Die Aktualität Theodor Fontanes

Zum 100. Geburtstag Fontanes im Jahre 1919 schrieb Kurt Tucholsky: „Der alte Fontane ist nicht am 20. September 1898 gestorben. Er starb am 1. August 1914. Er wäre heute etwas völlig Unmögliches.“ Fontanes Welt ging mit dem Ersten Weltkrieg zugrunde. 2019 an seinem 200. Geburtstag liegt sie weit hinter uns. Und doch: Fontanes Werk ist lebendiger denn je, er wird viel gelesen und viel gefeiert. Das liegt an seinen Wanderungen durch die Mark Brandenburg, ein Reiseführer, der auch heute noch vielen Besuchern der Mark von Nutzen ist. Und es liegt an seinen Romanen, deren Thematik weiterhin Leser anzieht. Mögen die Gestalten auch in wilhelminischen Gewändern auftreten, so sind ihre Probleme doch immer noch uns nahe: Liebe und Leid, Freundlichkeit und Missgunst, die Sehnsucht nach Glück und die nicht immer heitere Resignation.

Sieht man sein Werk durch, fallen darüber hinaus drei Gesichtspunkte auf, die uns heute noch vorbildlich sein können und gerade heute, da die politische Diskussion an Schärfe zugenommen hat. In diesen drei Punkten zeigt sich Fontanes durchweg humane Haltung.

  1. Der Mensch ist nicht identisch mit seiner politischen Meinung, er ist mehr als eine politische Meinung.
  2. Der Mensch wird nicht durch seine Herkunft determiniert. Jeder hat seine individuelle Eigenart.
  3. Niemand hat das Recht, anderen vorzuschreiben, wie sie leben sollen.

Diese schlichten Erkenntnisse beruhen auf seiner Lebenserfahrung, auf seinem Umgang mit unterschiedlichen Menschen unterschiedlicher Herkunft. So spricht er von seinem Freund Wilhelm von Merckel, der ihm lebenslang hilfreich zur Seite stand. Von Merkel stammt der schlimme Satz: „Gegen Demokraten helfen nur Soldaten.“ Er war also konservativ bis in die Knochen im Unterschied zu Fontane, der 1848, als die Soldaten gegen die Demokraten halfen, auf der Seite der Revolutionäre stand. Merckel, schreibt er, war zutiefst human, sah nicht auf Bildungsgrad und Besitz, sondern sah den Menschen an: Was ist das für ein Mensch? Danach entschied er. So gefiel ihm der Mensch Fontane, mochte er auch mit dessen politischen Anschauungen nicht einverstanden sein. Der Mensch ist mehr als seine politische Meinung. Das steht im Gegensatz zu denen, die einen Menschen, dessen Meinung ihnen nicht gefällt, gänzlich verwerfen, ja, ihn mundtot machen möchten. Das gilt natürlich auch für den, der seine politische Meinung so offensiv vertritt, dass dahinter seine Eigenart verloren geht. Auch er sollte unterscheiden lernen zwischen politischer Meinung und menschlicher Haltung.

Diese Offenheit zeigte Pastor Schultz, durch den Fontane ein Jahr lang ans Krankenhaus Bethanien kam, um zwei Diakonissen als Apothekerinnen auszubilden, für ihn eine gute Zeit, hatte er doch ein Auskommen. Schultz, so Fontane, „war herb und hart, herrschsüchtig, ehrgeizig und von der Anschauung durchdrungen, dass man die Welt mit Bibelkapiteln – unter allen Regierungsformen die furchtbarste – regieren könne, daneben aber doch auch von Eigenschaften, denen selbst der Feind den Respekt nicht versagen konnte.“ Fontane versteckt manchmal schöne Weisheiten in Nebensätzen oder – wie hier – in Parenthese: Mit Bibelkapiteln die Welt zu regieren, das sei die furchtbarste aller Regierungsformen. Das wird auch für andere heilige Bücher gelten.

Doch zu Schultz: „Er war nicht mein Geschmack, aber ein Gegenstand meiner Hochachtung.“

Was nun tatsächlich Hochachtung verdient, war die Toleranz des Pastors, nichts Selbstverständliches für einen Menschen der strengsten Observanz, mit Fontane zu reden. So blieb Schultz Fontane immer freundlich gewogen, wenn er auch mit dessen Meinungen selten übereinstimmte, ja, sie sogar bekämpfte. So wie man gegnerische Bücher liest, um sich von der Meinung des Gegners ein Bild zu machen, so studierte Schultz den jungen Apotheker. Auch dessen Urteile über Kirche und Staat, mit einer gewissen Naivität geäußert – so Fontane – nahm er hin und prüfte sie, ob nicht doch etwas Richtiges daran zu finden wäre. „Er war gescheit genug, um jede aufrichtige Meinung, richtig oder falsch, klug oder dumm, der Betrachtung wert zu halten.“

In seiner Zeit bei der sehr konservativen Kreuz – Zeitung war ihm diese Sicht von Nutzen. Zehn Jahre lang schrieb Fontane die englischen Korrespondenzen, um mit dem Gehalt seine Familie zu ernähren. Hier machte er die Erfahrung, dass die Standespersonen nicht nur Vertreter ihres Standes sind, sondern Individuen, die jeweils nach ihrem Charakter zu beurteilen sind. Die Menschen, die er dort traf, entsprachen selten dem Klischee des verknöcherten, des intoleranten Konservativen, des dümmlichen, schneidigen Adligen. Sie waren meistens  freundlich, jovial und dem Leben zugewandt in all seinen erfreulichen Erscheinungen.

Sein Urteil über den Adel ist durchweg kritisch, in seinen späten Tagen sogar sehr kritisch. Aber immer wieder hebt er Einzelne hervor. So etwa im vierten Band der Wanderungen: „Wirklich, es lebt in unserem Adel nach wie vor ein naives Überzeugtsein von seiner Herrscherfähigkeit und Herrscherberechtigung fort, ein Überzeugtsein, das zum Schaden ebenso sowohl des Ganzen wie der einzelnen Teile noch auf lange hin das Zustandekommen einer auf Prinzipien und nicht bloß auf Vorurteil und Interessen basierten Torypartei verhindern muss.“ Er kennt die englischen Verhältnisse und er sieht den Mangel in Preußen. Eine Torypartei müsste eben auch das Bürgertum mit einbeziehen. Doch diese Bürger würden durch „den Pseudokonservativismus unsres Adels, der schließlich nichts will als sich selbst, und das, was ihm dient, abgeschreckt.“

Doch dann macht er eine Ausnahme. Die erfreuliche Seite des Adels zeigt sich wieder in Einzelnen, im Individuum, das durch seinen Stand nicht völlig bestimmt wird. So seien viele Adlige, wenn man mit ihnen am Kamin säße oder im Park spaziere, im Gespräch durchaus offen und kritisch, kritischer, als man es annehmen sollte. Lässt er seine „Stachelrüstung“ fallen, habe der Adlige durchaus reizende Tugenden: „ein gut Teil Gutmütigkeit, ein noch größeres von gesundem Menschenverstand und ein allergrößtes von Kritik. Und diese Kritik ist das Beste.“

Ebenso so streng ist sein Urteil über die Bourgeoisie. Beispiel Frau Jenny Treibel. Aber auch hier kann er durchaus die Einzelnen verständnisvoll zeichnen: etwa den alten Treibel, der doch auch seine humorvollen Seiten hat. Und die ehrgeizige Jenny wird ganz am Schluss des Romans doch noch freundlich gesehen. Auch hier also, wiewohl er diese Geld – Bourgeosie gar nicht leiden mag, lässt er mitunter Milde walten.

Nach den zehn Jahren bei der Kreuz – Zeitung war er fast zwanzig Jahre lang Theaterkritiker der liberalen Vossischen Zeitung. Er besprach alle Premieren im Königlichen Schauspielhaus am Gendarmenmarkt (heute Konzerthaus). In diesen Besprechungen ließ er sich auch zu politischen Bemerkungen hinreißen, herausgefordert vom den Themen der Stücke. So etwa am 31. Oktober 1871 nach der Aufführung eines Werkes  des französischen Dramatikers Eugene Scribe „Feenhände“. Es zeigt eine Gräfin, die unter Pseudonym als „Putzmacherin“ in einem Modehaus arbeitet, um Geld zu verdienen. Als die Verwandtschaft es bemerkt, wendet sie sich von ihr ab. Schließlich aber rettet die Gräfin das verschuldete Landgut der Familie und heiratet standesgemäß einen Grafen. Fröhliches Ende. Fontane ist nicht einverstanden.

Eine liebenswürdige Putzmacherin von altem Adel ist unzweifelhaft mehr wert als eine prätentiöse Bettelgräfin – es kommt nur darauf an, ob diese Dinge in einem Einzelfall an uns herantreten oder ob sie mit einem <Gehet hin und tut desgleichen>, will also sagen, als ein neues Zeitevangelium, prinzipiell und gesinnungstüchtig, von der Bühne her zu uns sprechen.

Auch hier will er den Einzelfall gelten lassen, nicht aber das „Zeitevangelium“, in dem einige sich anmaßen, allen anderen vorschreiben zu können, wie sie leben sollen. Hier ist er energisch dagegen: die „Gesinnungstüchtigen“, die wissen, was für alle Menschen gut ist, diese Ideologen lehnt er ab. Auch hier soll jeder Einzelne die Möglichkeit erhalten, nach seinen eigenen Vorstellungen leben zu können. Hier wäre der Satz von Friedrich II. am Platze: jeder soll nach seiner Facon selig werden, nach seiner, nicht nach meiner. Die Aktualität dieser Sentenz ist unübersehbar.

Erstaunlich genug, dass in dieser Besprechung von Eugene Scribe noch eine andere Einsicht steckt: „Die Welt liegt in Wehen; wer will sagen, was geboren wird! Der Sturz des Alten bereitet sich vor.“ Das schrieb er im Oktober 1871, als Deutschland im nationalen Taumel die Reichseinheit feierte: ein für alle mal schienen die Deutschen unter ihren Fürsten vereint. Doch Bismarcks Reich hielt nicht einmal fünfzig Jahre. Im August 1914 fand es sein Ende.

Fontane schwankte immer zwischen konservativ und liberal, wenn er auch in späteren Jahren sich ausdrücklich zu den „Nationalliberalen“ zählte. Er fügte jedoch hinzu: „Aber wohin ich auch geschoben werden mag, ich werde immer zwischen politischen Anschauungen und menschlichen Sympathien zu unterscheiden wissen.“ In einem Aufsatz über den Romancier Willibald Alexis, der wie er aus der französischen Kolonie stammte, schrieb er:

Dass <alle Dinge haben zwei Seiten> war in ihm zu Fleisch und Blut geworden; er war doppelsichtig und sah Avers und Revers der Medaille zu gleicher Zeit. Eine wunderbare Mischung von Vertrauen, Spott, Zweifel, aber voll Zweifel nur den Dingen gegenüber. Im Verkehr mit den Menschen ein Kind ohne Argwohn.

 

Der Autor war Professor am Institut für Literaturwissenschaft der TU Berlin; er veröffentlichte eine Biographie Fontanes im Verlag C. H. Beck.

One comment

  1. Elke Beerhalter says:

    Lieber Herr Zimmermann, willkommen im Fontane Blog. Der Text zeigt genau die Haltung zum Leben, die ich, ich glaube ich kann sogar wir für die Redaktion des Blogs sagen, an Fontane so schätzen, genau deshalb wird er aktuell bleiben. Und es wäre wahrlich wünschenswert, wenn das Credo Fontanes im politischen, medialen, sozialen und persönlichen Umgang miteinander auch dasjenige unseres Landes, unserer Gesellschaft wäre. Jeder möge sich selbst prüfen und damit beginnen. Beste Grüße

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