaben für das Abitur gab.
An dem Manfred-von-Ardenne-Gymnasium war es eigentlich gang und gäbe, Effi Briest zu lesen, da der Roman inspiriert ist von dem Scheidungsskandal von Ardennes Großeltern. Tatsächlich las in diesem Jahr kein Deutschkurs des Gymnasiums Effi Briest. Sie entschieden sich, wie auch wir als Leistungskurs, für Fontanes Irrungen, Wirrungen. Diesen empfahl meine Lehrerin dem Kurs, da sie glaubte, er könne am wahrscheinlichsten beim Großteil meiner Mitschüler und Mitschülerinnen Anklang finden. Mein Vorschlag war aufgrund des Kriminalaspekts Fontanes Unterm Birnbaum, aber Frau H. glaubte, er könne die Aufmerksamkeitsspanne des Kurses nicht halten. Mit beidem behielt sie recht.
Ich hatte aufgrund der Herangehensweise von Frau H. während des Lesens und Erörterns viel Freude an dem Roman. Sie gab uns einen schemenhaften Überblick über die historischen Geschehnisse ab Mitte des 19. Jahrhunderts, sodass wir die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umstände innerhalb des Romans verstehen konnten. Danach lasen wir das erste Kapitel gemeinsam im Unterricht und besprachen die Informationen über Handlungsort, Figuren, das Konfliktpotential und die historischen Umstände, die wir daraus erkennen konnten.
Zu jeder neuen Unterrichtsstunden sollten wir dann eigenständig nach Absprache Kapitel lesen. Diese konnten wir dann im Leistungskurs frei diskutieren. Meine Lehrerin griff erst ein, wenn wir Fragen aufwarfen, die keiner beantworten konnte, oder uns Begebenheiten entgingen, die sie als essenziell erachtete. Dadurch ermöglichte sie uns eine lebhafte und reichliche Diskussion, die ich selbst im Studium so kaum erlebt habe. Besonders in Erinnerung ist mir dabeigeblieben, wie ahnungslos wir die Szene behandelten, als Botho und Lene auf Hankels Ablage sind und auf Bothos Kameraden treffen. Meine Lehrerin war schockiert darüber, dass niemand aus meinem Kurs verstand, dass es sich bei den „Damen“ von Bothos Freunden um Prostituierte handelt.
Bereits bei diesen Betrachtungen vermittelte Fontane mir das Gefühl, er habe über jedes einzelne niedergeschriebene Wort nachgedacht. Doch erst jetzt im Nachhinein sehe ich, wie einflussreich diese Erfahrung wirklich für mich war. Bis heute ist Irrungen, Wirrungen sowohl mein Lieblingsroman von Fontane, als er auch ausschlaggebend für meine Studienwahl war. Mir ist erst nach dem Abitur bewusst geworden, warum mir Irrungen, Wirrungen und fortan Fontanes Werke allgemein so zusagten: Seine Romane geben mir immer wieder das Gefühl, einen Einblick in die verschiedensten Teile der Gesellschaft Ende des 19. Jahrhunderts zu erhaschen, was mich mit meiner Vorliebe für Geschichte sehr anspricht.
Frau H. bemerkte, dass mir Irrungen, Wirrungen sehr gefallen hatte. Sie schlug mir vor, allein Unterm Birnbaum zu lesen, um diesen für eine Doppelstunde für den Kurs aufzuarbeiten. Naiv und in diesem Moment von Fontane beeindruckt, wie ich war, habe ich diesem Vorschlag zugestimmt. Im Nachhinein habe ich das ein wenig bereut. Der Roman bot sich nach meinem ersten Leseeindruck nicht so für den Unterricht an wie Irrungen, Wirrungen. Er war langatmiger und im Hinblick auf die Figuren für uns Jugendliche weniger ansprechend. Diesen Eindruck bestätigten meine Mitschüler und Mitschülerinnen. Ihre Resonanz auf meine Fragen und Aufgaben zum Roman fiel zurückhaltend und wenig dynamisch aus. Danach blieb mir Unterm Birnbaum nicht sehr positiv im Gedächtnis. Das schmälerte meine Faszination für Fontane jedoch nicht.
Wir besprachen schließlich noch Frauenbilder zurzeit des 19. Jahrhunderts und ihre Darstellung bei Fontane. Das ist ein weiterer Punkt, der mich an seinen Werken reizt und dessen historisch authentische Darstellung ich immer wieder verblüffend finde. Im Kurs sahen wir uns dafür eine DDR-Verfilmung von Effi Briest an, die mich neugierig auf den Roman machte.
Als wir Ende des Semesters eine Klausur zur Interpretation literarischer Texte am Beispiel eines Ausschnitts aus Irrungen, Wirrungen schrieben, war ich zuversichtlich. Nachdem die Klausur für mich positiv ausfiel, griff ich im Deutschabitur sofort nach der Textinterpretation, als ich sah, dass es sich bei dem ausgewählten Text um einen Auszug aus Fontanes L’Adultera handelte. Wieder enttäuschte mich Fontane nicht.
Auch meinen Eltern entging meine Begeisterung für Fontane nicht und sie schlugen mir vor, mit mir nach Neuruppin zu fahren. Es war schließlich 2019 und somit das Fontane-Jahr. Das ergab sich aus gesundheitlichen Gründen zwar nicht, aber dafür bestärkten mich meine Familie darin, Deutsche Literatur zu studieren.
Immer auf der Suche nach Fontane im Literaturstudium
Danach dauerte es nicht wieder Jahre, bis ich mich erneut mit Werken von Fontane auseinandersetzte. In meinem zweiten Semester im Sommer 2020 belegte ich ein Seminar, das den „Realismus“ in den Vordergrund stellte und dafür drei Autoren betrachtete. Tatsächlich war meine Wahl für dieses Seminar darauf beruhend, dass Fontane neben Storm und Raabe behandelt werden sollte. Dadurch bekam ich sowohl die Gelegenheit, Unterm Birnbaum noch einmal neu kennenzulernen und zu bewerten, als auch Effi Briest zu lesen. Vollkommen unbekannt war für mich Die Poggenpuhls, weshalb ich mir diesen Roman aussuchte, um ihn für das Seminar aufzuarbeiten.
Im Gegensatz zu meiner Leistungskurserfahrung sprach mich die Auseinandersetzung mit den Romanen von Fontane in diesem Seminar weniger an. Ich weiß nun, das dies an mehreren Faktoren lag. Einerseits reichen 90 Minuten nicht aus, um über einen ganzen Roman zu diskutieren und dessen Komplexität zu erörtern. Andererseits war der Fokus zu jedem Roman auf einen Gegenstand des „Realismus“ gerichtet. Bei Effi Briest fokussierten wir uns beispielsweise auf die Darstellung der Fotografie. Das hemmte neben der Tatsache, dass es sich um das erste Onlinesemester handelte, die Diskussion und deren Vielfalt.
Ich habe Unterm Birnbaum zwar nun positiver in Erinnerung als nach meiner ersten Auseinandersetzung mit diesem Werk, aber ich war enttäuscht, dass wir von Effi Briest nur die ersten 10 Kapitel lasen und vorwiegend zu einer Thematik besprachen. Auch Die Poggenpuhls kam zu kurz und einseitig dran, sodass ich keine wirkliche Meinung zu dem Roman entwickeln konnte. Ich habe ihn nur noch als handlungsarm im Gedächtnis. Effi Briest habe ich dann nach dem Semester noch einmal komplett gelesen und viel mehr genossen als im Seminar. Das Ende hat mich, obwohl ich dieses bereits kannte, sogar sehr berührt.
Im Sommersemester 2021 wählte ich das Seminar Frauen, Romane, bei dem Fontane neben Marie von Ebner-Eschenbach und Fanny Lewald herangezogen wurde. Bei dieser Auseinandersetzung mit Fontane verspürte ich von Beginn an wieder Euphorie. Mich sprachen das Seminarthema und die theoretischen Grundlagen an, die im Kurs verhandelt wurden. Mein Dozent stellte drei Romane zur Auswahl: Božena von Ebner-Eschenbach, Jenny von Lewald und Mathilde Möhring von Fontane. Ein Werk sollte individuell gelesen und zu diesem dann eine größere Seminaraufgabe erledigt werden. Mathilde Möhring war mir unbekannt, aber da der Roman von Fontane war, wollte ich diesen unbedingt lesen. Ich versuchte mich außerdem an Božena, da ich mir passend zum Seminarthema eine Autorin anschauen wollte. Die Thematik und der Stil des Romans reizten mich nicht, wie Mathilde Möhring es tat.
Fontanes Roman schaffte es wieder, mich zu berühren, und ich genoss die anregende Diskussion, die im Kurs dazu entstand. Ich und auch keine meiner Mitstudentinnen stellten im Zuge des Seminars den religiösen Hintergrund des Romans fest, den unser Dozent darin fand. Niemand verstand die antisemitischen Anspielungen, bis er sie uns aufzeigte. Das war ein neuer und sehr negativer Einblick auf Fontanes Werk, der mir bis heute schwerfällt. Es verdarb mir aber meine Freude an Mathilde Möhring nicht. Ich schrieb voller Elan an meiner Hausarbeit zu der Thematik der Witwe in diesem Roman und den emanzipatorischen Deutungen.
Die verschiedenen Witwendarstellungen in Fontanes Werk sind bis heute ein spannender Punkt für mich, den ich neben dem Studium weiter nachzugehen versuche. Dafür habe ich kurz nach dem Seminar Stine gelesen und mich erkundigt, welche anderen Romane von Fontane ebenso Witwen beinhalten. Die Poggenpuhls möchte ich dahingehend auch noch einmal neu erleben. Als ich nun im Wintersemester 2022/23 nach einem Praxisseminar gesucht habe, war ich absolut enthusiastisch, als ich den Fontane-Blog sah. Da musste ich nicht zweimal überlegen, was ich wählen würde.