Lieber Mohn statt Quark!

Eine kleinen Antwort auf einen noch kleineren Text, der ungenannt bleibt…

Ein rauer Morgen und einige graue Wolken paaren sich mit einer überfüllten Tram und den Vorahnungen zu meiner kommenden Überlandfahrt. Pessimistisch verfalle ich ins Grübeln über die Risiken einer solchen Fahrt – vorprogrammierte Verspätungen, dichtgedrängte Menschenmassen und Zugunglücke…Moment, war es nicht Fontane, der ein paar Versfetzen über einen Zug und eine einstürzende Brücke verfasste?

Auf der Norderseite, das Brückenhaus –
alle Fenster sehen nach Süden aus,
und die Brücknersleut‘ ohne Rast und Ruh
und in Bangen sehen nach Süden zu;

Nun falle ich tief in das Pessimismus-Fass und wünsche mir die gräulichen Wölckchen zurück.

Während ich die Friedrichstraße passiere, gehen die Straßenlaternen aus, die ersten Geschäftslichter an und mir quillt eine Versformel in den Kopf: „Ich muss einrichten, dass mir das Ziel entgegen kommt.“ Von Fontane ist das aber nicht, glaube ich. Wo ich die Formel gelesen habe, ist mir aber entfallen und nun plagt mich neben der Überlandbahn mein verflixtes Gedächtnis. „Immer nur die nächste Begeisterung im Sinn“, sagen meine Gedanken. Recht haben sie. Doch hat auch der unbekannte Versmagier Recht? Wie kann ich seine Formel auf mein Problem mit der Antipathie gegen das Überlandbahnfahren anwenden? Wie kann ich einrichten, dass mein Ziel mir entgegen kommt?

denn wütender wurde der Winde Spiel,
und jetzt, als ob Feuer vom Himmel fiel,
erglüht es in niederschießender Pracht
überm Wasser unten… Und wieder ist Nacht.

Aus ganz pragmatischer Sicht wäre es das Sinnvollste, wenn mein Ziel anstelle meiner die Überlandfahrt absolvieren würde. Jedoch ist mein Ziel das größte Literaturarchiv Deutschlands. Die Wolken verfinstern sich zunehmend. Ich vermeide es eine Wechselwirkung zwischen ihnen und meinem Pessimismus abzuleiten. Also subtiler: Wenn weder ich noch das Literaturarchiv eine Überlandfahrt bewältigen können, dann sollte ich einfach auf ein anderes Verkehrsmittel umsteigen – Flugzeug, Bus, Fahrrad oder die guten alten Füße. Die Möglichkeiten sind unbegrenzt, zerbröseln aber in dem Augenblick, als ich mir meines bereits georderten Bahntickets bewusst werde. Auf diese Dummheit ließe sich vielerlei erwidern und ich gebe es zu, alle Widersprüche sind begründet, ändern aber nichts an meiner Lage.

„Hei!
Wie Splitter brach das Gebälk entzwei.“
„Tand, Tand
ist das Gebilde von Menschenhand.“

Resignation, kein Fontane-Wort, befällt mich. Diese lausige Formel! Wieso kann sie mir nicht helfen? Womöglich will ich auch gar nicht, dass sie mir hilft. Die drei Fontanischen Hexen flüstern mir ins Ohr, der Himmel verdunkelt sich zunehmend und ich begrüße die neben mir aufleuchtende Schrift einer Bäckerei. Es ist 6:18 – beste Gebäckzeit! Ich trotte zur Auslage und lächle die grinsenden und frischen Semmeln, Croissants, Apfelkuchen, Quarktaschen und Mohnschnecken an. Wohlig warmer Geruch wandelt meinen Pessimismus in optimistischen Realismus. Manchmal muss man halt seinen Zielen entgegenkommen, um die Furcht überwinden zu lernen. Einrichten kann man dabei auch genug. Für die Entscheidung, was ich nehme, brauche ich keine drei Sekunden: Mohnschnecken.

Und Fontane sieht es wohl ähnlich, wenn ich mir den Brief an seine Tochter vom 17. Mai 1889 vergegenwärtige:

Die Gleichgültigkeit der Menschen gegen Poetereien übersteigt alles Maß und es ist mir ein Beweis meines natürlichen Angewiesen- und Eingeschworenseins auf diese Dinge, daß ich, trotz der klaren und niederdrückenden Erkenntniß von dem Nichts dieser Beschäftigung, doch dabei ausharre, einfach weil ich nicht anders kann. Aber Bäcker Thier an der Ecke, mit seinen 2 blonden Mamsells, die Mohn- und Quarkkuchen verkaufen, ist besser dran. Sonderbar, daß ich im Drauflosschreiben grade Mohn und Quark ‘rausgegriffen habe; dazu bringt man‘s genau auch; bei den meisten Kollegen prävalirt Quark, bei mir Mohn.

Letztlich bleibt nur zu wiederholen…“Hei! Wie splittert das Gebäck!“

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