Fontane, Cécile, meine Mutter, ihr Knie und ich – Tag 2

Um sechs Uhr morgens läuten die Glocken von St. Nikolai und rufen die Gläubigen zum Gebet, mich animiert es eher, mich nochmals umzudrehen und ein wenig weiter zu schlummern, jedoch treibt uns die Sonne, die direkt in unser Zimmer scheint, erbarmungslos aus den Betten. Für heute sind 36 Grad angesagt und es scheint, dass die Sonne hoch motiviert ist, diese Marke zu knacken. Also anziehen, frühstücken, Laptop schultern und die Erlebnisse des gestrigen Tages niederschreiben, solange sie noch frisch im Gedächtnis sind. Der Platz der Wahl ist das „Markt-Café“ am Hotel zum Bär, das hat uns gestern schon gut bewirtet und wird es auch heute tun, außerdem ist Markttag und wir können tatsächlichem Markttreiben zuschauen.
Danach schlendern wir nochmals kurz zum Hotel, um unser eigentliches Vorhaben anzugehen, doch will ich vorher, einer Eingebung folgend, bei St. Nikolai vorbeischauen, der Kirche, die uns morgens weckt.

Kanzel und vorderer Teil der verhangenen Kirche. Foto: Franz Schorr

Drinnen empfängt uns wohlige Kühle und ein mit Gerüsten halb zugebautes Kirchenschiff, aber der Blick auf den barocken Hochaltar und die Kanzel ist frei. Wir setzen uns hin und ich lese der Mutter aus einem unserer Reiseführer die wichtigsten Fakten vor, unter anderem, dass die Kirche für die Neustadt erbaut wurde und erst magere 800 Jahre auf dem Buckel hat, wie auch die ganz Neustadt durch ihre frische Jugendlichkeit von durchschnittlichen 800 Jahren besticht. Wie wir da so sitzen und ich uns bilde, tritt ein sendungsbewusster Kirchenmitarbeiter zu uns und fragt, ob wir vielleicht Fragen bezüglich der Kirche hätten, deren Antworten nicht im Reiseführer stünden. Dies verneinen wir, aber er lässt nicht locker und meint, dass er uns ja dann seinerseits Fragen stellen könne. Unter anderem fragte er uns, für wen denn Altar, Kanzel und die bunten Kirchenfenster gemacht seien, die Antwort überrascht mich doch ein wenig. Wir hätten den Kirchenschmuck dem Analphabetismus der früheren Gemeinden zu verdanken, die Kirche musste sich eine Möglichkeit einfallen lassen, um dem nicht lesenden Teilen der Bevölkerung Zugang zu ihren Geschichten zu ermöglichen und Bilder wären universell verständlich, sofern man dem gleichen Kulturkreis angehöre. Unser selbsternannter Führer meint, dass das auch für andere Kulturkreise verständlich sei, aber ich habe da so meine Zweifel. Besonders bezieht er sich mit seinen Ausführungen auf die Kanzel, die er mit einem Schiff vergleicht, mit dem Pfarrer als Kapitän – und wirklich die Ähnlichkeit ist verblüffend, denn die Kanzel wird von einem rotgewandeten Engel gehalten, der sehr stark an eine Galionsfigur erinnert. An der Unterseite der Kanzel befinden sich bewegliche Girlanden, die von einem Helfer des Pfarrers angestoßen wurden und so die Illusion von Wellengang erzeugen sollten, zu welchem Zweck, ist uns nicht ganz klar geworden, vielleicht war es auch nur eine Möglichkeit, der Predigt einen im Doppelsinn bewegten Moment zu verschaffen. Langsam bekommen die durchaus interessanten Erläuterungen des Kirchenmannes einen etwas indoktrinierenden Charakter, sodass wir beschließen, das als Zeichen des Aufbruchs zu nehmen, wir geben noch eine Kleinigkeit in die Kollekte und machen uns wieder auf den Weg. Cécile ruft.
Also, zurück zum Bahnhofsvorplatz, dann mit dem Blick zur Stadt nach links, an der Bode entlang. Zwar führt der Weg recht reizvoll an Gründerzeit- und Jungendstilvillen vorbei und diese verfügen auch durchaus über hübsche Gärten, jedoch hat sich die Stadt im letzten Jahrhundert sehr ausgedehnt, sodass von den alten Bäumen am Rand der Bode nicht mehr viel übrig ist.
Als wir an der Brühlstraße vorbeikommen, entscheiden wir dem Brühl, im Gegensatz zu der Reisegesellschaft um Cécile, doch einen Besuch abzustatten, wir gehen stramm auf die Mittagszeit zu und die Sonne schwingt sich naturgemäß zur Höchstform auf, aber in diesem kleinen Bois de Boulogne sind die Temperaturen erträglich und so lustwandeln wir ein Stündchen und erfreuen uns der Kühle des Wäldchens. Eigentlich wollten wir zu Klopstock, aber der war unauffindbar, dafür sind wir über Carl Ritter gestolpert, einem weiteren berühmten Sohn der Stadt; er etablierte unter anderem die Geographie als wissenschaftliches Fach.

Malerischer Aufstieg zum Schlossberg. Foto: Franz Schorr

Über den in der Gluthitze liegenden Abteigarten nähern wir uns dem Schlossberg und nach einem kurzen, aber ausgesprochen reizvollen Aufstieg – auf der einen Seite Fels, auf der anderen Seite entzückendes Fachwerk – stehen wir auf dem gleichen Platz wie die St. Arnauds samt Anhang. Ein Blick in Cécile, unsere ständige Begleiterin, bestätigt unseren Verdacht: Sie sind eigentlich von der anderen Seite gekommen, über den Finkenherd. Hier wieder eine dieser kleinen Ungereimtheiten, die einem aber erst auffallen, wenn man tatsächlich versucht, den beschriebenen Wegen zu folgen. Wir nutzen unser Stutzen für eine kleine Pause und essen ganz vorzüglichen Käsekuchen im „Café Vincent“, gleich neben dem Klopstockhaus, das sich jetzt nicht mehr grasgrün präsentiert, sondern geschmackvoll in schwarz und weiß mit grünen Fensterläden. So gestärkt, erklimmen wir mühelos die letzten Stufen zum Schloss und entscheiden uns selbstverständlich für das Kombiticket, denn wir wollen ja sowohl Schloss als auch Stiftskirche besichtigen. Im Gegensatz zu den St. Arnauds entscheiden wir uns für die Stiftskirche, Herren- oder Gottesdienst sind uns gleich, aber die Kasse befindet sich dort und wir legen, der Effizienz und Hitze wegen, ungern Wege doppelt zurück: „Preußen-Moral! Aber wir sind ja Preußen.“ Die Stiftskirche besticht durch ihre Kühle und spartanische Einrichtung, die ihr etwas Erhabenes verleiht; ein Ort der inneren Einkehr.

Romanische Kühle und Erhabenheit, die Säulen und die Krypta finde ich besonders sehenswert. Foto: Franz Schorr

Der Domschatz spielt in Cécile zwar keine Rolle, ist aber im Preis mit inbegriffen, also wird er auch betrachtet, begeistert haben mich vor allem die Reliquienschreine und ein Alabastergefäß aus Kanaan, welches eines der Gefäße sein soll, in dem Jesus Wasser zu Wein werden ließ, eine Idee, die ich grundsätzlich unterstütze, jedoch bevorzuge ich Weißwein oder Rosé.
Zügig wechseln wir dann über den sonnigen Innenhof zum Schlossmuseum, wo wir, bevor wir uns dem eigentlichen Schloss widmen, erstmal den Kellergewölben aus ottonischer Zeit einen Besuch abstatten. Dort wird endlich das Namenswirrwarr der diversen Mathildes, Ottos und Heinrichs mit Hilfe eines Stammbaums gelöst, sodass wir feststellen, dass Mathilde I. und Mathilde die I. Äbtissin tatsächlich zwei unterschiedliche Frauen waren, nichts desto trotz miteinander verwandt.

Plattburgenbau. Foto und Bau: Franz Schorr

Im Erdgeschoss haben wir uns kurz mit Aufbau und Funktion einer Burg beschäftigt, ich zur Freude aller Anwesenden, vor allem des Aufsichtspersonals sogar noch etwas intensiver, das Ergebnis, naja, sagen wir es so, es hätte seine Funktion nicht lange ausführen können.
Nun aber nach oben in das eigentliche Schloss, ohne Kastellan, dafür ähnlich nichtssagend: Die Räume an sich sind sehr schön, tolle Holzböden, noch schönere Stuckdecken, ein fantastischer Ausblick über die Stadt und sehr entzückende Kachelöfen. Die Einrichtung lässt allerdings zu wünschen übrig und wirkt etwas zusammengeklaubt, sodass ich Céciles Reisegesellschaft ein wenig um ihren charmanten Führer beneide. Eventuell sollte das Museum sich um Fremdenführer mit den Qualitäten des Kastellans bemühen, die den Gästen wortgewandt die verlorenen Preziosen beschreiben und einfach dazu stehen, dass das eigentliche Inventar verkauft wurde, um die Spielschulden von irgendeinem Napoleon zu begleichen. Der Rest der Ausstellung ist sehr sehenswert und informativ; den Gefängniskasten des Regensteiners haben wir auch gleich mit abgearbeitet, der steht jetzt nämlich im Schloss, im Themenbereich Rechtsprechung im Mittelalter. Nachdem wir ähnlich ratlos wie die Reisegesellschaft die Prunkgemächer verlassen haben, beschließen wir, unser etwas verspätetes Mittag im „Schlosskrug“ einzunehmen, toller Ausblick, erfrischendes Lüftchen und leckeres Essen, hier lassen sich die 36 Grad gut aushalten.

Aussicht vom Schlossberg mit erfrischenender Brise. Foto: Franz Schorr

Nach unserer kleinen Stärkung geht es zurück in die Stadt, um noch ein wenig die Zeit totzuschlagen (denn das Rathaus zu besichtigen, wird uns heute nicht gelingen, es hat mittwochs geschlossen, die deutsche Verwaltung braucht auch mal Ruhe vor dem Bürger),
bevor wir uns ein kleines Lokal suchen können, um einen Aperitif zu nehmen und später auch zu Abend zu essen. Für diejenigen Leser, die sich fragen, ob wir eigentlich auch was anderes machen, als permanent Essen zu gehen, so kann ich nur daran erinnern, dass wir uns in einer mittelalterlichen Kleinstadt befinden, in der die Läden um 18:00 Uhr schließen, außerdem wandeln wir auf Céciles Spuren und die Herrschaften kehren gefühlt auch permanent irgendwo ein.
Wir haben uns für das Gasthaus „Zur Goldenen Sonne“ entschieden, dem ältesten noch als Hotel existierenden Gasthaus Quedlinburgs, hier sitzt man recht kühl, der Aperol Spritz schmeckt und die Kellner sind nett. Außerdem schließt sich hier ein weiterer Kreis: Vor drei Jahren war es eigentlich das Hotel, das meine Mutter ursprünglich gebucht hat. In diesem Sinne, „Votre santé, […] wohl bekomm’s [und] [auf euer] Wohl.“

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