Erinnerung und Wald. Im Spreewald und anderen Wäldern

Überlappende Erinnerungen

Wenn die verschiedenen Orte, die Fontane in seinen Wanderungen durch die Mark Brandenburg beschreibt, erst durch dieses Buch einem breiteren Publikum bekannt wurden, ist dieser Ruhm im Lauf des Jahrhunderts längst über die Grenzen Brandenburgs und Deutschlands gelangt: Als wir letztes Jahr nach Deutschland gezogen sind, stand der Spreewald als eines der ersten sommerlichen Ausflugsziele in unseren Plänen fest. Denn mein Mann wollte, seitdem er als Jugendlicher in der brasilianischen Provinz einen Dokumentarfilm im Kabelfernsehen gesehen hat, den Spreewald besuchen. Ob Fontane in diesem Film erwähnt wurde, weiß er nicht mehr. So wie der Name Fontanes, auch nachdem er Die Birnen von Ribbeck von Friedrich Christian Delius kurz darauf gelesen haben müsste, blieb bis kurz vor Anfang dieses Jubiläumsjahrs für ihn kein Begriff. Wenn Fontane uns metaphorisch auf dem touristischen Ausflug begleitete, war diese Begleitung auch in einem materiellen Sinn wahr: Eine Auswahl der Wanderungen lag, allerdings während des Tages ungelesen, in meinem Rucksack.

In den Wanderungen selbst liegen die Erinnerungen Fontanes oft aufeinandergeschichtet, indem ein Ort Erinnerungen an einen anderen bekannten Ort hervorruft: Im Vorwort berichtet Fontane, wie „plötzlich die unstete Phantasie weiter in ihre Erinnerungen zurückgriff und ältere Bilder vor das Bild dieses Sees [des Loch Leven] und dieser Stunde schob. Leisen Tones klang es herüber. Es waren Bilder aus der Heimat, ein unvergessener Tag“ (Wanderungen Bd. 1, S. 2). Der Anblick auf das Loch Leven Castle erinnert an eine Bootsfahrt Jahre zuvor in Rheinsberg, und das Bild beider Schlösser, des Rheinsberger Schlosses und des Loch Leven Castle, liegen, „wie eine Fata Morgana“ (ebd., S. 3), übereinander. Auch auf seinem Ausflug in den Spreewald ruft das Lübbenauer Schloss Erinnerungen an ein britisches Schloss, an das Warwick Castle, hervor (Wanderungen Bd. 6, S. 27).

Der Lübbenauer Schlosspark. Der Park erinnerte Fontane an das Warwick Castle, England. Quelle: Rob Packer.

Auf diese Weise dachte ich, dass eine Kahnfahrt durch den Spreewald mich an Kahnfahrten während meines Bachelor-Studiums in Cambridge erinnern würde. Auch dort greift man zum Staken, um die seichten Wässer des Cam-Flusses zu befahren, und wie alle Studierenden dort war ich mal mit dem Stechkahn unterwegs, nachts mit Kommilitonen flussaufwärts nach Grantchester oder tagsüber mit meinen Eltern durch die Colleges.

Kähne in Cambridge. Quelle: Jorge Royan, Wikimedia Commons.

Im Vergleich zu den Cambridger Kähnen fiel auf den ersten Blick auf, dass die Kähne im Spreewald wesentlich größer sind und dass es keine Gelegenheit für debütierende Kahnfahrer gibt. Wir suchten den Steg auf, stiegen in den nächsten Kahn ein und stießen vom Ufer ab.

Eine Kahnfahrt durch die Dörfer des Spreewalds

Auf dem Wasser dachte ich nicht mehr an Cambridge: Die Stadt war schon hinter uns und die Bäume warfen einen zu dichten Schatten, um Vergleiche mit einer englischen Landschaft zu ziehen. Und wir wurden nicht nur durch den heutigen Spreewald gefahren, sondern auch durch die melancholischen Erinnerungen unseres Kahnfahrers. Als die ersten Kanus uns entgegenkamen, berichtete er, wie in den letzten Jahren die Zahl der Kanus sich vervielfacht habe und wie ihr schnelleres Kielwasser die Ufer des Waldes schwäche und langsam erodiere. Er reichte uns Fotos, auf denen das bäuerliche Leben am Anfang des 20. Jahrhunderts oder FDJ-Ausflüge zu sehen waren. Der alte Lebensstil scheint vor einem Umbruch zu stehen: Die jungen Leute seien oft weggezogen und kämen danach fast nie zurück, um sich wieder dort niederzulassen, denn das Leben in den Städten sei komfortabler.

Lehde. Spreewalddorf, das auch Fontane besuchte. Quelle: Rob Packer.

Im Jubiläums- und Wahljahr 2019 fand seine Rede unter unserer Gruppe, die fast ausschließlich aus Brandenburgern, Sachsen und Thüringern bestand, schnell Anerkennung, aber als eine ältere Dame kurz vor dem Spreewalddorf, Lehde, fast mit einem Seufzer sagte, „Alles ist damals so schnell gelaufen“, wurde ich abgelenkt, und meine Gedanken richteten sich anderswohin.

Fontane beschreibt Lehde als „ein bäuerliches Venedig […] in Taschenformat“ (Wanderungen, Bd. 4, S. 14) und wie die Spree die große Dorfstraße bilde. Im Unterschied zu einem städtischen Dasein passiert alles auf dem Wasser und auf den Wasserstraßen; ich dachte an andere, mir bekannte Dörfer, die nur mit dem Boot zu erreichen sind. Auf der rechten Seite streckte bis in die Unendlichkeit ein Kanal, der wohl der ist, den Fontane „mit zu den Schönheiten und Sehenswürdigkeiten des Spreewaldes“ (Wanderungen, Bd. 4, S. 15) zählte. Für mich blendete es ein anderes Bild ein: Es waren die schmalen, von Bäumen überschatteten Kanäle, die in der Hochwasserjahreszeit öffnen und die Abkürzungen zwischen den riesigen Mäandern eines Flusses anbieten. Es waren Erinnerungen an die Jahre, in denen ich im brasilianischen Amazonas unterwegs war, um ein nachhaltiges Entwicklungsprojekt auf die Beine zu bringen. Und die Veränderungen in den Spreewälder Dörfern waren, wenn auch nicht identisch, denen in den Dörfern des Amazonas zumindest ähnlich.

Eine Bootsfahrt durch die Dörfer des Juruá-Flusses

Letzten März, als der Umzug nach Deutschland schon festgelegt war, war ich zum ersten Mal in einem der entlegensten Dörfer, um den Einwohnern die bisher geleistete Arbeit vorzustellen. Wir waren insgesamt mehr als dreißig Stunden auf einem Schiff flussaufwärts gefahren, aber ich konnte aufgrund meines Rückflugs nicht mit den anderen weiterfahren und musste vorzeitig in die Stadt zurück. Der Bootsfahrer, Jordes, steuerte uns durch eben diese Kanäle, die in die des Spreewalds einblendeten, und als wir in einem Dorf ankamen, wo wir übernachten würden, fing er an, mir über sein Leben zu erzählen. Er sei in einem Dorf aufgewachsen, an das wir vor mehreren Stunden vorbeigefahren waren, und sei nach der Stadt gezogen, als er fünfzehn war.

Ein Kanal in der Hochwasserjahrzeit auf dem Juruá-Fluss. Quelle: Rob Packer.

Das war ungefähr zehn Jahre her, und ich fragte ihn, ob er es sich vorstellen könnte, wieder im Dorf zu leben. Er verneinte. Man gewöhne sich an das Leben in der Stadt. In der Stadt habe man fließendes Wasser und Elektrizität 24 Stunden am Tag. Manchmal fänden in der Stadt Überfälle und Einbrüche statt, aber dafür könne man schließlich in einem Bett und nicht immer in der Hängematte schlafen. Und letztlich sei seine Kusine gestorben, weil sie vom Blitz getroffen worden sei, als sie im Fluss badete (auch im Hubschrauber ist der nächste Notarzt mindestens ein paar Stunden entfernt). Er würde gern auf dem Dorf leben, aber er schaffe es nicht mehr. Ich habe andere kennengelernt, die zwischen Dorf und Stadt leben und als Gegenbeispiel dienen, aber die Selbstverständlichkeit seiner Antworten war so einleuchtend: Man gewöhnt sich das umständlichere Leben auf dem Dorf schnell ab, und ich konnte mich nicht betrügen, dass ich an seiner Stelle nicht die gleiche Entscheidung getroffen hätte.

Ich fühlte jedoch ein leichtes Unbehagen, weil es die Dorfbewohner sind, die Süßwasserschildkröten und die riesigen Fische gegen Wilderei schützen. Ähnlich sind es die Spreewälder, die die Kanäle instand halten, damit die Landschaft nicht zu Sumpf wird. Wenn diese nicht da wären, was geschieht mit dem Naturraum?

Ankunft in Lübbenau

Hinter den Worten unseres Bootsfahrers im Spreewald vermutete ich ein ähnliches, unbehagliches Gespräch mit ähnlichen Ergebnissen. Als wir in Lübbenau ankamen, endete er seine Erinnerungen mit der Bemerkung, „vielleicht damals war das Zusammenleben besser, aber als die Wende kam, war ich glücklich“. Ich wollte mehr mit ihm über den Spreewald reden, aber im Handumdrehen setzte er die ganze Gruppe ab und ganz wie Fontanes Bootführer Birkig „ging seinem Dienst nach“ (Wanderungen, Bd. 4, S. 21).


Literatur:
Theodor Fontane: Wanderungen durch die Mark Brandenburg. 7 Bde. Berlin/Weimar 1992.

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