Der politische Fontane im Fontane-Archiv

Wer sich am 25. Oktober 2018 zur Abendstunde der Villa Quandt am Potsdamer Pfefferberg näherte, konnte über einen ungewohnten Auto-Fuhrpark staunen. Und wer die Stufen nahm zum Theodor-Fontane-Archiv, das in der Villa seit einigen Jahren seinen noblen Sitz hat, der stand unversehens im Kreis jener, die diese Kraftfahrzeugschau verursachten: Prof. Dr. Iwan D’Aprile (Universität Potsdam), Dr. Jens Bisky (Süddeutsche Zeitung) und Prof. Dr. Peer Trilcke (Theodor-Fontane-Archiv). Die Runde vereinte glimmender Tabakgenuss – und das Thema der unmittelbar bevorstehenden Diskussion. Sie galt dem ‚politischen Fontane‘.  Gastfreundlich der hell erleuchtete Empfangsraum mit kalten Getränken, und nicht minder gastfreundlich die Begrüßung durch Prof. Trilcke, den Leiter der Einrichtung. Er durfte sich über das ‚volle Haus‘ freuen – und freute sich sichtlich.

Jens Bisky u. Iwan D’Aprile, © privat

Die beiden Diskutanten Bisky und D’Aprile hatten eine reizvolle Idee verabredet. Statt angestrengter Referate setzten sie auf pointierte Thesen – und die lauteten so:

„Dr. Jens Bisky

  1. Fontane war Künstler. Mit Ausnahme des Revolutionsjahres 1848/49, in dem er in die Rolle eines Aktivisten schlüpfte, war das Politische für ihn in erster Linie Material.
  2. Die politischen Meinungen und Urteile, die er äußerte oder seinen Figuren in den Mund legte, folgten oft nicht-politischen Kriterien, vielmehr  ästhetischen oder moralischen.
  3. Fontane betrieb in vielen Werken etwas, was wir heute Erinnerungs- oder Geschichtspolitik nennen würden. Die größte Wirkung entfaltete die Fontanesche Poetisierung des Vergangenen posthum.
  4. Fontane war ein Opportunist, aber einer mit Grundsätzen. So rasant die Welt zu Fontanes Lebzeiten sich wandelte, er blieb vielen Motiven über die Jahrzehnte treu. Beispiele: Alte-Fritz-Verherrlichung, die Verachtung für alles Bourgeoise.
  5. Der politische Fontane, das war der Journalist in Regierungsdiensten. Und ausgerechnet dort erwarb er die Weltläufigkeit und das Verständnis für unterschiedliche Perspektiven, die Voraussetzung für seine großen Gesellschaftsromane wurden.

Prof. Dr. Iwan D‘Aprile

  1. Fontane war lebenslang ein genauer politischer Beobachter, Sammler, Versprachlicher politischer Diskurse, Stimmen(wieder)geber des Vielen. Auch wenn seine politischen Äußerungen an analytischer Schärfe weit hinter Zeitgenossen (wie z.B. Karl Marx oder Lothar Bucher) zurückbleiben, wird der Literat Fontane ohne das Politische nicht verständlich.
  2. Fontanes Stärken und Schwächen beruhen darauf, dass Ästhetik, Moral und Politik bei ihm nicht trennbar sind: er ästhetisiert und poetisiert in seinen politischen Korrespondenzen und er schreibt politische Romane. Zugegeben wird, dass letzteres besser gelingt als ersteres. Ästhet oder Moralist war er nie.
  3. Historisches war im 19. Jahrhundert ein Riesenmarkt. Es gab keine „historistischere“ Epoche in der deutschen Geschichte (ausgenommen nur unsere heutige Gegenwart in Potsdam). Innerhalb der vielen Spielarten des Historismus seiner Zeit ist Fontanes Erinnerungs- und Geschichtspolitik als politische Zeitkritik zu verstehen.
  4. Es gibt bei allen Brüchen und Positionswechseln in Fontanes Biographie auch Kontinuitäten. Aber die Frage wäre, welche dies sind: welcher „alte Fritz“? welche anderen durchgehenden „Helden“/Anti-Helden?/Positionen? Von welchem Standpunkt aus und mit welcher Stoßrichtung wird Bourgeoisie-Kritik geübt oder der Adel poetisiert?
  5. Zwar stehen alle öffentlichen politischen Äußerungen Fontanes zwischen 1850 und 1876 (und auch darüber hinaus) unter Regierungsvorbehalt, aber der politische Fontane geht darin nicht auf. Dass diese Berufstätigkeit für ihn zur Schule der Welt wurde, ist nicht zuerst der Propagandatätigkeit zu danken, sondern seinem eigensinnigen Umgang damit.“

Und damit der Autor, der da politisch aus- und abgewogen werden sollte, nicht stumm einer möglichen Diskutanten-Willkür ausgeliefert war, lieh Tabea Klaus (studentische Mitarbeiterin im Archiv) Fontane ihre Stimme und trug eine mit leichter Hand gemischte Textauswahl vor. Ein so eingerichteter Abend konnte nicht misslingen: und er misslang nicht.

Bisky wie D’Aprile erwiesen sich als unbedingt anregende Diskutanten – der eine, mit frischer Intelligenz, begabt, Sachverhalte auf den Punkt zu bringen, ohne auch nur einen Augenblick in die dubiose Rolle eines Eiferers zu geraten, der andere, noch ganz in der Welt, die ihn gerade eine Fontane-Biographie hatte schreiben lassen und ausgerüstet mit vielgestaltigem Wissen und Wissenswertem. Wer zuhörte, hatte sein lehrreiches Vergnügen, und bemerkte kaum, wie sich das Polarisierende in den Thesen sanft verlor – oder doch seine vordergründige Wichtigkeit einbüßte. Begünstigt wurde dies durch eine kleine Kühnheit, deren Wagnis aufging. Man biss sich zu Beginn nicht fest an einer Definition des Politischen. Was ein akademisches Seminar unbedingt erfordert hätte, es vertrug die Vernachlässigung, die es hier im entspannten Rahmen erfuhr. Gewinnbringender als die kompakte Entfaltung unterschiedlicher Diskurse des Politischen im 19. Jahrhundert und in Preußen und im Fontane’schen Lebensraum war der Schwebezustand, in dem man diese Begrifflichkeit beließ. Die Kontrahenten nahmen zu keinem Zeitpunkt Kampfstellung ein, sie hatten an einander Spaß und hörten sich ebenso gerne zu wie das Auditorium ihnen. So dominierte das immer wieder Erstaunliche, was alles in ein Schriftstellerleben passt – und vor allem in das von Theodor Fontane. Weder Bisky noch D’Aprile quälte, was jahrzehntelang qualvoll die Forschungsdebatte um Fontanes politische Kurs- und Frontenwechsel geprägt hatte. Den „Opportunisten“ Fontane sah Bisky durchaus als Typus seiner Zeit, und D’Aprile riet das kritische „Soll“ und „Haben“ den verführerischen Gesinnungsnoten vorzuziehen. Alles bedenkenswert.

Der Blick auf Fontanes Werk signalisierte dabei gemeinsame Schnittmengen wie Differenzen. Gelten ließ man, vielleicht aus abweichenden Gründen, den Altersroman Der Stechlin (wer lässt ihn nicht gelten), aber bei den im strengeren Sinne pro-preußischen Büchern und Texten waren die Urteils- und Geschmacksabstände nicht zu überhören. Wo D’Aprile  behutsam den Kopf über die Balladen auf die preußischen Generäle schüttelte (vorgetragen zuerst im literarischen Verein Tunnel über der Spree, dann gedruckt im Soldatenfreund, aber auch in Cottas Morgenblatt), feierte Bisky heiter deren Format.

Hier hätte es weitergehen können – aber die Zeit war abgelaufen. Täuscht nicht alles, hatte sich am Ende D’Aprile ein wenig Bisky angenähert. Doch darauf kam es kaum an. Nicht der Streit und sein Sieger galten, sondern das fortzuführende Interesse am Gegenstand selbst: an den politischen Verankerungen Fontanes im Wechselspiel seines Schreiblebens. So blitzten in der kurzen Diskussion am Schluss noch Fragen zum „vaterländischen Schriftsteller“ auf (ein Schlüsselbegriff für den sogenannten mittleren, politischen Fontane)1, zur vormärzlichen Polendichtung und zum Verhältnis seiner antijüdischen Äußerungen (beinahe ausschließlich beschränkt auf die Korrespondenz mit wenigen Briefpartnern) zum Profil politischer Verortung. Peer Trilcke, sofort an Ort und Stelle, wusste: Das ist ein neuer Abend! Er lud – den Gästen auf dem Podium und im Auditorium herzlich dankend – zum Nachgespräch bei Wein, Wasser, Saft und Salzgebäck ins kleine Foyer ein. Von dort war bald aufgeräumtes Stimmengewirr zu hören. Und wer denn endlich doch dem Ausgang zustrebte, der stieß auf jene Schar, die ihn zwei Stunden zuvor als  kleines Tabakskollegium begrüßt hatte und nun entspannt den blauen Dunst in den Nachthimmel blies. Es gibt Momente, da möchte man (wieder) zum Raucher werden …

1 Vgl. Peter Wruck: Theodor Fontane in der Rolle des vaterländischen Schriftstellers. Bemerkungen zum schriftstellerischen Sozialverhalten. In: Fontane Blätter. Bd. 6, Heft 6. Potsdam 1987, S. 644-667.

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