In England gab es in der Schule keine Fontane-Romane. Vermutlich sind die Bücher, die man in jedem Land als Schüler liest, vor allem die Klassiker des jeweiligen Landes oder zumindest die, die in der Landessprache geschrieben wurden. Dementsprechend wurden uns im Englischunterricht Romane von Dickens, Stücke von Shakespeare und Gedichte von Robert Browning, Sylvia Plath und Seamus Heaney gegeben. Bei den Fremdsprachen ging es geographisch etwas weiter, in die Schweiz oder nach Sankt Petersburg zum Beispiel. Aber eher als Kurzausflüge: Wir blieben hauptsächlich auf der Insel verankert.
Das erste Mal, dass ich den Namen Fontane gesehen haben muss, war auf der Leseliste im ersten Semester an der Universität. Introduction to German Literature. Neben schon bekannten Namen, wie Goethe und Kafka, stand im Abschnitt Prosa ein anderes Buch, von dem ich überhaupt noch nie etwas gehört hatte: Theodor Fontane, Effi Briest. Ich weiß nicht mehr, was meine erste Reaktion war. Es gab schließlich auf den nächsten Zeilen noch weitere unbekannte Autoren. Wenn ich mich irgendetwas gefragt habe, war es vielleicht, ob Fontane ein deutscher Name war.
Ich erinnere mich aber ganz genau, als ich zum ersten Mal das Buch aufschlug. Es muss Ende Oktober oder Anfang November gewesen sein, es war auf jeden Fall etwas zu kalt und viel zu windig, um draußen auf der King’s Parade mit dem Lesen wirklich anfangen zu können. Ich musste aber einen Essay schreiben.
Effi Briest. Theodor Fontane. Seite 1. Ich freute mich, endlich einen deutschen Roman aus dem 19. Jahrhundert zu lesen.
In Front …
Da musste ich zum Wörterbuch greifen. Es sieht wie front aus, aber besser mal nachschlagen, es kann immer ein falscher Freund sein. Also, doch front.
… des …
Das wusste ich! Genitiv-Singular des Maskulinums oder Neutrums. Ich musste nur das Substantiv finden. Ich suchte und suchte, fand es aber nicht. Also den ganzen Satz lesen und danach ausarbeiten.
… schon seit Kurfürst Georg Wilhelm von der Familie von Briest bewohnten Herrenhauses …
Wenn es Namen waren, verstand ich die Wörter, den Satzbau aber nicht. Und da! Herrenhauses! Der Genitiv, aber wie kommt es, dass so viele Wörter dazwischen passen? Darf man das?
… zu Hohen-Cremmen fiel …
Als ich endlich das Verb fand, wurde mir klar, dass ich dringend Hilfe brauchte. Ich bin gleich zur Buchhandlung gegangen, um eine Übersetzung zu finden.
Das mag wie eine Beschwerde erscheinen, ist es aber nicht. Manchmal, wenn man liest, ist der Einstieg verwirrend; mit jeder Seite wird die Lektüre nach und nach angenehmer. Man lernt, sich an die Schreibweise zu gewöhnen, und auch wenn es nicht gerade fließend wird, stockt die Lektüre nach und nach weniger. Als ich diese Woche und Jahre danach Effi Briest wieder aufschlug, fiel es mir auch schwer nachzuvollziehen, mit genau welchen Worten ich so viele Schwierigkeiten hatte. Wusste ich, was ein „Kurfürst“ war? Hatte ich erkannt, das „fiel“ Präteritum von „fallen“ war? Aber heute, mit dem deutschen Satzrhythmus sowieso vertrauter, kann ich zumindest den ersten Satz zu Ende lesen, ohne zu stolpern.
Auf jeden Fall hatte die Übersetzung mir damals unglaublich viel geholfen. Die, die ich gefunden habe, war die 1967 herausgegebene und erste englische Übersetzung von Douglas Parmée, der jahrelang ein paar hundert Meter vom King’s Parade unterrichtete. Ich weiß aber nicht, warum es 70 Jahre dauerte, bis das Buch auf Englisch erschienen ist: Es mag sein, dass die englischen Verlage sich auf einen anderen Stoff konzentrierten oder andere Vorstellungen der deutschen Literatur hatten, dass politische Spannungen zwischen Großbritannien und dem Deutschen Kaiserreich die Rezeption ungünstig machten, oder dass man damals daran gewöhnt war, Romane im Original zu lesen. Tatsache ist jedoch, dass Leser anderer Sprachen auch lange warten mussten: Die ersten Übersetzungen ins Spanische und Italienische erschienen in den 1940er Jahren und eine französische Effi wurde erst 1957 herausgegeben. Das bedeutet nicht, dass der Roman keine Aufmerksamkeit genoss. Samuel Beckett hatte nämlich schon vor Veröffentlichung der französischen Übersetzung den Roman als „moving and beautiful“ bezeichnet und auch bei der vierten Lektüre an den gleichen Stellen geweint. Hat er vielleicht das Buch im Original gelesen?
Heutzutage aber hat der englischsprachige Leser zur Auswahl sogar drei Übersetzungen: die von Parmée, eine von Hugh Rorrison und Helen Chambers (1995) und die neueste von Mike Mitchell (2015). Die Lage hat sich deutlich gebessert.
Ich erinnere mich nicht mehr, worüber ich den Essay geschrieben habe, aber mit Effi Briest ist auch für jemanden, der sich mit Literaturwissenschaften beschäftigt, etwas Seltenes passiert. Die englische Übersetzung, die ich etwas beschämt kaufen musste, ist nicht nach dem Studium im Regal ungelesen stehengeblieben. Meine Mutter hat sich dafür interessiert und hat es auch gelesen. Als ich sie diese Woche fragte, ob sie sich noch daran erinnerte, dachte sie gleich an die Traurigkeit, die Langeweile der Küste, an die Züge und auch, dass sie mehr Mitgefühl mit Effi als mit Emma Bovary fühlte. Es ist höchste Zeit, die Sprachqual zu vergessen und das Buch wieder zu lesen.
Was für ein wunderbarer Beitrag! ❤️