„Eine Weiße, einen Gilka und Borré“ – Am Zoologischen

Ich biege vom Kurfürstendamm links ab, an der Gedächtniskirche vorbei, Richtung Budapester Straße. „Where is the Apple-Store?“ ist eine häufig gestellte Frage. Ich deute den Ku’Damm hinunter, lächle und gehe weiter. Die Menschenmassen nehme ich nicht mehr wahr. An jeder Ecke lauern narrative Fäden, fiktive Figuren – wie alte Bekannte – die sich wohltuend mit meinem Märztag verbinden. Der Kurfürstendamm und die Umgebung vom Zoologischen Garten sind zweifelsohne beliebte literarische Topoi. Gibt es  einen Berliner Großstadtroman, in dem diese Orte keine Erwähnung finden?  Auch Fontane siedelte die Handlung von Irrungen, Wirrungen  hier an, vor den Goldenen Zwanzigern, kurz bevor der Zoo Gesellschaft vom Bahnhof bekam:

Bahnhof Zoologischer Garten in Charlottenburg – mit Blick auf die Gedächtniskirche

An dem Schnittpunkte von Kurfürstendamm und Kurfürstenstraße, schräg gegenüber dem‚ Zoologischen‘, befand sich in der Mitte der siebziger Jahre noch eine große, feldeinwärts sich erstreckende Gärtnerei, deren kleines, dreifenstriges, in einem Vorgärtchen um etwa hundert Schritte rückgelegenes Wohnhaus, trotz aller Kleinheit und Zurückgezogenheit, von der vorübergehenden Straße her sehr wohl erkannt werden konnte.

Eingang Zoologischer Garten Berlin

Der Anfang der leitmotivisch durchkomponierten ersten Seite der „Berliner Alltagsgeschichte“ lokalisiert den Schauplatz des Geschehens – die Gärtnerei Dörrs. Ein Schwellenzustand – halb fiktiv, halb real, greifbar und auch wieder nicht. Der Schnittpunkt lässt sich an der heutigen Budapester Straße anordnen, genau dort soll es tatsächlich eine Gärtnerei im 19. Jahrhundert gegeben haben. Fontanes erdachte Gärtnerei mit Treibhäusern und dem vermieteten Wohnhaus, das partout kein Schloss sein will, ist einer meiner favorisierten „Fontane-Orte“.

Ich gehe am Eingang des Zoos – der mit den Tieren – vorbei.  Fröstelnd beiße ich in eine Falafel, betrachte die Einkaufstüten, Selfiesticks und die Schlange wartender Zoobesucher. Hinter mir liefern sich Busse und Taxen ein Wettrennen. Nichts erinnert daran, dass dies mal die ländliche Peripherie Berlins war. Die gesamte Umgebung scheint konträr zur Fontanischen Schilderung zu stehen:

In diesen [Treibhäusern] verbrachten alle drei Dörrs die Zeit von November bis März ausschließlich, aber auch in der besseren und sogar in der heißen Jahreszeit spielte sich das Leben der Familie, wenn man nicht gerade vor der Sonne Zuflucht suchte, zu großem Teile vor und in diesen Treibhäusern ab, weil hier alles am bequemsten lag: hier standen die Treppchen und Estraden […], hier war der Stall mit Kuh und Ziege, hier die Hütte mit dem Ziehund, und von hier erstreckte sich auch das wohl fünfzig Schritte lange Doppelmistbeet, mit einem schmalen Gange dazwischen, bis an den großen, weiter zurückgelegenen Gemüsegarten.

Fontanes Zeichnung der Gärtnerei Dörrs

Die Gärtnerei, nicht wie der Zoologische repräsentativ und öffentlich zugänglich, ist ein privater Raum, in dem die Zeit langsamer oder gar nicht vergeht. Friedlich, märchenhaft, genügsam. Die Sphäre des Kleinbürgertums zieht den Offizier Botho von Rienäcker an, scheint entgegensetzt zu seiner Lebenswirklichkeit und gesellschaftlichen Verpflichtungen zu stehen. Dieses Refugium ist der Schnittpunkt im Leben von Lene, die mit ihrer Ziehmutter zur Miete bei den Dörrs wohnt und Botho. Ihre Lebenswege kreuzen sich flüchtig, um danach wieder auseinander zu streben – denn Lene ist keine Prinzessin und „Gideon ist besser als Botho“… Die zum Scheitern verurteilte Liebesgeschichte ist wohl der Hauptplot des Romans, doch ebenso sehr wie auf Lene sollte man sich auf den Gärtner Dörr freuen. Er ist eine Nebenfigur, ein Kuriosum, ein mir „alter Bekannter“, der mich an der Budapester Straße entlang verschmitzt zu beobachten scheint.

Fontane zeichnete eine detaillierte Skizze seiner erdachten Gärtnerei. Akribisch, realitätsnah wird die Umgebung und die Atmosphäre beschrieben. Der Nachbarshund wird verjagt, es wird Spargel gebunden, der Porree wächst. Apfelwein schmeckt, Erdbeeren mit saurer Milch werden vor jeglichem Hummer präferiert. Der Gärtner Dörr hat „keinen Sinn für Ordnung, […] aber eine große Hühnerpassion“. Er hält „das Gewöhnlichste gleich für das Vorteilhafteste“ und ist der Meinung, dass richtige Berliner genau drei Dinge benötigen: „eine Weiße, einen Gilka und Borré“. Also Bier, Kümmelbrandwein und Porree – was denn auch sonst?! „Mager, mittelgroß und mit fünf grauen Haarsträhnen“, gibt ihm eine an der „linke[n] Schläfe sitzende braune Pocke etwas Apartes“. 

Die Transkription nach G.H.Hertling

Die liebevoll zur Originalität gezeichneten Nebenfiguren erinnern mich immer an Dickens’ Charaktere – skurril und irgendwie liebenswert – wie die Miss Betsy Trotwood. Die sorgsame Dosierung von Humor, Menschenkenntnis und Liebe zum Detail ist beiden Autoren eigen. Vor allem durch diese wunderbare Gestaltung der Nebenfiguren, ist mir das Lesen und Wiederlesen ein stetiges Vergnügen. Denn manchmal, ja manchmal ist das Nebensächliche die Hauptsache, – eine Einsicht, an der bei einer Fontane-Lektüre einfach nicht herumzukommen ist. So lassen sich die einführenden Seiten von Irrungen, Wirrungen nicht ohne ein zufriedenes Schmunzeln und tiefes Verlangen nach Gemüse lesen. Das Kuriose und Wunderbare des Alltags macht einen der vielen Reize des Textes aus. Wo wird sonst so herrlich über Spargelbruch geredet?

Da, Lene, das gibt ´ne Spargelsuppe. Un is so gut wie das andere. Denn daß es immer die Köppe sein müssen, is ja dummes Zeug. Ebenso wie mit´n Blumenkohl; immer Blume, Blume, die reine Einbildung. Der Strunk is eigentlich das Beste, da sitzt die Kraft drin. Und die Kraft is immer die Hauptsache.

Meine Falafel sind aufgegessen. Ich stelle mir vor, wie Herr Dörr mir verabschiedend zuwinkt und – freudig einem Huhn hinterherlaufend  – an der nächsten Straßenecke mein Sichtfeld verlässt. Es dämmert,  niemand schenkt mir einen Gilka ein. Spargelsuppe und Dörrsche Ruhe gibt es auch nicht. Ich gehe zurück zur U-Bahn. Vielleicht kaufe ich mir noch ein paar Stangen Porree und Blumenkohl mit Strunk.

 

Zitiert wurde nach Theodor Fontane: Irrungen, Wirrungen. Roman. Mit einem Nachwort neu herausgegeben von Helmuth Nürnberger. München: dtv 2017.

Die Abbildung der Zeichnung Fontanes wurde entnommen aus: G.H. Hertling: Theodor Fontanes Irrungen, Wirrungen. Die ‘Erste Seite‘ als Schlüssel zum Werk. New York u.a.: Peter Lang 1985.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert