Eine Zeit für Zufälle

Es ist eine Unzahl an Abschluss- und Aufschlussarbeiten später, es ist drei warme Sommer-, zwei laue Herbst- und einen kalten Wintermonat noch lang, es ist ein graupelartiger und schneegestöberter Anbeginn, es ist zwei nach Luther, eins mit dem Bauhaus und eins vor Beethoven, es kam einfach, kam anmäandert, schlich sich ein und geht nicht so schnell fort, es ist an Ampeln, auf Apothekenvignetten, auf Dönerfladen, am Bahnhofskiosk, es ist nicht wegzudenken und geht doch wieder, es ist im Sein, im Warten und im Gehen, es ist gelb und es ist nicht gelb, es trägt Brille und keine Brille, es isst Eiscreme und Forelle, es ist prägend und vergehend – das Fontane Jahr.

Reminder

Bedenken, gedenken und ausdenken – damit begann vor nicht allzu langer Zeit eine von den unzählbaren Wirkungen, deren Ursache sich in Theodor Fontane gründete. Im Wintersemester 2017/2018 konzipierte Professor Roland Berbig als Schnittstelle zwischen den beiden Institutionen Theodor Fontane Gesellschaft und Humboldt-Universität zu Berlin mit genau diesen beiden den Fontane Blog. Die Zielsetzung war und ist bis heute klar determiniert: Der Blog sollte und soll Leben und Werk Theodor Fontanes in all seiner Diversität beleuchten.

Ein Credo, das mir in meinem ersten Jahr als studentische Hilfskraft bei Herr Berbig zu hochgegriffen erschien, zu neutral in seinem Kontext, zu groß in seinen Begrifflichkeiten. Ich sonderte mich, weniger aus Trotz, mehr aus Vorsicht, mit dem anbeginnenden „Geblogge“ vom Projektgeschehen ab. Nichtsdestotrotz verschlossen sich meine Augen nicht vor dem technisierten Fontane, sondern beäugten erste Versuche auf einem unerschlossenen Terrain. Da las ich etwas von fontaneschen Gedenktafeln und wurde auf Spurenelemente Fontanes bei Thomas Mann aufmerksam. Mein spärlich belesenes Fontane-Ich bekam Lust, ebenso auf Spurensuche zu gehen, sowohl im topographischen als auch im intertextuellen Areal. Und so schlitterte ich ein Semester, Sommer 2018, nach feierlicher Eröffnung des Fontane-Blogs in dessen Welt.

Auf Wanderung

Blick auf die Oder, (c) Lea Latendorf

Früh durchdachte ich die Konzeption und Zusammenstellung des noch recht jungfräulich ausschauenden, wenige Beiträge umfassenden Fontane Blogs. Nicht exorbitantes Fontane-Wissen stand auf der Agenda, sondern ein Gespür zum Unbekannten und Vergessenen – Unternehmungs-, Forschungs- und Leselust als wie -durst waren gefragt. Während in meiner ersten Blogzugehörigkeitszeit mehr Dispute über das Logo der Plattform und die Kategorisierung der Beiträge ausgefochten wurden, las ich in Fontanes Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Und während ebenjene Dispute zu keinem versöhnlichen Konsens geführt hatten, bildeten sich in meinen Gehirnwindungen erste kleine Ideenkristalle.

Der mich durchs Studium begleitende und dabei mir liebgewordene Schriftsteller Günter Eich war Splitter eines solchen Ideenkristalls. Er war 1907 in Lebus an der Oder geboren, einen Ort, den auch Fontane auf seinen Wanderungen besichtigt und beschrieben hatte. Ich übernahm Fontanes motivisches Vorgehen und wandelte auf Eichs ersten Lebenswegen. Dabei konstruierte ich im fontaneschen und historischen Kontext das gegenwärtige Profil der Stadt Lebus. Unter anderem entstand bei meinem Ausflug ein Bild von der Lebuser Oberstadt mit Blick auf die Oder und Kirche.

Im Fontane Jahr

Nun ein Jahr, ergo zwei Semester, später, in der Gegenwart, sitzt die Wirklichkeit des Fontane-Blogs am Nabel des Zeitgeschehens. Das Fontane Jahr 2019 befördert und beschleunigt die Arbeit mit dem Blog und die Wahrnehmung desjenigen in der Öffentlichkeit. Erst kürzlich wurde der 100. Beitrag hochgeladen, eine Zusammenarbeit des studentischen Redaktionsteams mit der Berliner Zeitung wurde beschlossen, externe Beiträger liefern wie auch interne Mitarbeiter zuverlässig neues Material und das öffentliche Interesse an den absonderlichsten Beiträge zu Fontane-Publikations-Rezensionen, Fontane-Leseerfahrungen, Fontane-Reiseberichten oder peripheren Fontane-Miszellen ist auf einem Höhepunkt angekommen.

Rückseite des Buches „Wanderungen in der Mark“ (Aufbau, 1979)

Genau in dieser Phase empfahl ich meiner Oma, die seit einigen Jahren mit Smartphone und Laptop gerüstet ist, den Blog zu besichtigen. Keine drei Tage später schrieb sie mir per WhatsApp eine ergreifende Nachricht:

Habe euren Blog gefunden, deine Beiträge gelesen und war fasziniert von deiner Fabulierkunst. Ich musste an den kleinen Jungen denken, dem ich öfter Geschichten vorgelesen habe, und an den großen, dem ich mal eine Deutscharbeit mit meinen „Ratschlägen“ versaut habe. Dann habe ich Fontanes „Wanderungen…“ hervorgekramt und entdeckt, dass ich das Foto auf der Rückseite des Schutzumschlags gerade im Blog gesehen hatte.

Wieder wenige Tage später brachte sie mir dieses ominöse Wanderungen-Buch vorbei. Ein 1979 im Aufbau Verlag erschienener Text- und Fotocollageband. Die Texte Fontanes ausgewählt von Gotthard Erler, die Fotografien von Hans Jochen Knobloch. In der Vorbemerkung schrieb Erler:

Der Reiz dieses Buches beruht auf der Konfrontation von Texten und Fotos, die durch mehr als hundert Jahre getrennt sind: der Autor 1819 geboren, der Fotograf 1941. Der eine beschrieb die Mark Brandenburg als Kerngebiet der preußischen Monarchie und des deutschen Kaiserreichs, der andere fotografiert sie als Teil eines sozialistischen Staates.

Vorderseite des Buches „Wanderungen in der Mark“ (Aufbau, 1979)

Jedoch ging es meiner Oma, wie auch mir, weniger um den Inhalt dieses Buches. Denn auf dessen Rückseite prangt ein Bild Knoblochs – aufgenommen von der Lebuser Oberstadt mit Blick auf die Oder und Kirche. Ein Jahr nachdem ich meine Fotografie auf dem Blog platziert hatte, entdeckte meine Oma ebenjene Fotografie in ihrem Bücherregal. Zufall? Möglicherweise. Aber nachdem ich mir die Vorderseite besehen hatte, zweifelte ich ob der Häufung an Zufall – denn das Cover des Buches zierte „meine“ Blumberger Dorfkirche, in der ich getauft und konfirmiert wurde.

Daher möchte ich am Ende meiner kleinen Miszelle dafür plädieren, bei dem omnipräsenten Fontane-Hype und den unzähligen Fontane-Büchertischen der diversen Erwerbshandlungen, dass sich ein jeder seines eigenen Bücherregals gewahr wird. Dort verstecken sich die Schätze dieser Zeit und nur dort findet sich der Ursprung eines jeden Zufalls. Denn dieses Jahr ist nicht nur das Jahr, in dem Theodor Fontane 200 geworden wäre, sondern auch eine Zeit für Zufälle.

Und schließlich ist dieses Jahr auch nur ein Jahr, ein Jahr voll Aufregung, weiter nichts. Eine Zeit, die nicht mehr vorkommen wird.

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