Theodor Fontane und die Bahnen (4)

Eine verkehrsgeschichtliche Würdigung zum 200. Geburtstag des Dichters

Zu Teil 3.

Das Ehepaar St. Arnaud fährt in den Harz

Fontane 1863

Von Fontanes Sympathie für die Berliner Stadtbahn war hier schon zu lesen. In seinem Roman Cécile spielt die Stadtbahn gleich zu Beginn eine Rolle. Wir erleben, wenn wir rechtzeitig zusteigen, eine Fahrt über die westliche Stadtbahn. Fontane hat den Roman zwischen 1884 und 1886 geschrieben; 1886 war er erstmals erschienen. Wir lesen also von einer Fahrt aus der Frühzeit der Stadtbahn. „‚Thale. Zweiter…‘ ‚Letzter Wagen, mein Herr.‘ Der ältere Herr, ein starker Fünfziger, an den sich dieser Bescheid gerichtet hatte, reichte seiner Dame den Arm und ging in langsamem Tempo, wie man eine Rekonvaleszentin führt, bis an das Ende des Zuges. Richtig, ‚Nach Thale‘ stand hier auf einer ausgehängten Tafel.“ Der „ältere Herr“ ist Oberst a. D. Pierre von St. Arnaud; er reist mit seiner erheblich jüngeren, gesundheitlich angeschlagenen Gattin Cécile zur Erholung nach Thale. Der Zug steht schon bereit.

Es war einer von den neuen Waggons mit Treppenaufgang, und der mit besonderer Adrettheit gekleidete Herr: blauer Überrock, helles Beinkleid und Korallentuchnadel, wandte sich, als er das Waggontreppchen hinauf war, wieder um, um seiner Dame beim Einsteigen behülflich zu sein. Die Compartiments waren noch leer … Dann kam der Schaffner, um unter respektvoller Verbeugung gegen den Fahrgast, den er sofort als einen alten Militär erkannte, die Billets zu coupieren. Und nun setzte sich der Zug in Bewegung.

Die Arnauds begannen ihre Harzreise sicher auf dem Bahnhof Friedrichstraße, dem ihrem Wohnhaus am Hafenplatz am nächsten gelegenen Fernbahnhof der Stadtbahn. Links im Bild ein Stadtbahnzug mit doppelstöckigen „Japaneesen“. (Foto Sammlung Michael Günther)

Mit dem Waggon mit Treppenaufgang kann Fontane einen doppelstöckigen Waggon, einen sogenannten „Japaneesen“, wohl nicht gemeint haben. Zwar verkehrten diese Wagen damals auf der Stadtbahn, aber ihr Einsatz auf der Fernstrecke nach Thale lässt sich nicht belegen.[1] Es waren vermutlich die Treppenstufen der alten preußischen Personenwagen, deren Höhe Fontane als „Treppenaufgang“ empfand?

Die Fahrt geht über die Berliner Stadtbahn nach Westen. Mit der Aussicht aus dem Abteilfenster, soweit der Oberst und seine Gattin diese wahrnehmen, zeigt Fontane eine zeitgenössische Stadtkulisse: Sommergärten, Vergnügungslokale, die Siegessäule (zu Fontanes Zeit noch am früheren Standort), den Zoologischen Garten…

Es hatte die Nacht vorher geregnet, und der am Fluß hin gelegene Stadtteil, den der Zug eben passierte, lag in einem dünnen Morgennebel, gerade dünn genug, um unseren Reisenden einen Einblick in die Rückfronten der Häuser und ihre meist offenstehenden Schlafstubenfenster zu gönnen. Merkwürdige Dinge wurden da sichtbar, am merkwürdigsten aber waren die hier und da zu Füßen der hohen Bahnbögen gelegenen Sommergärten und Vergnügungslokale. Zwischen rauchgeschwärzten Seitenflügeln erhoben sich etliche Kugelakazien, sechs oder acht, um die herum ebensoviel grüngestrichene Tische samt angelehnten Gartenstühlen standen. Ein Handwagen, mit eingeschirrtem Hund, hielt vor einem Kellerhals, und man sah deutlich, wie Körbe mit Flaschen hinein- und mit ebensoviel leeren Flaschen wieder hinausgetragen wurden. In einer Ecke stand ein Kellner und gähnte. Bald aber war man aus dieser Straßenenge heraus, und statt ihrer erschienen weite Bassins und Plätze, hinter denen die Siegessäule halb gespenstisch aufragte. Die Dame wies kopfschüttelnd mit der Schirmspitze darauf hin und ließ dann an dem offenen Fenster, wenn auch freilich nur zur Hälfte, das Gardinchen herunter.

Der Oberst zeigt im Gegensatz zu seiner Gattin den Ehrgeiz, sich über Verlauf der Reise kundig zu machen.

Ihr Begleiter begann inzwischen eine mit dicken Strichen gezeichnete Karte zu studieren, die die Bahnlinien in der unmittelbaren Umgebung Berlins angab. Er kam aber nicht weit mit seiner Orientierung, und erst als man die Lisière (veraltet Waldrand, Anm.) des Zoologischen Gartens streifte, schien er sich zurechtzufinden und sagte: ‚Sieh, Cécile, das sind die Elefantenhäuser.‘ ‚Ah‘, sagte diese mit einem Versuch, Interesse zu zeigen, blieb aber zurückgelehnt in ihrem Eckplatz und richtete sich erst auf, als der Zug in Potsdam einfuhr. Viele Militärs schritten hier den Perron auf und ab, unter ihnen auch ein alter General, der, als er Céciles ansichtig wurde, mit besondrer Artigkeit in das Coupé hinein grüßte…Und nun wurde das Signal gegeben, und die Fahrt ging weiter über die Havelbrücken hin, erst über die Potsdamer, dann über die Werdersche. Niemand sprach, und nur die Gardine mit dem eingemusterten M. H. E. flatterte lustig im Winde.[2]

Die lustig im Winde flatternden Fenstergardinen des Zuges werden bald zum Gegensymbol der weiteren Romanhandlung.

Blick auf den Bahnhof Zoologischer Garten zur Zeit der Reise des Paares Arnaud (Foto Sammlung Michael Günther)

Von der weiteren Bahnfahrt erfährt der Leser des Romans Cécile nichts. Für die Romanhandlung ist nur interessant, was sich am Zielort der Arnauds, in Thale, entwickelt. Auf dem Balkon des Hotels „Zehnpfund“ (in dem auch Fontane selbst während einer Harzreise logiert hatte) wird der junge Zivilingenieur Robert von Gorden-Leslie auf das Paar Arnaud aufmerksam. Damit hat Fontane den Grundstein gelegt für die weitere Handlung – die jedoch im Zusammenhang mit unserem Thema nicht weiter verfolgt werden muss. Der junge Ingenieur, die junge Frau, ihr wesentlich älterer Gatte – man ahnt die aufkommenden Probleme!

Allerdings interessiert in unserem Zusammenhang eine Romanpassage, in der die Eisenbahn noch einmal in den Blick gerät – diesmal die aus Thale herausführende Strecke. Cécile glaubt, bei einem Spaziergang mit ihrem Gatten noch einen glücklichen Moment erlebt zu haben.

Der Abhang, an dem sie saßen, lief, in allmählicher Schrägung, bis an die durch Wärterbuden und Schlagbäume markierte Bahn, an deren anderer Seite die roten Dächer des Dorfes auftauchten, nur hier und da von hohen Pappeln überragt… Der Oberst nahm Céciles Hand, und die schöne Frau lehnte sich müd und auf Augenblicke wie glücklich an seine Schulter… In solchem Träumen blieb sie, bis plötzlich an der Bahn entlang die Signale gezogen wurden und von Thale her das scharfe Läuten der Abfahrtsglocke herüberklang.

Solche Szenen ließen sich noch einhundert Jahre später beobachten, als auf dieser Strecke die letzten Dampflokomotiven der Baureihe 5035 eingesetzt waren. Bis 1988 waren Züge zwischen Thale und Berlin auf der südlichen Teilstrecke auch noch mit Dampfloks bespannt. Doch zurück zu Fontane, den Arnauds und den Dampfzügen von um 1880!

Und siehe da, keine Minute mehr, so vernahm man auch schon den Pfiff der Lokomotive, gleich danach ein Keuchen und Prusten, und nun dampfte der Zug auf wenig hundert Schritt an dem Lindenberge vorüber. ‚Er geht nach Berlin‘, sagte St. Arnaud. ‚Willst du mit?‘ (Wäre Cécile nur gefahren!, Anm.) „‚Nein, nein.‘ Und nun sahen beide wieder der Wagenreihe nach und horchten auf das Echo, das das Gerassel und Geklapper in den Bergen wachrief und fast so klang, als ob immer neue Züge vom Hexentanzplatz her herunterkämen. Endlich schwieg es, und die frühere Stille lag wieder über der Landschaft.[2]

So still und friedlich wird es in der weiteren Handlung des Romans nicht bleiben; am Ende ist für Cécile der letzte Zug abgefahren.

Mit dem Zug nach Kopenhagen

Fontanes Romanfiguren reisen nicht nur auf deutschen Gleisen. In seinem Roman Unwiederbringlich pendeln Haupthandlung und Personen in den Jahren 1859 bis 1861 zwischen Schloss Holkenäs im (damals noch dänisch regierten) Schleswig und der dänischen Hauptstadt. Zwei der Romanfiguren haben nach längerer Vorgeschichte bei einem vorweihnachtlichen Fest des Kopenhagener Hofstaates auf Schloss Fredericksborg zueinander gefunden: der verheiratete Graf Holk und das Fräulein Ebba von Rosenberg mit etwas geheimnisvoller Vergangenheit. Die gemeinsame Nacht im Turmzimmer endet dramatisch mit einem Feuer im Schloss, dem das Paar mit knapper Not und vor aller Augen entkommt. Nach den Löscharbeiten ist das Schloss stark beschädigt, das Fest muss abgebrochen werden. Die wenigen verfügbaren Kutschwagen reichen zum Rücktransport für die zahlreichen Gäste und die Entourage nicht aus.

Da bringt Fontane die Eisenbahn ins Spiel: Ein Sonderzug wird bereitgestellt, der die Hofgesellschaft nach Kopenhagen bringen soll.

Ebba, voll Verlangen, den Extrazug mit zu benutzen, wollte nach dem Bahnhof; aber ihr Schwächezustand war doch so groß, daß sowohl Holk wie die beiden jungen Adjutanten in sie drangen, davon Abstand zu nehmen. Sie willigte denn auch ein und ließ sich nach dem vom Feuer verschont gebliebenen linken Flügel des Schlosses hinüberführen.

Doch in dem brandbeschädigten Schloss und im benachbarten Ort Hilleröd ist die Lage trostlos. Inzwischen ist auch der Extrazug abgefahren. Man sieht die Abreise mit dem nächsten planmäßigen Zug nun doch als einzigen Ausweg. Graf Holk schlägt

der immer heftiger fröstelnden Ebba vor, den Weg nach dem Bahnhofe hin, von dem man vorher ihrer Erschöpfung halber Abstand genommen hatte, doch lieber wagen zu wollen. Ein alter Schloßdiener war auch bereit, den nächsten Weg zu zeigen, und so brach man denn auf und hörte die Bahnhofsuhr eben sechs schlagen, als man ankam… der nächste von Helsingör her erwartete Zug kam erst in dreißig Minuten.[3]

Hauptbahnhof Kopenhagen im Jahre 1847. Hier erreichten Graf Holk und Fräulein Ebba von Rosenberg nach den aufregenden Ereignissen auf Schloss Fredericksborg wieder die dänische Hauptstadt. (Foto Wikipedia Kopenhagens Hauptbahnhof)

Das kleine Stationsgebäude ist dem ungewöhnlichen Fahrgastansturm nicht gewachsen. „Auf dem Bahnhofe selbst lief alles durcheinander, und das kleine Wartezimmer bot keinen Platz mehr, war vielmehr überfüllt von Hillerödern, alten und jungen, die sämtlich nach Kopenhagen hinein wollten…“ Fast hätten sich das adlige Fräulein Ebba und Graf Holk zwischen das einfache Volk drängeln müssen, „wenn nicht einer der Stationsbeamten ein Einsehen gehabt und das für den königlichen Hof bestimmte Separatzimmer für Holk und Ebba geöffnet hätte. Hier war es … warm und geräumig…“ Der kleine Bahnhof hatte also für ausgesuchte Fahrgäste das, was man heute als VIP-Lounge bezeichnen würde. Hier verging die Wartezeit schnell, und bald

hörte man aus der Ferne schon den Pfiff der Lokomotive, ein Zeichen, daß der erwartete Helsingörer Zug herankäme. Noch eine Minute, so hielt er, und trotzdem Wagenmangel war, gelang es doch, für Ebba ein besonderes Coupé zu finden, worein sie gebettet und mit Plaids und Mänteln zugedeckt wurde … Um acht hielt man auf dem Kopenhagener Bahnhofe…[3]

Wie es mit dem Grafen Holk und Fräulein Ebba von Rosenberg weitergeht, was für wen gemäß Romantitel „unwiederbringlich“ verloren ist, das ist in unserem Zusammenhang nicht wichtig. Es lässt sich bei Fontane nachlesen. Wir lassen Holk und Ebba in Kopenhagen zurück und fahren demnächst mit Fontane wieder auf märkischen Gleisen.

(wird fortgesetzt)

 

Anm.: Dieser Text erschien zuerst in der 4. Ausgabe 2019 der Verkehrsgeschichtlichen Blätter.

Quellenangaben
[1] Winkler, D.: Doppelstockwagen auf Berliner Bahnen in preußischer Zeit. – In: Verkehrsgeschichtl. Bl. – Berlin 44 (2017) 6. – S. 154–167
[2] Fontane, Th.: Cécile. In: Sämtliche Romane. – Phaidon Verlag Essen, o. J. (417, 448)
[3] Fontane, Th.: Unwiederbringlich. In: Sämtliche Romane. – Phaidon Verlag Essen, o. J

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