Quid pro … Über „Quitt“ Teil 1

Wieso Quitt?

Jede/Jeder kennt diese leicht gequälte, bedrückende Stimmung, wenn es in einem Raum so still geworden ist, dass nur der Grillen Zirpen hörbar bleibt. Wahlweise aus Soundeffekten in Filmen, aus der deutschen Poesie oder eben aus der ungeschönten Wirklichkeit. Letzteres erlebte ich während der Fontane.200-Veranstaltung im Literarischen Colloquium vom 11. April 2019. Im Zuge der Diskussionsrunde zwischen Vanessa Brandes, Ernst Osterkamp, Norbert Miller und Roland Berbig kam die Frage auf, welches Fontane-Büchlein das liebste der anwesenden sei. Keine Einigung gab es im Hinblick darauf, sodass sich Herr Berbig verschmitzt ans Auditorium wandte: „Oder mag jemand Quitt?“

Cover von Quitt – Nymphenburger Taschenbuch Ausgabe

Wie erläutert, verblieb das LCB in Stille, ehe die Diskussion fortgeführt wurde. Doch in meinen fontanschen Reizleitungen hatten sich längst in diesen wenigen Augenblicken des grillenumzirpten Schweigens Zweifel und Skepsis festgesetzt. Nie hatte ich Quitt gelesen, war auch nur einige Male am Rande über den Amerika-Roman Fontanes gestolpert und wollte nun belehrt werden, warum dieses Buch kein Lieblingsbuch sein könne. Damit erbaute sich eine Hürde. Ich wollte den Fontane-Hype bei Dussmann nutzend, Quitt in einer der vielen Neuausgaben erwerben, um sogleich die Lektüre zu beginnen. Doch keiner der mittlerweile vier bis sieben Fontane-Tische gebar eine Ausgabe von Quitt. Ob des Schocks tief frustriert, errettete mich eine gute Freundin und überließ mir ihr Buch aus der Nymphenburger Taschenbuch-Reihe.

„Die Kirche war noch nicht aus…“

So beginnt Theodor Fontanes siebter Roman, den er von 1885 bis 1890 verfasste. Die Erstveröffentlichung erfolgte in gekürzter Fassung in der Zeitschrift Die Gartenlaube, der ungekürzte Buchdruck folgte im Berliner Verlag von Wilhelm Hertz. Protagonist der zweiteiligen Romanhandlung, die in Schlesien sowie in Amerika, Kansas, spielt, ist „ein schlanker, hübscher Mensch von siebenundzwanzig, dem man, auch ohne seine Kriegsdenkmünze […] den altgedienten Soldaten schon auf weite Entfernung hin angesehen hätte“ (NTA, S. 7) mit dem Namen Lehnert Menz. In Opposition zu Lehnert wird sein Nachbar der Förster Opitz, „ein breitschultriger und kurzhalsiger Mann von Mitte dreißig, dessen Stutzhut und hechtgrauer Rock mit grünen Rabatten […] über seinen Beruf keinen Zweifel lassen konnten“ (NTA, S. 8), installiert.

Dass „die Kirche noch nicht aus“ war, steht sinnbildlich für einen ausbleibenden Frieden zwischen Lehnert und Opitz, deren Zwist – Opitz hatte Lehnert der Wilddieberei bezichtigt und diesem damit eine zweimonatige Gefängnisstrafe eingebracht – den Plot des ersten Romanteils bestimmt. Fontane bediente sich für die in Schlesien spielende Romanhandlung an einem historischen Kriminalfall:

Am 21. Juli 1877, einem Sonnabend, war der Reichsgräflich Schaffgotschsche Förster Frey von seiner Wohnung in Wolfshau in sein Revier in der Richtung nach der Hampelbaude gegangen. Als er in den nächsten Tagen nicht zurückkehrte, fing man an, nach ihm zu suchen, aber erst, als diese Nachforschungen systematisch von einer großen Anzahl Menschen betrieben wurden, fand man etwa nach einer Woche den Förster tot dicht neben einem Pürschwege, welcher sich in horizontaler Richtung von der Hampelbaude um den oberen Rand der Seifengrube nach dem Gehängeweg zieht. (zit. n. GBA, S. 297)

Skizze der Umgebung von Krummhübel, Handschrift – aus GBA, S. 348-349

Mutmaßlich hatte Fontane 1884 bei einem seiner vielen Sommeraufenthalte in Krummhübel (Riesengebirge) erstmals von diesem Ereignis erfahren. Während des Aufenthalts im Juni 1885 ebenfalls im Riesengebirge notierte er sich erste Entwürfe für seinen Roman, fertigte erste Skizzen des landschaftlichen Settings an, recherchierte in Amtsakten und inspizierte das Notizbuch des verstorbenen Försters Frey. (GBA, Kapitel „Entstehung“, S. 311-321)

Hahn, Hund, Hase – Mord!

Aus diesem sehr spezifischen, realen Fall heraus erarbeitete Fontane induktiv seine schlesischen Figuren, die zwar ohne Dialekt (anders als bei Unterm Birnbaum) auskommen, nichtsdestotrotz ganz in fontanscher Manier zwischen Typus und Persönlichkeit schwanken. Da wären der gutmütige, bisweilen behäbige Pastor Siebenhaar, Lehnerts rüstige zu ihrem Sohn stehende, aber zu redselige Mutter Menz oder die ebenso redselige und naive Nachbarsgehilfin Christine. Was all diese Figuren funktionalisiert, ist ihr Ansinnen Versöhnung zwischen Lehnert und Opitz zu stiften.

Skizze der Umgebung von Krummhübel, Transkription – GBA, S. 350-351

Doch während eines prophylaktischen Waffenstillstandes verlagert sich der Streit spiegelbildlich auf eine animalische Ebene. Lehnerts Hahn übertritt die Grenze zu Opitz‘ Grundstück. Dessen Hund reißt den Hahn. Lehnert erschießt daraufhin widerrechtlich einen Hasen, der auf der Grenze zum Wald des Försters flanierend entlanghoppelt. Opitz beschließt, im Weiteren Lehnert anzuzeigen. Nachbarsküchengehilfin Christine berichtete anschließend bei Frau Menz von Opitz Schreiben:

„Gott, liebe Frau Menz, was Sie nur alles reden, so schlimm ist es ja nicht. Und wär‘ überhaupt gar nicht so schlimm, wenn es nicht das zweite Mal wär‘, oder was sie [die Justizräte], die so was schreiben, den ‚Wiederbetretungsfall‘ nennen. […] Und da sind sie denn wie versessen drauf und das war auch die Stelle mit dem dicken Strich … Das heißt die eine.“
„Die eine‘? Aber Du mein Gott, war denn noch eine?“
„Gewiß war noch eine da, die war noch dicker unterstrichen und das war die von seinem Charakter.“
„Ach, Du meine Güte. Von seinem Charakter! Und die hat Opitz auch unterstrichen? Ja, was soll denn das heißen‘? Ein Charakter is doch bloß wie man is. Und wie is man denn? Man is doch bloß so, wie einen der liebe Gott gemacht hat, und wenn man auch nicht alles thun darf, aber seinen Charakter, ja, Du mein Gott, den hat man doch nu mal und den wird man doch haben dürfen und den kann er nicht unterstreichen. […]“ (NTA, S. 63)

Lehnert, dies alles lauschend, ergreift letztlich „seinen“ einzigen Ausweg und ermordet Opitz in dessen Waldgehege per Gewehrschuss.

Von falschen Bärten, subalternem Preußentum und liberaler Gerechtigkeit

Den Mord verübt Lehnert mit einem falschen Bart verkleidet. Ein Versteckspiel in zweierlei Art und Weise. Denn sowohl Lehnert bleibt vor Opitz unerkannt als auch der Bart vor dem Leser. Fontanes Erzähler in Quitt steht besonders mit seinem Protagonisten in einem nicht leicht zu durchschauenden Verhältnis.

Cover von Quitt – Große Brandenburger Ausgabe

Der Erzähler tituliert die Figur zwar mit „unserm Lehnert“ (NTA, S. 36) und solidarisiert sich so mit dem Leser, weiß aber ebenso wie der Leser erst beim zweiten ‚Blick‘, dass Lehnert einen falschen Bart und nicht „Flachs oder Werg“ in ein „paar Kalenderblätter“ (NTA, S. 66-68) gewickelt hat. Das Changieren zwischen externer und interner Fokalisierung reizt Fontane in Quitt gekonnt aus.

Überdies verwebt er am Ende der ersten Romanhälfte die narrativen Fäden mit politischen Statements. Nachdem Lehnert bereits nach Amerika geflüchtet ist, wird in einem Exkurs die Begegnung des Berliner Rechnungsrates Espe und des Kammergerichtsassessors Unverdorben (welcher wie Lehnert vereinahmend zu „unserem Assessor“ wird) geschildert. In einem „rein akademisch und jedenfalls ganz unpersönlichen Gespräch“ lässt sich der dem preußischen Ordnungsgeiste beflissene Espe zu einer ambivalenten Aussage drängen:

[…] welchen Ausspruch der von dem bloßen Worte „subaltern“ allemal höchst unangenehm berührte Espe mit vieler Geistesgegenwart, ja, wie zugestanden werden muß, sogar mit einer gewissen Würde dahin beantwortet hatte, daß er dem preußischen Staate viele „subalternen“ à la Blücher [Fürst Blücher von Wahlstatt, 1724-1819, preußischer Feldmarschall] wünsche, demselben preußischen Staate, von dem es, beiläufig bemerkt, weltkundig sei, daß er zwar nicht die „großen Männer“, die fänden sich überall, wohl aber die Dorfschulmeister und ähnliche „subalterne Leute“ vor anderen Staaten voraus habe. (NTA, S. 99)

Im Verlauf der Begegnung von Espe und Unverdorben kommt auch die Geschichte um Lehnerts Flucht in den Gesprächsraum der beiden. Während sich Espe die Inhaftierung und Bestrafung des Flüchtigen wünscht, konstatiert Unverdorben „[u]nd ich hoffe, sie fassen ihn nicht“ (NTA, S. 102), was er gleichwohl vor dem schockierten Espe ausführen muss:

„Ich bin kein Anhänger der Abschreckungstheorie. Die Leute von Fach, Doktoren und Gerichtsleute, glauben selten an die gäng und gäben Heilmittel, auch wenn sie gezwungen sind, sie zu verordnen. Wenn sie den Lehnert fassen, so kommt er ein halbes Leben lang ins Zuchthaus und zupft Lumpen und wird selber ein Lump. Wenn er aber, wie der Herr Rath eben zu bemerken die Güte hatte, den Händen der Gerechtigkeit entschlüpft, so wird er ein Mohrenkönig oder ein chinesischer Admiral oder ein Robinson. Und Leute, die das Zeug dazu haben, die sind mir immer zu schade, um hinter Schloß und Riegel zu verkommen, bloß um fiat justitia willen. Gerechtigkeit! Was heißt Gerechtigkeit? […]“ (NTA, S. 102)

Post Srciptum

Ein kleiner Schmankerl soll am Ende die Betrachtung der ersten Romanhälfte Quitts beschließen. Auf der „großen goldgeränderten Karte“ des Kammergerichtsassessors Sophus Unverdorben prangte noch die Bezeichnung „Leutnant der Reserve“ (NTA, S. 95). In seiner Figurenbeschreibung heißt es: „Assessor Doktor Unverdorben, ein feiner, kluger Herr, der seine Klugheit neben anderm auch darin zeigte, daß er eine gegen ihn gerichtete Laune der Natur – er war nämlich ein Kakerlak – sich dienstbar gemacht, und das, was ihn ridikülisiren sollte, recht eigentlich zum Schemel seiner Macht erhoben hatte.“ (NTA, S. 94)

Befrage ich den Anmerkungsapparat meiner Nymphenburger Ausgabe, werde ich bei dieser Textstelle auf zweierlei aufmerksam gemacht. Zum einen, dass es sich bei Kakerlaken um Albinos, Tiere (und auch Menschen) mit weißer Haut- und Haarfarbe und roten Augen handelt. Und zum anderen, was um einiges dubioser ist, dass Fontane sich hier „in einem Irrtum“ befindet, denn „Albinos wurden damals als militäruntauglich angesehen und niemals eingestellt. So kann Unverdorben nicht Leutnant der Reserve sein.“ (NTA, S. 316-317)

An diesem Punkt bleibt mir nur zu sagen: Wer hat das schon, ein Buch in dem sich Fontane irrt? Welch wunderbares Ridiculum!

 

(Über „Quitt“ Teil 2 und Fontanes Amerika folgt alsbald!)

 

Zitiert wurde nach:

NTA – Nymphenburger Taschenbuch-Ausgabe. Theodor Fontane: Quitt. Erzählung. München: Nymphenburger 1969.

GBA – Große Brandenburger Ausgabe. Theodor Fontane: Quitt. Roman. Hg. von Christina Brieger. Berlin: Aufbau 1999.

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