Fontane vor dem Rückert-Denkmal in Neuses

Zu den Dichterhäusern mit Charme gehört Friedrich Rückerts Landgut in Neuses bei Coburg – nach historischen Plänen schön restauriert und mit einem Rosengarten versehen. Ich besuchte das Anwesen mehrfach: als Mit-Bürger und als Mit-Autor einer Literaturgeschichte der früheren Residenzstadt. Namhafte Autoren wie Jean Paul oder Moritz August von Thümmel waren hier zumindest zeitweise ansässig. Zu den „durchreisenden“ Dichtern gehörten Goethe, Hölderlin oder Raabe – und eben auch Fontane, der sich einen Besuch in Neuses nicht nehmen ließ. Seinen Notizen hatte ich damals zwei knappe Seiten gewidmet. Inzwischen befasste ich mich mit dem erzählerischen Werk etwas genauer (siehe Anhang). Die letzte Jahrestagung in Neuruppin rief das Interesse an Dichterstätten wieder wach und regte mich an, diesen oberfränkischen „Fontane-Ort“ nochmals in Augenschein zu nehmen. Und siehe da: Das Rückert-Denkmal könnte eine Art Spiegel für den Reisenden gewesen sein.

Im Juli 1873 verbrachte Fontane mit seiner Gemahlin sieben sommerliche Wochen in Groß-Tabarz in Thüringen. Im Tagebuch heißt es: „Oft Ausflüge nach Gotha, Reinhardsbrunn und Friedrichroda. Dann mehrtätige Reise nach Schmalkalden, Coburg, Neusaß, Eisenach, Wartburg.“ Zwei Sehenswürdigkeiten im Coburger Land standen auf dem Programm: die Lutherstube auf der Veste und das Rückert-Haus und das Rückert-Denkmal in Neuses. Fontane beschrieb beides und fertigte kleine Skizzen an. Vor dem Rückert-Monument stehend, bemängelte er die eher karge Bepflanzung:

… er war zugleich glänzend, fremdländisch orientalisch bunt und reich und dieser Rückert, der eigentlichste, der uns die Dichtung des Orients erschlossen hat, dieser Rückert muß aus Rosen und nicht aus Feldblumen aufwachsen. (Tagebuch, Thüringenreise 1873)

Rückert-Denkmal in Neuses b. Coburg. Marmorbüste von Ernst Conrad, modelliert und Ferdinand Müller gemeißelt, 1869 enthüllt

Rosen waren für Fontane ein Gebot der Angemessenheit. Die Rede zur Enthüllung des Denkmals im Jahr 1869 hätte er wohl als etwas lau empfunden: Rückert sei ein Sänger „von Allem, was blüht und lebt und webt“ (Eduard Tempeltey, zit. nach Selbmann, Friedrich Rückert und sein Denkmal). Noch heute wirkt die Büste, die nach einem Jugendbild entworfen wurde, aber eher einem Grabmal ähnelt, recht verwittert. Und sie ist immer noch rosenlos und kärglich bepflanzt.

Sollte Fontane also ein Rückert-Verehrer im Sinne des Dichter-Kults seiner Zeit gewesen sein? Wohl kaum. Über diesen Dichter hat er sich bei früheren Gelegenheiten eher verhalten oder gar abschätzig geäußert („schöne Form“, „Reimgeklingel“, Unsere epische und lyrische Poesie seit 1848). Und mit mild-ironischen Worten bedachte er Claus Weise, den „Hans Sachs von Freienwalde“, und dessen Bemühungen, für den „Altmeister Friedrich Rückert“ ein lyrisches Geburtstagspräsent zu verfassen (Das Oderland). Erst in seinem letzten Lebensjahr empfahl Fontane eine recht selektive Rückert-Lektüre („patriotische und Kindergedichte“, Was soll ich lesen?).

Warum dann diese Aufmerksamkeit für das Rückert-Dokument in Neuses? Man mag an die Freundschaft zu Max Müller denken, den Rückert-Schüler und Sanskrit-Forscher, obwohl der Kontakt inzwischen verblasst war. Man darf auch daran erinnern, dass steinerne Zeitzeugen für Fontane stets Kristallisationspunkte der Geschichte waren, namentlich in den Wanderungen (ca. 65 Nennungen des Begriffs „Denkmal“). Oft dienten sie ihm als erzählerische Impulse (Vor dem Sturm; Stine; Cécile; Irrungen, Wirrungen; Der Stechlin). Weiterhin ist auffällig, dass die Gartenlaube im Jahr 1874, ein Jahr nach dem Neuses-Besuch, einen Holzstich des Rückert-Denkmals abdruckte. Fontane könnte ihn als Leser dieser Zeitschrift bemerkt haben. Doch was hätte das alles zu besagen?

Vielleicht hilft ein Rückert-Zitat aus Graf Petöfy weiter (erste Notizen dazu dürfte Fontane in Folge eines Artikels in der Berliner Nationalen Zeitung vom 21. Mai 1880 angelegt haben). Franziska, bereits Gräfin, entnimmt dem Bücherbord Rousseaus Confessions, und findet darin zufällig ein „goldgerändertes Blatt“ mit einem Zweizeiler: „Vor jedem steht ein Bild des, was er werden soll. Solang er das nicht ist, ist nicht sein Friede voll.“ Die Romanfigur bezieht den Rückert’schen Spruch auf sich selbst und ihr momentan unklares Selbstbild. Zeitgleich gibt Fontane den Zweizeiler brieflich am 22. Mai 1880 an seine Tochter Mete weiter – und zwar in Anspielung auf ihre kritische Lebenssituation. In diesem Brief ist außerdem, beschwichtigend und relativierend, von Egoismus und menschlicher Eitelkeit die Rede. Sollte des „Brahminen Weisheit“ also doch eine nachhaltige Bedeutung für Fontane gehabt haben?

Das wäre aus existenziellen Gründen durchaus denkbar. Trug sich der Lyriker, Journalist und Reiseschriftsteller nicht zunehmend mit dem Gedanken, sich als Romancier zu betätigen und an die Öffentlichkeit zu wagen? War er nicht selbst auf der Suche nach einem neuen Selbst-Bild? In den letzten Jahren wusste sich der gereifte und anerkannte Romancier auf Fotografien durchaus standesgemäß „ins Bild zu setzen“ – am Schreibtisch (1894) und mit der berühmten Schwanenfeder (1895). Auch solche Fotografien sind ja Denkmäler, sozusagen in Licht gemeißelt. Anlässlich einer autobiografischen Skizze für die Zeitschrift Daheim lieferte er 1875 eigens ein Foto als Vorlage. Schließlich waren Autorenporträts damals wie heute ein wichtiger Teil der „Vermarktung“ von Literatur, um einmal dieses Unwort zu gebrauchen.

So könnte Fontane in Neuses durchaus an sich selbst gedacht haben – auf der Suche nach einer angemessenen Selbstdarstellung. Nicht aus Eitelkeit. Aber bitte mit Rosen.

 

Literatur:
– Benutzt wurden Sämtliche Werke. Hrsg. von Walter Keitel und Helmuth Nürnberger. München 1969 sowie die Briefe an die Tochter und an die Schwester. Hrsg. v. Kurt Schreinert und Charlotte Jolles. Frankfurt/M., Berlin 1969. Von des „Brahminen Weisheit“ ist im John-Prince-Manuskript von 1842/43 die Rede. 
– Hilfreich waren Regina Dieterle: Fontane: Biografie. München 2018 und Rolf Selbmann: Friedrich Rückert und sein Denkmal. Eine Sozialgeschichte des Dichterkults im 19. Jahrhundert. München 1982.
– Arbeiten des Verfassers: Edmund Frey/Reinhard Heinritz: Coburg aus dem „Dintenfas“. Literarische Streifzüge durch vier Jahrhunderte. Bucha bei Jena 2006 und R. Heinritz: Fontanes Vogelpark. Literarische Ornithologie im 19. Jahrhundert. Bucha bei Jena 2019.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert