Streng genommen begegneten Theodor Fontane und ich uns erstmalig im Deutschleistungskurs der Oberstufe, als das Curriculum Erzählanfänge für uns vorgesehen hatte. In diesem Rahmen analysierten wir den Beginn von Effi Briest. Aufgrund der Flüchtigkeit dieses Augenblicks, da wirklich nur der Romananfang betrachtet wurde und dieser bei mir zunächst wenig Nachklang entfaltete, lasse ich diese Zusammenkunft erst einmal außer Acht. Eine erste vollwertige Begegnung mit Theodor Fontane fand dann im Rahmen eines Literaturseminars zum Realismus an der Universität im Sommersemester 2020 als Online-Kurs statt.
Das Seminar begann mit einer Einführung zu den historischen und medienkulturellen Rahmenbedingungen des Realismus im 19. Jahrhundert. Theodor Fontane sollte mit Effi Briest erst in der vierten Semesterwoche folgen. Zu beachten ist, dass wir Effi nur bis einschließlich Kapitel 10 besprochen haben, alles Weitere war privates Vergnügen. Auf den ersten Blick wurde ein eher ungewöhnlicher Ansatz in den Vordergrund gerückt: die Medienkonkurrenz der Fotografie. Im Bezug auf Fotografisches- und Panoramatischessehen arbeiteten wir heraus, dass Fontane auf detaillierte und strukturierte Beschreibungen der Handlungsorte zurückgreife und diese gleichzeitig symbolisch auflade. Auch Effi selbst sei in ihrem Denken, ihrer Wahrnehmung und ihrer Fantasie von dem ‚fotografischen‘ Blick geprägt.
In der darauffolgenden Woche wandten wir uns dann Fontanes Kriminalnovelle Unterm Birnbaum mit dem Themenschwerpunkt visueller Wahrnehmung zu. In diesem Zusammenhang wurde Unterm Birnbaum als poetologisches Experiment des Realismus, das mit der Tradition des Genres der Kriminalgeschichte breche, betrachtet. Hier stehe die Erschaffung einer Wirklichkeit im Zeichen des Verdachts im Mittelpunkt, sodass Fontane auf die Wirklichkeitskonstruktion durch das Erfinden, Interpretieren und Hörensagen zurückgreife. Vor allem würden die Beobachtungsszenen die Wirklichkeit konstruieren und somit als Manipulation derselben eingesetzt werden wie Abel Hradscheck, der beim Graben im Garten gesehen werden möchte.
Nach einer vierwöchigen Pause, in der wir uns Wilhelm Raabe widmeten, kehrten wir dann in der letzten Seminarwoche zurück zu Theodor Fontane und betrachteten Die Poggenpuhls. Die Schwerpunkte sozialer Wandel, Ökonomie und Erinnerungskultur wurden gesetzt, da die Novelle vermutlich im von politischen Umbrüchen geprägten Jahr 1888 spiele und die Akkumulation beziehungsweise den Verlust von sozialem und symbolischem Kapital thematisiere.
In Anbetracht der Tatsache, dass Fontane jeweils nur eine 90-minütige Sitzung pro Werk eingeräumt wurde, ist es leider wenig überraschend, dass wir nur sehr spezifische Werkaspekte immer in enger Bindung zum Realismus betrachteten und alles Weitere ein wenig zu kurz kam. Im Nachhinein, mit ungefähr zweieinhalb Jahren Abstand, ist das Oberthema ‚Realismus‘, unter dem wir Fontane betrachteten, möglicherweise eine Ursache, weshalb Fontane und ich zu Beginn nicht wirklich miteinander warm wurden. Dennoch muss dem Seminar selbstverständlich zugutegehalten werden, dass ein grundlegendes Verständnis für den Realismus vermittelt wurde. Es war nun mal ein Seminar zum Realismus allgemein und nicht spezifisch zu Theodor Fontane. Auffällig ist jedoch, dass wir von Theodor Storm und Wilhelm Raabe jeweils nur zwei Werke verhandelten, während Theodor Fontane mit drei Werken präsent war.
Zu Beginn des Semesters, als uns der Seminarplan vorgelegt wurde, wirkte die Anordnung der Werke im Seminarplan durch die vierwöchige Pause zwischen Unterm Birnbaum und Die Poggenpuhls eher willkürlich, wodurch mir der Zugang zu Fontanes Werk eher erschwert wurde. Zudem mutete auch die Werkauswahl eher absonderlich an, da diese kaum Gemeinsamkeiten aufweisen. Effi Briest war ansprechend, spannend, gut zu lesen. Aber Unterm Birnbaum und Die Poggenpuhls? Kann man machen, muss man nicht; aber was blieb uns anderes übrig. Ehrlicherweise waren der Dialekt und die französischen Dialogpassagen in Unterm Birnbaum zumindest für mein Verständnis recht störend, da diese durch fast gänzliche Unverständlichkeit glänzten. Jegliche anderen, durchaus positiven Eigenschaften des Textes gerieten somit für die nächste Zeit vollkommen in Vergessenheit. Auch Die Poggenpuhls konnten nicht begeistern: zu handlungsarm, zu schleppend war die Geschichte. Nach diesen recht negativen Leseerlebnissen stellte sich dann bei mir ein regelrechter Fontane-Unmut ein, der über zwei Jahre andauern sollte.
Erfreulicherweise heilt die Zeit alle Wunden.
Bei den Überlegungen zu meinen Fontane-Erlebnissen im Rahmen des Fontane-Blogs ließ ich das Sommersemester 2020 noch einmal Revue passieren. Recht schnell folgte eine neue Erkenntnis: Diese ursprünglich absonderliche Fontane-Auswahl entpuppte sich nun doch als stimmig, da in meiner Betrachtung auf einmal Fontanes Können und das große Spektrum seines Werkes in den Mittelpunkt rückte. Zu Beginn lasen wir Effi Briest, eine bildgewaltige Kritik am großbürgerlichen Moralkodex des 19. Jahrhunderts mit der gleichnamigen Titelheldin, die als moderne Frau gefangen in ihrer gesellschaftlichen Rolle auftritt. Darauf folgte die Kriminalnovelle Unterm Birnbaum, die vollkommen gegensätzlich zu Effi Briest nun in einem sehr dörflichen Milieu angesiedelt ist. Das Dorf als Kommunikations- und Konstruktionsraum von Wahrheit und Realität, in dem die Dorfbewohner ‚entscheiden‘, was als wahr gilt. Abschließend erwartete uns ein Besuch bei den Poggenpuhls, wo uns die zunehmende Verarmung des Landadels im 19. Jahrhundert empfing. Fontane erschafft in seinen Werken vielfältige Welten und gestaltet sie mit einem Bewusstsein für Authentizität, das den Leserinnen und Lesern ermöglicht, sich vollkommen in jede einzelne von ihnen hinein zu denken. Dieser neue Eindruck des Authentizitätsgefühls prägt mein jetziges Fontane-Bild und lässt vorherige negative Erfahrungen allmählich verblassen. Fanden Fontane und ich also doch noch unseren Weg zueinander?
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