Fontane und die Musik

Ein Vorurteil über Theodor Fontane hält sich hartnäckig. Er war unmusikalisch. Zwar wurde bereits 1990 in der Arbeit „Fontane und die ‚tonangebende Kunst'“[1] das Verhältnis des Autors zur Musik erstmals aufgegriffen, eine vertiefte Beschäftigung mit den vielfältigen Facetten (Musik in Fontanes Texten – Prosa, Lyrik, Journalismus, Musik in Fontanes Privatleben, Fontanes Verhältnis zu R. Wagner, usw.) dieser umfassenden Fragestellung fand jedoch nicht statt. Was soll Theodor Fontane, das literarische Gedächtnis des alten Preußen und der größte deutschsprachige Romancier des 19. Jahrhunderts bitteschön mit der unkonkreten Sphäre der Musik zu tun haben? Bezeichnete er sich nicht schließlich selbst als unmusikalisch? Eine Bayreuther Parsifal-Aufführung verließ er fluchtartig, ein Instrument spielte er nicht und der literarische Realismus, mit dem er die gesellschaftlichen Dissonanzen seiner Zeit feinsinnig und hintergründig analyiserte, passte so gar nicht zur emotionsbesessenen, fiebrigen und übersteigerten Musik der gleichen Epoche, der Romantik. Fast entsteht der Eindruck, Fontane setze mit seinem rationalen Werkzeug, dem Wort, ein Gegengewicht zur im Mannschen Sinne dämonischen Sprache der Musik.

Und doch gibt es die andere und durchaus musikalische Seite des Autors. Die Bezüge in Fontanes Werk und Leben zur Welt der Musik sind in der Tat vielfältig und multidimensional. Ein paar Beispiele: Das Musizieren und Veranstalten musikalischer Soireen, der Opern- und Konzertbesuch sind im Haushalt der Fontanes üblich. Fontanes Tochter Martha spielt Klavier. Im Berlin der Kaiserzeit ist Hausmusik generell eine so verbreitete Beschäftigung wie die bei Fontane gleichfalls beliebte Landpartie und wird von ihm in seinen Büchern oft beschrieben. Als Theaterkritiker der Vossischen Zeitung erlebt Fontane im Berliner Schauspielhaus die Vertonungen der Premieren von Goethe-, Schiller- und Shakespeareinszenierungen und kennt die Werke Mendelssohns, Webers und Mozarts, denn diese Komponisten stehen als Schauspielmusiken regelmäßig auf dem Programm. Sein berühmter Reisezyklus, die Wanderungen durch die Mark Brandenburg und sein lyrisches Werk beziehen sich immer wieder auf Konzerte oder Musiker. Und in seinen Romanen verwendet Fontane Nebenfiguren mit musikalischen Hintergründen zur Charakterisierung der Protagonisten. Betrachtet man das literarische Werk ganz allgemein unter dem Blickwinkel des stilistischen Einsatzes musikalischer Referenzen zur subtilen Illustrierung spezifischer Aspekte der Narration, so erweist sich Fontane nicht derartig musikabgewandt, wie es zunächst erscheint.

Statue von Felix Mendelssohn in Leipzig, Dittrichring – Urheber: jaime.silva (CC BY-NC-ND 2.0)

Im Gegenteil: Wenn bei Fontane nichts zufällig, sondern alles bedeutend ist, so geht es auch in seinen Musikszenen nicht um atmosphärisches Timbre, sondern um erzählerische Elemente mit Symbolcharakter. Fontanes Musikalität klingt nicht nur in seiner bewunderten Sprachmelodie [2], sie ist unmittelbar in seine Texte eingeflochten. Werfen wir hier lediglich einen Blick auf die drei bekanntesten Romane, zunächst Frau Jenny Treibel, die ironische Satire auf die Berliner Bourgeoisie der Kaiserzeit. Kommerzienrätin Jenny Treibel, eine durch und durch materialistische und eigentlich nur nach dem Geldwert urteilende, dominante 50erin versucht sich mittels Kultur den Anschein hoher Bildung und eleganter Lebensführung zu geben. Kunst, Geschichte, Literatur und eben auch Musik – so Fontanes bissige Kritik – stehen niemals im wirklichen Interesse der Treibel, sondern ihre Emporhebungen bleiben Phrasen, hohle Vorwände und Requisiten des wohlhabenden Bürgertums, um sich standesgemäß selbst darzustellen.

So werden etwa Goethehäppchen aus dem Zusammenhang gerissen aufgesagt, Zitatkompetenz im Faust gilt als Statussache. Gern schmückt Jenny Treibel sich zudem mit ihrer Freundschaft zum ehemaligen Opernsänger Adolar Krola. Fontane beschreibt humorvoll und hintergründig, wie Krola im Haushalt der Treibels ein Konzert gibt, vorwiegend romantische Kunstlieder auf dem Klavier anspielt und zum Teil selbst, zum Teil von Festgästen begleitet, vorträgt. Als alter Hase steht Krola dabei über den Dingen. „Von Genuss konnte keine Rede für ihn sein, nur von Amüsement“. Der Untertitel des Romans Wo sich Herz zum Herzen find’t wird schließlich als Höhepunkt und Abschluss des Konzerts von der Titelheldin persönlich in Liedform intoniert. In Jugendtagen von Willibald Schmidt seiner Verlobten Jenny gewidmet, wird das Lied von ihr – die Willibald für den reichen Treibel verlassen hatte – Jahre später noch gern öffentlich präsentiert. Das Lied, die Figur des Opernsängers und Musik überhaupt haben also in Frau Jenny Treibel wichtige dramaturgische Funktionen zur Darstellung der Titelheldin.

Auch in Fontanes berühmtesten Roman Effi Briest finden wir eine Musikerfigur, ebenfalls eine Sängerin. Sie heisst Marietta Trippelli und bringt ähnliche Werke wie Adolar Krola zu Gehör, romantische Kunstlieder, hier jedoch mit tragischen Anklägen, zum Beispiel Schumanns Vertonung von Hebbels Heideknaben. Bei Trippellis Hauskonzert handelt es sich anders als bei A. Krolas in Jenny Treibel keineswegs um eine Szene, die die Lächerlichkeit der Titelfigur unterstreicht. Die Lieder haben statt dessen klar düstere Vordeutungen inne, behandelt doch schon der Heideknabe ein grausiges und unaufhaltsames Schicksal. Marietta Trippellis Auftritt entwirft eine visionshafte Warnung an Effi, die sich in ihrem neuen Leben nicht wohlfühlt und unter Spukangst leidet. Das sensible Kind der Luft wird in figura Musik, dem Medium des Unbewussten, von ihren Ängsten verfolgt. Als Nachwirkung des Liederabends vermeint Effi ein nicht existentes „Tanzen oder Musizieren“ zu vernehmen. Die Trippelli-Szene hat außer einer bedrohlichen Lesart aber noch mehr zu bieten. Ganz wie Effi wird die Sängerin von Fontane als freiheitsliebende und musische Frau gezeigt, freilich mit dem Unterschied, dass Trippelli im Gegensatz zu Effi in der Tat emanzipiert und ungebunden ist und mit ihrem sicheren Auftreten ihr unruhiges und gebundenes Gegenüber beeindruckt. Tripelli nimmt – „‚immer frei weg‘ – kein Blatt vor den Mund, redet ungeniert“.

Als Frau, die ihr Leben im Griff hat, erscheint sie Effi faszinierend. In diesem Fall verwendet Fontane die Welt der Musik, das Musikerleben mit seinen Reisen und seinen vielfältigen Eindrücken also als Metapher von Freiheit, die seiner Titelfigur eben nicht vergönnt ist. Effis Ehegatte Innstetten hingegen hat seinerseits sprechende musikalische Vorlieben. Ausgerechnet er, „das Muster eines preußischen Beamten, pflichtbewusst, korrekt, ‚ein Mann von Charakter, ein Mann von Prinzipien'“ ausgerechnet dieser Innstetten wird bei Fontane zum Wagnerianer.

Zuletzt sprach er von den Wahlen, und daß es ein Glück sei, einem Kreis vorzustehen, in dem es noch Respekt gäbe. War er damit durch, so bat er Effi, daß sie was spiele, aus Lohengrin oder aus der Walküre, denn er war ein Wagnerschwärmer.

Und als hätte sich Fontane an ihm abarbeiten müssen, so gehört im Übrigen keine zeitgenössiche Persönlichkeit außer Bismarck so intensiv zum Gesprächsstoff seines Romanpersonals wie der Magier vom grünen Hügel selbst. Es lässt sich kaum ein größerer künstlerischer Antipode zum märkischen Dichter denken, als der Zeitgenosse und Musikrevolutionär Richard Wagner. Wo Fontane Geschichtsschreibung betrieb und nach Objektivität strebte, da suchte Wagner nach allegorisch-metaphorischen Weisheiten des Mythos. Wo Wagner umstürzen und zertrümmern will, da versucht Fontane zu konsolidieren.

Richard Wagner, Fotographie von Franz Hanfstaengl (1804–77) – Urheber: Royal Opera House Covent Garden (CC BY-SA 2.0)

Hatte Wagner die gesellschaftlichen Verhältnisse bezwungen und für sich zugerichtet, so hatte Fontane sich Ihnen ergeben müssen. Wurde der eine zu Lebzeiten bereits kultisch verehrt, so konstatierte der andere nicht ohne Bitterkeit, dass er nicht ausreichend Anerkennung erhalten habe. Beschwören Wagners Musikdramen Götter und Helden herauf, so gilt Fontanes Aufmerksamkeit den wirklichen Menschen seiner Zeit. Der Wagner-Kult, seine Megalomanie und seine Lautstärke waren Fontane suspekt. Seine Skepsis demgegenüber wird an vielen Stellen hörbar, stellvetretend hier im Gedicht Luren-Konzert.

In Fontanes letztem vollendeten Roman, dem Stechlin, gibt es schließlich wieder eine musikalische Figur, nämlich den tschechischen Musikprofessor Dr. Niels Wrschowitz. Allein an der Namenswahl lässt sich endgültig widerlegen, dass Fontane angeblich unmusikalisch gewesen sei, denn „Wrschowitz‘ Vater, ein kleiner Kapellmeister an der tschechisch-polnischen Grenze, war ein Niels-Gade-Schwärmer, woraufhin er seinen Jungen einfach Niels taufte.“ Niels Gade wiederum war im 19. Jh. ein äußerst populärer dänischer Komponist, erfolgreicher als Brahms, Dvořák oder Bruckner und der Vorgänger Mendelssohns als Kapellmeister in Leipzig. Wrschowitz hieß, bevor er promovierte, einfach Niels Wrschowitz, und – so heisst es im Stechlin: „er ist bloß Doktor geworden, um den Niels auf seiner Visitenkarte loszuwerden.“ Dubslav von Stechlin hingegen, dessen Name wie der Niels Wrschowitz‘ „auf Kulturmischung hindeutet“[3] und der das Versöhnliche bei Fontane repräsentieren kann, begreift Musik ganz im Sinne des Autors als verbindende, universale Kommunikation, wenn er sich im Gespräch mit dem Musikdoktor über Frédéric Chopin wie folgt äußert:

Chopin, für den ich eine Vorliebe habe, wie für alle Polen, vorausgesetzt, daß sie Musikanten oder Dichter oder auch Wissenschaftsmenschen sind. […] ‚Sehr warr, sehr warr‘, sagte Wrschowitz.

 

Der Text ist die Bearbeitung eines Vortrags vom 17. März 2019 im Rahmen der Reihe „Fontane und die Musik“, die der Autor als Dramaturg für die Havelländischen Musikfestspiele konzipierte.

 

[1] Gertrud George-Driessler: Theodor Fontane und die „tonangebende Kunst“ (eine späte Wiedergutmachung). Augsburg 1990. [Inaugural-Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Philosophischen Fakualitäten der Universität Augsburg]

[2] Vgl.: Guido Vincenz beschreibt den „hochmusikalischen Klang“ der Fontaneschen Sprache, den „vielberufenen und bewunderten Fontaneton“. In: Guido Vincenz: Fontanes Welt. Eine Interpretation des ‚Stechlin‘. Zürich: Juris 1966, S. 17; zitiert nach: Charlotte Jolles: Theodor Fontane. Stuttgart: Metzler 1993, S. 96.

[3] Birger Solheim: Zum Geschichtsdenken Theodor Fontanes und Thomas Manns oder Geschichtskritik in Doktor Faustus und Der Stechlin. Würzburg: Königshausen & Neumann 2004, S. 128.

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