„Die Spatzen quirilierten auf den Telegraphendrähten“ – Jan Böttchers Stechlin-Collage

Die Spatzen quirilierten auf den Telegraphendrähten
und aus dem Saatengrün stiegen die Lerchen auf.
(Wie schön!) – und dabei spricht man immer von der Dürftigkeit
und Prosa dieser Gegend.

Von der weißen Bank zwei Bootslängen bis zu der Stelle, die mit Java telefoniert. Nur drüben aus dem 
Kegel des Vesuv stieg ein dünner Rauch.
Der Karpfen wird sich wohl verkrochen haben. Wir verkriechen uns auch.

Refrain:
Das ist gut, das ist gut, das ist Demut
Wir sind alle in den Skat gelegt
Aber Demut, sie ist nicht genug:
Sie schafft nicht, fördert nicht, sie belebt kaum.

Jan Böttcher im Literarischen Colloquium, 11. April 2019, Foto: Klaus Peter Möller

Diesen Zeilen konnte man Anfang April diesen Jahres im Literarischen Colloquium Berlin lauschen. Jan Böttcher sorgte für den überaus gelungenen musikalischen Auftakt des Abends – ganz unter dem Motto „Allseits Fontane“. Er schaffte es, den Stechlin in ein Musikstück, in eine singbare, kaleidoskopartige Collage zu verwandeln. Den Stechlin in ein Lied fassen, ihn zum Klingen bringen: ein großes Vorhaben. Den gebannten Hörern wurde „Hundertprozent Fontane“ geliefert, kein Wort wurde von Jan Böttcher erdacht, er ließ ganz den Protagonisten des Abends sprechen. Sätze wurden virtuos zusammengestellt. Ich saß im Publikum, hörte gebannt Satz für Satz und fühlte mich sofort an die ein oder andere Szenerie, einen Dialog oder gewisses Charaktere erinnert. Man wollte umgehend das Buch aus dem Regal nehmen, es aufschlagen und nach den Sätzen, die nachhaltig das Ohr füllten, suchen. 

Auf die Nachfrage, warum sich Jan Böttcher für Der Stechlin als „Collagebasis“ entschieden habe und wie er dabei vorgegangen sei, antwortete er:

Ich habe den „Stechlin“ erstmals im Studium 1998 gelesen, kannte vorher aus Schultagen nur die Romane „Effi Briest“ und „Irrungen, Wirrungen“ von Fontane. Das Buch hat mich schon damals beeindruckt. Ich denke, es hat immer auch mit der eigenen Prägung zu tun, inwieweit man als LeserIn erfasst wird von einem längeren Text. Hier kommt einiges zusammen: Ich entstamme einer nordwestdeutschen Sozialisation, die durchaus eine gesellige Seite hatte, wie sie sich auf der starken Konversations-Ebene im „Stechlin“ spiegelt. Andererseits trifft gerade der alte Dubslav auch den zweiten, direkt daneben liegenden Nerv aus den achtziger Jahren meiner Kindheit und Jugend: Die Dinge haben sich in ihm gefestigt, Tradition wird mit Stolz und/oder Wehmut verteidigt, dem Neuen, Schnellen, Modernen, Spontanen eher misstraut. Die Spannung entsteht dann dort, wo über Dinge geredet wird, die eigentlich gar nicht zur Debatte stehen bzw. verhandelbar sind. Auch das meine ich zu kennen, und erst die Vereinigung Deutschlands konnte ein gewisses Phlegma in meinem Umfeld beenden. Das sind also Figuren, die ich innerlich übertragen kann, eine tiefe emotionale Seite der Lektüre. Die Rolle der Agnes (und wie Fontane sie im Verlaufe immer stärker macht, wie sie Dubslav unaufdringlich begleitet bis zu seinem Tod) spielt hier mit hinein, ihre fast heilige Anwesenheit gibt einem das Gefühl, dass Bögen und Brückenschläge zwischen drei Menschheitsgenerationen gelingen können, die nicht an die Familie gebunden sind. Die Beziehung der beiden, einander fremd, doch zugetan, finde ich zutiefst berührend.

Nicht damit in Beziehung zu setzen: die historische Ebene. Wer hätte nicht das Gefühl, unendlich viel über DIE erzählte ZEIT und DIE GESELLSCHAFT zu lernen, wenn er den Stechlin liest? Ein tolles Panorama fächert sich da auf. Das ist der gegenwärtige Umbruch, die Liebe, das Schloss, der Generationenkonflikt. Aber es sind eben auch einige Rückgriffe in die Vergangenheit Preußens, und die anstehende sozialdemokratische Zukunft zieht einen auch am Ärmel.

Weiterhin fragte ich, warum sich für gewisse Sätze entschieden wurde, was sei nachdrücklich an der „Satzfundgrube“ Der Stechlin interessant?

Cover des „Stechlin“, Große Brandenburger Ausgabe

Ich habe mir folgendes Vorhaben gesetzt: Bei einer Neulektüre Stellen herauszuschreiben, die a) inhaltlich relevant und b) rhythmisch gearbeitet sind. Wo sich beides trifft, will der Autor mit Sicherheit Akzente setzen. Er stellt oftmals Verben um, erzielt dadurch Effekte. Und er setzt Bonmots, Redewendungen, Sprüche, Witze, die nie nur zwischen zwei Menschen fallen und verenden, sondern einen Glutkern in sich tragen, der für den Roman von Bedeutung ist. Es ergeben sich bei der Lektüre durchaus Wortfelder, symbolische Felder, die sich anfühlen wie Stützpfeiler für Fontanes Bau. Viele Dichotomien des ALTEN und NEUEN, als Seitenstrang davon ZUPACKENDE und DEMÜTIGE Charaktere. STADT und LAND sind geographische Orte, an denen / zu denen jede Figur eine Haltung einnehmen muss. 

Eine Collage kann nicht dem Umstand gerecht werden, dass es Fontane gelingt, jeder einzelnen Figur Plastizität zu verleihen, Charisma und Ton. Und das gesammelte Weltwissen des Romans bekommt man natürlich auch nicht gebündelt wiedergegeben. Was eine Collage vielleicht vermag: Stimmen zu schichten, ihren Widerspruch, ihre Nähe. Grundsätzlich wollte ich meiner Freude über die Mündlichkeit des Romans live Ausdruck verleihen. Ich nehme für mich in Anspruch, ein gutes Gehör für die gesprochene Sprache zu haben. Daher rührt überhaupt meine Faszination für Fontane, aber auch für ganz andere Autoren, beispielsweise Arno Schmidt. Es gibt viele szenische Romane, aber ich kenne keinen Roman in der deutschen Literatur, der so stark auf das gesprochene Wort setzt wie „Der Stechlin“. Dass es ihm dennoch an nichts mangelt, macht seinen Stellenwert aus. Denn alle Dialoge leiten, verändern, bewegen hier immer auch den Strom der gesamten Erzählung.

Es bleibt zu hoffen, dass die Collage aufgenommen wird, damit nicht nur die Anwesenden des Abends sich über die Sätze Fontanes – Wort für Wort – und natürlich über Jan Böttchers musikalische Leistung erfreuen können.

[…]

Wovon kommt die Sozialdemokratie?
Vom Fortschritt. Oder wie? Alte Geschichte.
Es gibt da nichts Neues. Nur Huhn und Ei.
Sieben Mühlen hat er, aber nur zwei
Redensarten, und wir warten

auf die Heilkraft der Natur.

[…]

Da schlich das Kind noch eine Weile weinend hin
und her zwischen den Gräbern,

eine große Zahl kleiner Leute bildete Spalier.
Der Pastor zeigte: hier! Er hatte vielmehr das, was
über alles Zeitliche hinaus liegt,
was immer gilt und immer gelten wird:
ein Herz. Und hatte keine Feinde,

weil er keines Menschen Feind war,
in acht Tagen sind wir sicher da,
vorher: unerreichbar
Capri und Stechlin, Wutz und Windsor und Berlin,
Anfangs war’s ihm schwer geworden, 

aber jetzt lag alles hinter ihm.
Signatur der Zeit und Zeitenlauf.

Die Spatzen quirilierten auf den Telegraphendrähten
Und aus dem Saatengrün stiegen die Lerchen auf.

One comment

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert