Ein bekannter Bibliograph ist bekennender Trödelmarktgänger. „Mensch, Du, da liegt doch glatt Gutzkows Nero, ich denk‘, ich seh nicht richtig. Alle dran vorbei, ich: ‚was willst’n dafür?‘ “nen Fünfer, okay‘. Du, ich glaub’s nicht. Steht jetzt bei mir im Regal, freu‘ mich jeden Tag dran.“ Wer Geschichten wie diese über Bücher nicht mag, mag keine Bücher. Das Glück ist nicht jedem hold. Wem der rechte Blick fehlt, der findet nichts Rechtes und kehrt unverrichteter Dinge heim.
Dass ein Münchner Freund auf der Auer Dult ein signiertes Fontane-Buch – Sie haben sich nicht verlesen! – aus einem Gemischtkasten zwischen Ken Follett und Karl May herausgeangelt hat, ist so unglaubwürdig wie beglaubigt. Der Mann einer befreundeten Kollegin fingerte einmal eine Erstausgabe von Hugo von Hofmannsthal aus einer Wühlkiste. Als er die Signatur des vermeintlichen Vorbesitzers – „zum Glück Blei“, dachte er noch – herauszuradieren begann, gellten alle Warnsirenen: Richtig, es war Hofmannsthal eigene Hand gewesen, die da den Namenszug gesetzt hatte. Der verkümmerte Rest glänzte fortan im Anekdotischen und blieb doch, glühenden Kohlen gleich, Schmerz im Sammlerherz.
Fern aller Sammelleidenschaft hatte ich doch meine Freude auf der Kulturellen Landpartie in wendländischen Küsten. Ein gemütlicher Bayer war einer gemütvollen Wendländerin über den Weg gelaufen, hatte sie erst kennen, dann lieben gelernt – und dabei eine große Bibliothek untergejubelt bekommen. Was tun? Nun denn: Trödel auf Probe – und mit Erfolg. Kleine Häppchen wandern seit dem von Rundling zu Rundling, von Markt zu Markt: Programmhefte von Brecht-Aufführungen, Zuckmayers Des Teufels General in der Suhrkamp-Erstausgabe, Peter Panters (d. i. Kurt Tucholsky) Träumereien an preußischen Kaminen mit Bildern von Alfons Wölfe (Charlottenburg: Felix Lehmann 1920) – so etwa die Mischung. Bald ist ein kleiner Stapel zusammen, da fällt der Blick auf ein etwas schäbiges, bräunliches Büchlein, grob geschnitten: Der Vorkampf. Aufgeschlagen, ist der komplette Titel zu lesen: 1848. Der Vorkampf deutscher Einheit und Freiheit. Erinnerungen Urkunden Berichte Briefe. Herausgegeben von Tim Klein. 1914 verlegte der Verlag Wilhelm Langewiesche-Brandt in Ebenhausen-München und Leipzig diese Anthologie.
Der gesinnungstüchtige Charakter dieser Textsammlung wird umgehend klar, überfliegt man das allem voran gedruckte Zitat von Karl Schurz (1829-1906).
Was dem deutschen Volke die Erinnerung an den Frühling 1848 besonders wert machen sollte, ist die begeisterte Opferwilligkeit für die große Sache, die damals mit seltener Allgemeinheit fast alle Gesellschaftsklassen durchdrang. […] bereit, Stellung, Besitz, Aussichten, Leben, alles in die Schanze zu schlagen für die Freiheit des Volks und für die Ehre und Größe des Vaterlandes. […] [o. S.]
Na und so fort – und fort von so etwas. Bei aller demokratischen Redlichkeit, die Schurz auszeichnete, der später eine bemerkenswerte diplomatische und militärische Laufbahn in Amerika unter Abraham Lincoln im Kampf gegen die Südstaaten durchlief und es unter Präsident Rutherford B. Hayses bis zum Innenminister der Vereinigten Staaten bringen sollte – auf eine solche Sprache möchte man sich nicht einlassen.
Doch Anthologien wie diese haben ihre eigene Magie. Welche Stimmen vereint sie, welche Quellen nutzte sie, wohin zieht der herausgeberische Sog … Das Durchblätterte lässt ahnen, was der Herausgeber gesichtet hat. Er beginnt schon 1814, in der Ära der Befreiungskriege also, druckt Literarisches neben Kabinettsschreiben, lässt Briefe sprechen, Zeitungen referieren und Flugblätter proklamieren. Eine Quellangabe lautet sogar: „Handschrift. Stadtbibliothek“ (S. 161). Und von ausgewähltem Reiz sind die Listen, die er aus Jakob Radikes Lehrbuch der Demagogie (Pseud. für Adolf Gumprecht, Leipzig: Wigand 1848, hier: S. 342-344) zitiert, oder die Auszüge aus dem Buch Anzeiger für die politische Polizei Deutschlands auf die Zeit vom 1. Januar 1848 bis zur Gegenwart. Ein Handbuch für jeden deutschen Polzeibeamten (hg. von *-r [d.i. Friedrich Rang]. Dresden: Liepsch u. Reichardt 1854, hier: S. 464-466).
Obwohl der Kompilator Einführungen gibt, als Kommentator agiert und Informationspäckchen platziert, so recht eigentlich wohl fühlt er sich nur im Element des Zitatenfuchses, der auf Dauerpirsch ist. Die Ecke, aus der er sich anschleicht, wird nicht getarnt: In ihr mischen sich die nationalen mit den religiösen, die patriotischen mit den allgemeinmenschlichen Elemente. Man bestaunt die Belesenheit und deren Bandbreite, weniger den Gesinnungsimpuls, der zugrundeliegt.
Und im Fontane-Jahr, natürlich, die Frage: Ist Fontane vertreten? Er ist. Aber leicht herauszufiltern ist er nicht. Kein Inhaltsverzeichnis hilft, kein Personenregister leitet. Wer es herausbekommen will, muss lesen – oder blättern. Wo die Zeit für Systematisches fehlt, springt der Zufall ein. Wenn, dann in den heißen Märztagen 1848. Und tatsächlich. Unter der Überschrift „Theodor Fontane will Sturm läuten“ hat Tim Klein Schnipsel aus Fontanes Schilderung seines 18. Märzes 1848 herausgeschnitten. Ohne Umstände. „Fontane erzählt: In meinem Gemüt wurden plötzlich allerhand Balladen und Geschichtsreminiszenzen lebendig, dunkle Vorstellungen von der ungeheuren Macht des Sturmläutens; […]“ (S. 164). Sie zeigt den Erzähler bei seinem missglückten Versuch, an die Glocken der Georgenkirche zu gelangen, um mitzutun. Und so belächelnswert der einstige Kämpfer in dieser Passage erscheint, so lächerlich auch in der sich kurz danach mitgeteilten und seitdem vielzitierten, die Klein titelt „Die Thetaregardrobe als Arsenal“. Der Ich-Erzähler ergatterte ein Gewehr aus der Requisitenkammer des Königstädtischen Theaters und stürzt sich, bereit zum Helden, in den Kampf … Und, man möchte mit Thomas Bernhard schreiben „naturgemäß“ greift sich der Herausgeber auch den dritten Akt dieser Erinnerungssequenz heraus – „Fontanes Heldenlaufbahn scheitert“ (S. 168-169). In ihr sieht der Lesende jener Läuterung des Barrikadenkämpfers zu, der mit einem verrosteten Karabiner nicht klar kommt und „endlich zu voller Erkenntnis meiner Verkehrtheit“ (S. 168) kommt. Damit nicht genug, erteilt der Herausgeber Fontane wenig später noch einmal das Wort und lässt ihn über den 19. März 1848 und den Scheinsieg der Volkskämpfer räsonnieren („Fontane über Volkskämpfer und Spldaten“, S. 182-184). Allerdings konnte Klein den Kommentar nicht unterdrücken, Fontane habe später sein zweifelhaftes Urteil, nachdem ein noch so tapferer „Volkshaufen […] einer wohldisziplinierten Truppe“ (S. 184) am Ende immer unterlegen sei, revidiert.
War’s das? Ja, das war es. Aber schnell noch ein, zwei Ergänzungen. Obwohl das Buch, in dem sich die Fontane-Passagen befinden, unter dem Titel Von Zwanzig bis Dreißig. Autobiographisches seit 1898 im Verlag des Sohnes vorlag (Berlin: F. Fontane & Co. 679 S.), bezog der Herausgeber von Der Vorkampf seine Textkenntnis aus dem Zeitschriftendruck. Hatten die „Tunnel über der Spree“-Erinnerungen mit Julius Rodenbergs Deutscher Rundschau ihre Leserschaft gesucht, so war Fontane mit der Arbeit „Der achtzehnte März“ in der noch jungen Zeitschrift Cosmopolis untergekommen (Wolfgang Rasch: Theodor Fontane Bibliographie. Werk und Forschung. Berlin, New York: Walter de Gruyter 2006. Band 1, Nr. 4238, S. 831). Die Internationale Revue wurde von F. Ortmanns in Berlin und Wien herausgegeben. Sie verzichtete auf Stückelung der Beiträge, zielte auf ein breitgefächertes Publikum und profilierte damit auch neue Schreibformen.
Das mochte den Herausgeber Tim Klein nicht scheren. Offenbar hatte er nach Schlagworten gesucht und war auf Fontanes Aufsatz in der Zeitschrift gestoßen. Auch den Wahrheitsgehalt dessen, was da der alte vom 1848 fast noch jungen Fontane so dahinplauderte, nahm er ohne Vorbehalt. Klein selbst stammte aus dem Elsaß, wo er 1870 in ein Pfarrhaus hingeboren war. Er hatte, wie Fontane, hugenottische Vorfahren. Durch schwere Erkrankung seines Vaters war Klein gezwungen gewesen, in Schüben seinem Philologiestudium nachzugehen. Seine Schrift über das Verhältnis Wielands zu Rousseau wurde 1902 von der Münchner Universität als Dissertation anerkannt. Einige Jahre hatte er am Lehrerseminar in Straßburg eine Stellung, ehe es ihn in die Pressewelt zog. Seit 1918 sollte er als Leiter des Kulturteils und bald darauf als Theaterkritiker an den Münchner Neuesten Nachrichten reüssieren. Diese Anthologie fiel in seine Straßburger Lehrzeit. Wie sehr ihm die Gattung behagte, zeigen vergleichbare biographisch und dokumentarisch geprägte Antholgien zu Bismarck (1915) oder Luther (1917).
Dass dieses Fischlein aus einem Trödelkasten angesichts der eingangs erwähnten kapitalen Fänge allemal bemitleidenswert ist, ist nicht zu leugnen. Aber, ihn einmal genauer besehen, hat man doch seine abgelegene Fontane-Freude dran.
„Seit 1981 sollte er als Leiter des Kulturteils…“ – lieber Herr Berbig, als Nichtmuttersprachler immer sehr vorsichtig mit Korrekturvorschlägen, aber diese Jahreszahl will mir irgendwie nicht gefallen.
Vielmals Dank, sehr geehrte Nichtmuttersprachlerin, solche Zahlendreher schleichen sich ein und gehören zurückgedreht! Schreiben Sie doch einmal etwas für unseren Fontane-Blog. Oder stiften Sie eine kleine Sektion der Theodor Fontane Gesellschaft in Bratislava. Dann bauen wir auch dorthin Fontane-Brücken. Herzliche Grüße, liebe Frau Dr. Prešnajderová, von Roland Berbig.