Meine Begegnungen mit Theodor Fontane

Außer nach Köthen/Anhalt hatten meine Reisen nach Swinemünde, Dresden, Frankfurt am Main und Bad Kissingen andere Beweggründe. Im Frühjahr 2018 warf Roland Berbig in der Köthener Sprachgesellschaft einen außergewöhnlichen „Blick in Fontanes Schreibwerkstatt“. Der „Undstil“ in Grete Minde und Ellernklipp löste bei den Zuhörern heiteres Verständnis aus. Geistreich und originell verteidigte Fontane seine Wortwahl in den Briefen an die Verleger. Er mache die Arbeit ganz nach sich selbst und lasse sich nicht „den altüberkommenen Marlitt- und Gartenlaubenstil“ aufzwingen. Fontane bildet sich ein, „nicht einer von den unerträglichen Glattschreibern“ zu sein, sondern ein „Stilist“ – wie der Fontaneforscher in seinem Vortrag. Das aufgeschlossene Auditorium nahm dann seine Einladung zum 200. Geburtstag im Theodor-Fontane-Jahr 2019 gern an.

Viele der zitierten Briefstellen fand ich zu Hause in meiner zweibändigen Briefausgabe von Gotthard Erler. Dabei wurden Erinnerungen an Theodor Fontane in der Schulzeit wach. In der fünften Klasse lernte ich das Gedicht Mittag und in der sechsten die Ballade John Maynard mit Begeisterung auswendig. Ein Lehrer benutzte die Zeitangabe „und noch zwanzig, fünfzehn, zehn Minuten bis Buffalo“ für die Ankündigung des Stundenendes, wenn Klassenarbeiten geschrieben wurden. Während der Abiturzeit verstand ich nur schwer das tragische Ende von Effi Briest und war später erleichtert zu hören, dass ihr historisches Vorbild, Elisabeth Baronin von Ardenne, nach einem langen Leben auf dem Südwestkirchhof in Stahnsdorf bestattet wurde. Ihr Grab erregte seinerzeit Aufmerksamkeit, weil ihr Enkel, der berühmte Physiker Manfred von Ardenne, es vor der Einebnung bewahrte.

Die Grabstätte Fontanes auf dem Französischen Friedhof in der Berliner Liesenstraße konnte man jahrzehntelang nicht besuchen. Der Berliner Publizist Heinz Knobloch berichtete, wie er eine Genehmigung zum Betreten des Friedhofs im Sperrgebiet der Mauer erwirkte. Verwandtenbesuche in Neuruppin führten mich auch zur Löwenapotheke und zum Erwerb der aufschlussreichen Publikation Zur Geschichte der Neuruppiner Bilderbogen von Lisa Riedel mit dem Aufsatz „Gustav Kühn“ von Theodor Fontane, in welchem er die „Times“ mit einem anglikanischen Geistlichen und den Gustav Kühnschen Bilderbogen mit einem Herrnhutschen Missionar vergleicht. Fortan blieb Fontane für mich im Hintergrund.

Aus der Freude am Dichtungssprechen erwuchs eines meiner Arbeitsgebiete als Sprecherzieher. Gedichte und Balladen stehen dabei im Vordergrund, hatte ich doch schon bei meiner Abiturfeier mit dem Vortrag „Ich will wieder das Staunen euch schenken“ von Juri Pankratow in der Nachdichtung von Sepp Österreicher für Aufsehen gesorgt. Im Studium der Sprechwissenschaft folgten der Vortrag der Balladen Die Mär vom Ritter Manuel von Agnes Miegel und Gustav Schwabs Der Reiter und der Bodensee. Aus meinen Sprechwerkstätten mit Schülern und Kursen mit Lehrern ist inzwischen eine beliebte Gedichtsammlung entstanden, die bis ins Barockzeitalter reicht – Paul Flemings Sonett An sich ist auch heute noch gut sprechbar.

Das „Impulsreferat“ von Roland Berbig in Köthen ließ mich Theodor Fontane wieder lesen, nicht die Wanderungen durch die Mark Brandenburg, schön sichtbar im Bücherregal. Näher kam ich ihm durch den autobiographischen Roman Meine Kinderjahre, einen amüsanten Rückblick im reifen Alter. Und hier beginnen meine Zufallsbegegnungen mit Theodor Fontane 2018. Urlaub in Swinemünde buchte ich für den Spätsommer 2018 zur Erholung vor meinen Tagesseminaren quer durch Deutschland im Herbst. Vom kostengünstigen polnischen Świnoujście war die ganze Insel Usedom gut zu erwandern. Da ich inzwischen Fontanes Bekenntnis über die glücklichen Kinderjahre in Swinemünde gelesen hatte, nahm ich in meine Wanderungen die Spuren des Apothekersohnes von der Adlerapotheke auf. An der Stelle der Apotheke steht heute ein Geschäftshaus mit einer Relieftafel, die auf Deutsch und Polnisch an Fontane erinnert. Die Christuskirche gegenüber hatte damals keinen Turm. Fontane bezeichnete sie als „scheunenartigen Bau mit hohen Fenstern“. Noch stehen das historische Rathaus im Uferbereich der Swine und das Gebäude „Hotel Drei Kronen“ – das „Ressourcenhotel“ an der Uferstraße des „Stroms“, dem Bollwerk der Swinemünder. Am weiten Swinemünder Strand  und auf den Hafendämmen der Ost- und Westmole zog vor meinen Augen Fontanes Zeit vorüber …

Am Erntedanksonntag 2018 zog es mich nach Dresden. Der Grund war die Frauenkirche, mit welcher der Reiseveranstalter für die Tagesfahrt warb. Endlich konnte ich die Kuppelgemälde des wiedererstandenen Bauwerks bewundern. Dem Maler Christoph Wetzel gelang die Ausmalung nach einem einzigen erhaltenen Dokument in der Kapelle des Schlosses Hubertusburg bei Oschatz. Über diesen Schaffensprozess hatte der Künstler einen Vortrag im Brandenburg-Preußen Museum Wustrau bei Neuruppin gehalten. Das Museum verdankt ihm die Gemälde der zwanzig Hohenzollernherrscher. Angezogen wurde ich danach von dem Erntedankgottesdienst. Ihre stimmungsvolle Predigt begann die aus dem Brandenburgischen stammende Frauenkirchenpfarrerin Angelika Behnke mit Fontane:

Der Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland,
Ein Birnbaum in seinem Garten stand,
Und kam die goldene Herbsteszeit,
Und die Birnen leuchteten weit und breit,

Da stopfte, wenns Mittag vom Turme scholl,
Der von Ribbeck sich beide Taschen voll,
Und kam in Pantinen ein Junge daher,
So rief er: „Junge, wist´ne Beer?“

Und kam ein Mädel, so rief er: „Lütt Dirn,
Kumm man röwer, ick hebb, ‘ne Birn.“

Die Gedanken zum Erntedankfest über Gaben und Geiz bekamen Gestalt in der Geschichte des Vaters und des Sohnes von Ribbeck. Festliche Bachkantaten begleiteten eine kurze innere Einkehr. Abschied vom sonnenbeschienenen goldenen Dresden auf der Aussichtsplattform des Kirchturms. 1843 nahm Fontane nach neun Monaten Arbeit in der Salomonis-Apotheke Abschied von Dresden.

Nach Frankfurt am Main fuhr ich am 20. Oktober 2018 zur Buchmesse. Der Verlag BoD Norderstedt bewarb an seinem Stand die Neuauflage meines Buches Vertrauen in die Wirksamkeit von Sprache. Berichte, Interviews, Rezensionen und lud den Autor zu Gesprächen mit Lesern ein. In dem Kapitel „Sommer 2013. Bericht aus Berlin. 200 Jahre Befreiungskriege“ berichtete ich unter anderem über Fontane:

Handschriftliche Manuskriptseiten des Berlin-Romans „Allerlei Glück“ von Theodor Fontane sind am 11. April 2013 restauriert der Öffentlichkeit in Potsdam vorgestellt worden. Ulrike Tanzer von der Universität Salzburg hielt einen Vortrag über Theodor Fontanes Verständnis von Glück. 1865, nach seinem Erstling „Vor dem Sturm“, begann der Dichter mit der Arbeit an seinem ersten Gesellschaftsroman, der jedoch unvollendet blieb. In seinem historischen Roman „Vor dem Sturm“ verarbeitete Theodor Fontane die Zeit vor den Befreiungskriegen im Winter 1812/13.

Zeit nahm ich mir noch für den Stand des Berliner Erich Schmidt Verlages. Dort stellte Gabriele Radecke ihr neues Buch Theodor Storm – Theodor Fontane. Der Briefwechsel vor. Schwung bekam die Lesung durch die Zitatensprecherin Carina Lehnen, Verlagsabteilungsleiterin. Der „prominenteste Briefwechsel des deutschen Realismus“ beinhaltet interessante Themen, wie gegenseitige Wertschätzung, zwischenmenschliche Konflikte beider Autoren sowie Fontanes Anteil an der Immensee-Übersetzung ins Englische.

Während der Rückfahrt von einem Tagesseminar machte ich am 9. November 2018 einen Abstecher nach Bad Kissingen. Die Kurstadt lebt noch etwas von dem Glanz der berühmten Gäste der letzten beiden Jahrhunderte. Theodor Fontane begegnete ich in einem künstlerisch anspruchsvollen Faltblatt. Sein größerer preußischer Zeitgenosse, Otto von Bismarck, hat sogar ein Museum. Viele Aufenthalte mit seiner Frau Emilie und mitunter in Begleitung seines Malerfreundes Adolph Menzel veranschaulichen Fotos und Zitate. Das genossene Promenadenkonzert im Kurgarten beschreibt Fontane in seinem Gedicht Brunnenpromenade:

Kaum wollt ich meinen Augen traun,
So viel des Herrlichen war da zu schaun …

Ich freue mich auf das Theodor-Fontane-Jahr 2019 in Berlin, wo Theodor Fontane im Laufe von etwa sechs Jahrzehnten in siebzehn Häusern wohnte und in vier Apotheken Pillen drehte und Verse schmiedete. Nichts davon steht heute noch. Fontanes letztes Zuhause in der Potsdamer Straße 134 musste einem Neubau weichen. Zwei Berliner Literaten könnten zum 200. Geburtstag in Berlin Geburtstagslichter anzünden: der Fontaneforscher Gotthard Erler und der in Wien geborene Fontaneverehrer Horst Pillau, bekannt als Autor von berlinischen Theaterstücken. Der Berliner Theodor Fontane bekennt in seinem Gedicht Was mir gefällt:

Du fragst: ob mir in dieser Welt
Überhaupt noch was gefällt?
Du fragst es und lächelst spöttisch.

„Lieber Freund, mir gefällt noch allerlei:
Jedes Frühjahr das erste Tiergartengrün,
Oder wenn in Werder die Kirschen blühn,
Zu Pfingsten Kalmus und Birkenreiser,
Der alte Moltke, der alte Kaiser,
Und dann zu Pferd, eine Stunde später,
Mit dem gelben Streifen der ‚Halberstädter‘;

Kuckucksrufen, im Wald ein Reh,
Ein Spaziergang durch die Lästerallee,
Paraden, der Schapersche Goethekopf
Und ein Backfisch mit einem Mozartzopf.“

Mit meiner Gedicht- und Sprüchesammlung bin ich nun auf das Theodor-Fontane-Jahr eingestellt.

 

Dieser Text erschien zuerst in: Wiener Sprachblätter (1/2019)

2 comments

  1. Ute Ernst says:

    Hallo J. H. ,
    der Text gefällt mir. In Vorbereitung eines Chorkonzertes zum Thema “ Fontane und die Frauen“ bin ich auf ihren Text gestossen. Das Gedicht
    “ Brunnenpromenade “ hätte ich gern vollständig. Wären Sie so nett und würden es mir per Mail schicken?
    mit sehr freundl. Grüssen Ute Ernst

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