Dürers reitender Pilatus und seine Pistolenhalfter. Ein Hinweis zu Fontanes „Schach von Wuthenow“

Mit dem freundlichen Hinweis auf einen Fehler im Kommentar der Großen Brandenburger Ausgabe zum 9. Kapitel von Fontanes Erzählung Schach von Wuthenow, der offenbar ungeprüft aus der vorangegangenen Ausgabe der Romane und Erzählungen des Aufbau-Verlags (1969, 4 Auflagen) übernommen wurde, wandte sich Ingrid Kühnert an das Fontane-Archiv. Wörtlich schrieb sie uns:

„Uwe Johnson schubste mich zu Fontanes ‚Schach von Wuthenow‘. Dabei fiel mir eine Sache auf: ‚Ich wurde beständig an das Bild Albrecht Dürers erinnert, wo Pilatus mit Pistolenhalftern reitet oder an ein ebenso bekanntes Altarblatt in Soest, wo statt des Osterlamms ein westfälischer Schinken in der Schüssel liegt.‘ (GBA S. 82) In den Anmerkungen S. 226 wird das Dürerbild als ein ‚Blatt aus der Kupferstichpassion‘ identifiziert. Dem ist nicht so!

Fontane kann seinen Schach ja reden lassen, was er will – beim Soester Altarblatt handelt es sich ja auch um Glasmalereien. Im Berliner Kupferstichkabinett ließ ich mir die Drucke vorlegen und konnte auf keinem Blatt einen reitenden Pilatus entdecken und auch der zuständige Kurator Dr. Roth war sehr verblüfft, denn ein reitender Pilatus, in welcher Technik auch dargestellt, ist ihm weder von Dürer noch sonst wem bekannt.

Ich hoffe, dass es bei einer Neuauflage des Bandes möglich sein wird, diese Anmerkung zu korrigieren. Es ist schon interessant, wie Fontane den Schach charakterisiert: Er erinnert sich an ein fiktives Bild!“

Tatsächlich wurden die beiden Stellen unterschiedlich kommentiert. Die Nymphenburger Ausgabe (1959) bietet keinen Kommentar, genauso wenig wie die fünfbändige Auswahlausgabe von Hans Heinrich Reuter (1964, 5 Auflagen). Auch Pierre Paul Sagave, der sich intensiv mit Fontanes Quellen zum Schach befasst hat, erklärt sie in seiner materialreichen Studienausgabe (1966) nicht. In der Hanser-Ausgabe blieben die Stellen zunächst (1962) auch unkommentiert, die 2. Auflage (1970) wurde um den Hinweis auf Albrecht Dürers Blatt Die Apokalyptischen Reiter ergänzt, außerdem um die Richtigstellung, dass es sich bei dem „westfälischen Abendmahl“ in Soest um eine Glasmalerei handelt. Die Sekundärliteratur, die sich intensiv um die Quellen Fontanes bemühte, hat das Problem bisher noch nicht aufgegriffen.

Dürers Holschnitt-Zyklus zur Apokalypse, 1498 erstmals von Anton Koberger in Nürnberg gedruckt, gehört zu den ein­drucksvollsten Illustrationen der Kunstgeschichte. Tatsächlich findet sich auf dem Blatt, hier die Version aus der dem Exemplar der 2. Auflage von 1511 aus der Kunsthalle Karlsruhe, eine Sattelstruktur, die an ein Pistolenhalfter erinnert.

Frau Kühnert bat das Deutsche Historische Museum um Erklärung und erhielt von Sven Lüken, dem Sammlungsleiter für Militaria, folgende Auskunft:

„Es sind sicherlich die Apokalyptischen Reiter gemeint. Sie reiten wie um 1500 üblich stehend mit durchgedrückten Knien, wobei sie sich gegen Vorder- und Hinterzwiesel stemmen können, um Halt zu finden. Diese sind mit massiven Holz-oder Lederkonstruktionen versehen, deren Seitenteile leicht mit keulenförmigen Pistolentaschen verwechselt werden können, wie man sie im 17. Jh. kannte. Um 1500 waren sie (und Pistolen) noch nicht erfunden.“

Der Hinweis der Hanser-Ausgabe geht also auch ins Leere. Es gibt nicht nur keinen reitenden Pilatus, auch die Pistolenhalfter sind ohne Weiteres als Anachronismus zu erkennen.

Bereits 1937 hat der Journalist Hanns Braun (1893-1966) in seiner Sammlung Hier irrt Goethe darauf hingewiesen. Im Kapitel „Ungebildete Bilder“ findet sich folgende Passage: „Die Wahl wird einem nicht leicht, was man für zeitunstimmiger halten will: ob die ‚Landsknechte‘ der Alexanderschlacht bei Altdorfer oder die Pistolenhalfter des reitenden Pilatus bei Dürer […]. Viel Heimatgefühl beweist ein Altarbild zu Soest, auf welchem statt des Osterlamms ein westfälischer Schinken in der Schüssel liegt.“[1] Zwar nennt Braun keine Fundstellen, auch spätere Auflagen haben keine Erklärungen, aber diese Bilder, ausgenommen natürlich die Alexanderschlacht, kann er nur in der imaginären Galerie von Fontanes Schach gefunden haben. Wo sonst findet sich ein reitender Pilatus mit Pistolenhalftern von Dürer?

Aber woher kannte Fontane Dürers reitenden Pilatus und das Soester Altarblatt? Erst nach langer Suche u. a. in der Literatur zu Zacharias Werner, in den bekannten Quellen zum Schach sowie in den verfügbaren digitalen Corpora zur Literatur- und Kunstgeschichte fand sich eine Erklärung. Sie ist verblüffend einfach. Um das historische Kolorit von 1806 zu treffen, hat sich Fontane offenbar auch in die Tageszeitungen jener Zeit eingelesen. Wenigstens die Lektüre ausgewählter Abschnitte der Vossischen Zeitung scheint festzustehen. Als Mitarbeiter hatte Fontane sicher die Möglichkeit, das Redaktionsexemplar einzusehen. Interessiert hat er sich unter anderem für die Theaterkritiken seines Vorvorgängers über die ersten Aufführungen von Werners Luther-Drama Die Weihe der Kraft. In der Vossischen Zeitung vom 24. Juni 1806 fand er folgende anonyme Rezension:

Königliches Nationaltheater.
Den 21sten: Die Weihe der Kraft.

Hält Luther sich selbst, oder wird er von Iffland gehalten? Würde die Rolle einen mittelmäßigen Schauspieler heben? Würde das Stück, ohne Prunk und Aufzug, anziehen und wirken? Gewinnt es den Zuschauer, oder besticht es ihn? Ein jeder antworte hier statt meiner, zähle die Auftritte her, die er, auch mittelmäßig gespielt, immer mit Vorliebe würde spielen sehen, auf die er sich zum Voraus freut, die ihn immer neu, immer stark ansprechen, und seinem Innern wohl thun? Bleibt nicht, nach jeder Vorstellung, ein verwirrtes Bild in der Seele zurück, eine Empfindung, wie die eines schweren Traums, der uns hin und her zog, abwechselnd wohl und wehe that, aber nichts deutliches in uns zurückließ, und auf dessen zusammenhängenden Inhalt wir uns besinnen wollen, und nicht können? Wenn bloß die Scenen, worin Luther als Freund, Herr, Sohn, als Bekenner seiner Lehre vorkommt, von der übrigen Fabel des Stücks getrennt, ohne irgend eine andre als die historische Verbindung, (versteht sich’s von einem Iffland) hinter einander gegeben werden könnten, sie würden, dünkt mich, eine reinere, ungestörte, herzlichere Wirkung hervorbringen, als in ihrer gewaltsamen Verbindung mit nicht bloß fremdartigen, sondern mit dem Geiste und dem Jahrhunderte Luthers geradezu streitenden und widersprechenden Ideen und Bildern. Mich dünkt immer, ich sehe das Gemälde von Albrecht Dürer vor mir, wo Pilatus mit Pistolenhalftern, reitend vorgestellt wird, oder das berüchtigte Altarblatt in Soest, wo statt des Osterlammes ein Westphälischer Schinken in der Schüssel liegt. Durch jenes wird der Leidensgeschichte, durch dieses dem Abendmahl sein Edles, Göttliches, Herzerbauendes glatt abgestreift; der bestürzte Zuschauer sieht eine Disparate vor sich, sieht nichts als sie, und alles übrige verschwindet vor seinen Augen.[2]

Was Fontane seinen Schach über das Theaterereignis der Saison sagen lässt, ist beinahe wörtlich aus dieser Rezension übernommen. Auch aus der Kritik über die Uraufführung, die ein paar Tage zuvor in der Zeitung gestanden hat, zitiert Schach. „Luther, wie er hier ist, führt […] grade wieder da hin, von wo jener wahre Luther seine Zeitgenossen entführte, nehmlich von Geist und Licht, zu Geisterseherei und Illuminarismus.“[3]

Damit ist das Problem erst zum Teil gelöst. Fontane nutzt in seiner Erzählung Schach von Wuthenow die Einschätzung und den beißenden Anachronismus des Rezensenten der Vossischen Zeitung, um Zacharias Werners Stück zu charakterisieren und um seine Hauptfigur zu konturieren. Aber woher hat es der Rezensent? Die naheliegende Vermutung, es könnte sich um einen unmittelbaren Reflex auf Werners Text handeln, ließ sich nicht belegen. Es ist mir nicht gelungen, das Bühnenmanuskript zu finden. In der 1807 publizierten vollständigen Textversion finden sich die Sätze jedenfalls nicht.

Klaus-Peter Möller

[1] Hanns Braun: Hier irrt Goethe – unter anderen. Eine Lese von Anachronismen von Homer bis auf unsere Zeit. München: Heimeran [1937], S. 104-105.

[2] [Anonym]: Königliches Nationaltheater. Den 21sten: Die Weihe der Kraft. In: Königlich privilegirte Berlinische Zeitung von Staats- und gelehrten Sachen … 75. Stück, Dinstag, 24. Juni 1806.

[3] [Anonym]: Königliches Nationaltheater. Den 16ten und 17ten: Die Weihe der Kraft. In: Königlich privilegirte Berlinische Zeitung von Staats- und gelehrten Sachen … 73. Stück, Donnerstag, 19. Juni 1806.

One comment

  1. Ein Musterbeispiel, wie aufwendig es mitunter ist, Ursachen von Fehlinterpretionen, deren Quellen und den Weg zur Aufklärung zu finden. Herzlichen Dank für den Erkenntnisfortschritt durch diesen Artikel!

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