Es sind die leichtesten Fragen, für die Antworten fehlen. Oder die so verstaubt scheinen, dass man bereut, gefragt zu haben. Gehört die nach „Fontane in der Schule?“ dazu? Ach, ich sehe sie schon, die vielen Bildungs- und Kulturpolitikbeflissenen, wie sie die Ärmel hochkrempeln und loslegen. Da wirbelt es nur so von „Frauengestalten“, „Berlin-Romane“, „Chronist der deutschen Metropole“, „märkischem Wanderer“ und „Preußenkritiker“. Man zeigt auf die „Fontane-Stadt“ Neuruppin, die einen eigenen „Fontane-Botschafter“ berufen hat, zählt die „Fontane-Apotheken“ auf und hebt den Finger, um gleich zwei Fontane-Literaturpreise ins argumentative Feld zu führen. Wenn man sich dann seiner Sache gewiss in der Runde umsieht, steht in der letzte Reihe vielleicht jemand auf und fragt: „Und was aber hat das alles mit der Schule und was mit uns zu tun?“ Es mag sein, dass der wackere Wortführer oder die nicht minder wackere Wortführerin dann etwas von „Kanon“ schwadroniert und „Bildungsgut und -auftrag“, aber beide spüren, so recht überzeugend klingt das nicht, nicht einmal in ihren Ohren.
In der S-Bahn erzählte mir eine lebenswache Schülerin (9. Klasse) von Deutschstunden, in denen Podien eingerichtet und argumentatives Diskutieren eingeübt werden. Ein Für und Wider setzt Stoff voraus. Welcher Fontane-Stoff bietet sich 2018/19 an? An überlieferten Texten besteht keinerlei Mangel. Wer will, kann Fontane rund um die Uhr lesen – das Internet entfaltet seine ganze unbegrenzte Großzügigkeit. Da sind die Romane, da ist die Lyrik , da sind die märkischen Bilder. Alles bequem zugänglich, bei aller Vorsicht, die die Textangebote im Netz immer gebieten. Weniger leicht zugänglich ist, was in den letzten Jahren die Fontane-Welt zunehmend interessiert hat: sein facettenreiches journalistisches Werk.
Der seinen beruflichen Lebensweg als Apotheker begann und als Romancier beendete, war den Großteil seiner Schreibjahre nämlich Journalist. Seine Feder – eine Gänsefeder, die er sich selbst passgerecht schnitt – tauchte über Jahrzehnte hin tief in die Tinte, um nicht zu zählende Zeitungsspalten zu füllen. Das reichte von der kleinen Lokalnotiz über zusammengeflickte Auslandskorrespondenzen bis hin zu Theaterkritiken und ausgedehnten Feuilletons. Die medialen Möglichkeiten seiner Zeit studierte er, in dem er sie praktizierte. Schreiben war ihm derart Bedürfnis, dass er, war das Tagwerk getan, die Feder nicht reinigte, sondern weiter über’s Papier gleiten ließ. Was dabei entstand, war ein Briefwerk, in dem vielleicht die schönsten Wort- und Satzpassagen zu finden sind, die er je geschrieben hat.
Moment: Mit solcher Aufzählung lässt sich kein Deutschstunden-Podium bestreiten und Pro-und-Kontra nicht austragen. „Meinen Sie, was wir alles schreiben, wie der Tag lang ist, von der Nacht zu schweigen!“
Also gilt es genauer hinzusehen: Was hat es mit einem jungen Kerl auf sich, der statt Rezepturen zu büffeln, Verse verreimt? Wie steht es mit einem selbstgewissen Burschen, der plötzlich in eine literarische Vereinigung gerät, die aus zukünftigen Ministern, jüdischen Reformpolitikern, genialen Malern und Kammergerichtsräten besteht? Was fangen wir mit so einem an, der März 1848 auf rasch errichteten Barrikaden demokratisch-revolutionär herumturnt, um ein paar Monate später in die konservative Ministerialpresse zu stolpern? Wohin verschlägt es uns, wenn wir mit ihm gleich dreimal nach London reisen, um das letzte Mal für ein paar Jahre in der Weltmetropole des 19. Jahrhunderts zu bleiben? Wir, die wir neuseeländische Naturparks durchwandert haben, von südfranzösischen Landschaften verzaubert wurden und nur schlurfend-widerwillig Tagesausflügen durch märkischen Sand und Kieferngestrüpp zustimmen, was ist uns jene Verklärung der Mark Brandenburg, wie sie Fontane betrieb? Und lesen wir dann auch noch von allerlei Wankelmut im politischen Urteil und preußischer Zu- wie borussischer Abneigung, ganz zu schweigen von einigen antijüdischen Bemerkungen in seiner Privatkorrespondenz – ja, was sollen wir zu all dem sagen: 2018/19?
Fontane in der Schule – heute. Vielleicht beginnt er genau bei dieser Frage. Ihr ist erst einmal kräftig Leben einzuhauchen: mit Zitaten aus diesem bunten Schreibwerk, mit Lebensbildern aus diesem nicht minder bunten Dasein und mit Warnsignalen vor platten Lobes- und Ruhmesfloskeln. Was Fontane ‚ist‘, ist er durch unsere Lektüre heute. Glauben wir, dass die Schule ein geeigneter Ort sei, Dichterverehrung zu betreiben, dann lassen wir Fontane besser aus dem Spiel. Setzen wir allerdings auf anregendes Lesen und auf voraussetzungsfreie Lust, diesen Schreibwelten auf die Schliche – und, das auch, auf ihre Schönheiten zu kommen, dann, ja dann könnte etwas glücken.
Und der Fontane säße plötzlich nicht mehr auf einem eisernen Podest, sondern mit uns am Podiumstisch und gesellte sich unter uns in den Kreis von Diskutanten. Wäre das eine Aussicht? Auf unser Wort so neugierig, wie wir auf seins …?