Plagiatsvorwurf!

Ein Name und seine Herkunft

„[…] Aber da erbarmte sich Gott unserer Not, und das ist denn nun die Geschichte von Kajarnak, die ich, wenn du noch Geduld hast, wohl erzählen möchte.“ – „Was ist Kajarnak?“ – „Ein Name. Der Name eines Grönländers aus dem Süden.“[1]

So wird die Figur Kajarnak in Theodor Fontanes erstem Roman Vor dem Sturm von 1878 eingeführt – lediglich ein Gespräch der Tante Schorlemmer mit Renate von Vitzewitz beleuchtet den im Süden Grönlands lebenden Nordländer.

Theodor Fontane: Vor dem Sturm. Titelseite der 15. und 16. Auflage. Stuttgart, Berlin: Cotta 1913

Dass ihm für derartige Passivität sogar ein eigenes Kapitel gewidmet wird, mutet beim Überfliegen des Inhaltsverzeichnisses sonderbar an. Beim Lesen allerdings entpuppt sich die Geschichte über den erleuchteten Eskimo als Sinnbild, fast schon als Analogie. Die Aufklärung, wie dieser Grönländer seinen Weg in Fontanes historischen Roman über die Befreiungskriege geschafft hat und weshalb ihm ein eigener Abschnitt zukommt, gibt jedoch ein anderer Schriftsteller, der derselben Mutmaßung anheimgefallen war.

Arno Schmidt, 1914 geboren und 1979 verstorben, bekannt als Krittler der großen Autoren des neunzehnten Jahrhunderts und Befürworter der weniger berühmten, gehörte zu den prominentesten Schriftstellern des zwanzigsten Jahrhunderts. Er fand vor allem mit seinen experimentellen Erzählungen und zahlreichen Übersetzungen aus dem Englischen in der deutschen Literaturlandschaft Beachtung.

Genau ebenjener widmete sich in einem kleinen Essay von 1954, überschrieben mit „Fontane und der Eskimo“, Fontanes Roman und dem darin vorkommenden „Kajarnak“. Seine Feststellung:  „Ein Blitzkerl, dieser Fontane! Was der für eine Phantasie gehabt haben muß! – Nun ist aber leider im Jahre 1765 ein über 1100 Seiten umfassendes Büchlein in Kleinoktav erschienen: ‚David Cranz: Historie von Grönland‘, […]“[2] Sein daraus resultierendes Fazit: Plagiat!

Der Beleg

Um den Vorwurf Schmidts eindeutig darzulegen hier ein Auszug aus David Crantz Chronik von 1765:

Am 2. Jun (**) besuchten uns viele von den vorbeiziehenden Südländern. Johann Bek schrieb eben etwas aus der Uebersetzung der Evangelisten ins Reine. Die Heiden wollten wissen, was in dem Buch enthalten wäre. […] Er las ihnen dabei aus dem Neuen Testament die Geschichte von des Heilands Leiden am Oelberg und seinem blutigen Schweisse vor. Da that der Herr einem, Namens Kajarnak, das Herz auf, der trat zum Tisch und sagte mit einer lauten beweglichen Stimme: „Wie war das? Sage mir das noch einmal, denn ich möchte auch gern selig werden.“[3]

David Crantz: Historie von Grönland

Und hier das Pendant aus Fontanes Roman:

„[…] Und so kam dann, auf einem solchen Jagd- und Wanderzug, ein südländischer Trupp in unsere Kolonie, um einen Tag oder eine Woche unter uns zu rasten. Es waren hunderte oder mehr. Wir hießen sie willkommen, und Matthäus Stach, […], ließ bei ihnen anfragen, ob sie an einer unserer Missionsstunden teilnehmen wollten. […] Matthäus Stach las ihnen ein Kapitel aus dem Evangelium Johannis vor, das er kurz vorher ins Grönländische übersetzt hatte. […] Und nun begann er zu ihnen vom Sündenfall und von der Erlösung zu sprechen. […] Da tat der Herr einem unter ihnen das Herz auf, […] und als er [Matthäus Stach] eben Christi Leiden am Ölberg geschildert hatte, da trat ein Grönländer an den Tisch und sagte mit lauter und bewegter Stimme, in der schon das Heil zitterte: ‚Wie war das? Ich will das noch einmal hören.'“[4]

Auffallend, wie Arno Schmidt fand, schleichen sich fast wortwörtlich Passagen von Crantz in Fontanes Text. Dass jener aus dem Missionar Johann Bek den Missionar Matthäus Stach macht, diene dabei lediglich der Verschleierung der eigentlichen Herkunft des Stoffes. Und so resümiert Schmidt am Ende seines Essays süffisant: „Scheinbar hat Fontane angenommen, daß er der letzte Lebende sei, der die olle ehrliche Brüderchronik aufschlagen würde.“[5]

Der Schmidt und sein Fontane

Mit diesem eindeutigen Plagiatsvorwurf sieht sich Theodor Fontane seit den vergangenen fünfzig Jahren – und darüber hinaus den Rest seines Todes konfrontiert. Im nächsten Jahr sollte der polemische Seitenhieb des großen Grantlers Arno Schmidt eine gewichtige Rolle in die Feierei zum 200. Geburtstags Fontanes einnehmen.

Arno Schmidt Bibliothek, Foto: Arno Schmidt Stiftung

Doch genug der Ironie …

Denn Johann Wolfgang Goethe steht trotz dezidierter Angriffe Schmidts noch unangefochten an der Spitze des Literaturkanons. Auch Adalbert Stifters Der Nachsommer gehört weiterhin zu den bedeutendsten Romanen des 19. Jahrhunderts, obwohl ihn Schmidt in einem seiner genialen, fingierten Dialoge verriss. Und letztendlich erinnert sich heute kaum jemand an Friedrich de la Motte Fouqué, den Schmidt mit seinen Beweihräucherungen in den Literaturolymp hob.

Bemerkenswert bei all diesen Auseinandersetzungen, die Arno Schmidt im Geiste mit den Federführern zur Zeit Goethes, Hoffmanns, Stifters ausfocht, ist, dass Fontane nur eine kleine, eine bloße Randrolle darin einnimmt. Der Essay über den Eskimo „Kajarnak“ ist dabei auch der einzige ihm gewidmete Text. Und selbst in Arno Schmidts Bibliothek, verwaltet und gehütet von der Arno Schmidt Stiftung, finden sich lediglich sechs Bändchen von Fontane.

Es scheint, als wolle Schmidt Fontane ausweichen, oder hat er über ihn nicht mehr zu sagen? Mutmaßungen, die sich weder verifizieren, noch falsifizieren lassen. Festzuhalten bleibt, dass der von 1958 bis zu seinem Tode in der Abgelegenheit von Bargfeld wohnende Schmidt nicht

Arno Schmidt Fontane Bücher, Foto: Arno Schmidt Stiftung

mehr über Fontane zu sagen oder mit ihm zu besprechen hatte. Und auch seinen Essay begann Schmidt erst mit einem Tiefschlag im Stile schöpfender Besen in Richtung Altmeister Goethe, ehe er sich Fontane vorknöpfte.

Mehr als das bereits Gesagte und die Auszeichnung mit dem Fontane-Preis (1964) scheint Schmidt nicht mit Fontane zu verbinden. Dass er zudem kein Freund von Vor dem Sturm war, zeigt abschließend dieser Rundumschlag:

Unlängst danach nun – oh, es ist lange her: so um 1880 – gab Theodor Fontane, stets geschickt die Konjunkturen nützend, seinen „großen“, d. h. umfangreichen nationalen Roman „Vor dem Sturm“ heraus. Ich habe mich bei der Lektüre nie des Eindrucks erwehren können, daß es sich hier ursprünglich um einen neuen Band der „Wanderungen“ handeln sollte; so sehr sind märkische Historien, Auszüge aus Kirchenbüchern, und Anekdoten aneinandergeleimt. Schlimmer als das : der Kenner älterer Literatur stößt auf Schritt und Tritt erbittert auf Geschichtchen und Novellen, die er längst bei Krug von Nidda oder Fouque vorher gelesen hat![6]

 

Einen herzlichen Dank an die Arno Schmidt Stiftung in Bargfeld!

 

[1] Theodor Fontane: Sämtliche Werke. Hg. von Edgar Gross. Bd. 1: Vor dem Sturm. München: Nymphenburger 1959, S. 227.

[2] Arno Schmidt: „Fontane und der Eskimo.“ Hg. von der Arno Schmidt Stiftung. Bargfelder Ausgabe, Werkgruppe III, Essays und Biographisches. Bd. 3: Essays und Aufsätze 1. Zürich: Haffmans 1995, S. 158.

[3] David Cranz: Historie von Grönland, S. 490-491.

[4] Fontane: Vor dem Sturm, S. 228.

[5] Schmidt: „Fontane und der Eskimo“, S. 159.

[6] ebd., S. 157.

One comment

  1. Bonaventura says:

    Schmidt selbst hat ja umfangreich so gearbeitet. Seine Empörung ist nicht mehr als gespielt und auf den Verkauf seines Textes an Zeitungen getrimmt. Das ganze nimmt man am Besten nicht so ernst.

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