Theodor Fontane und die Bahnen (5)

Eine verkehrsgeschichtliche Würdigung zum 200. Geburtstag des Dichters

Zu Teil 4.

Mit Effi Briest zwischen Kessin, Hohen-Cremmen und Berlin

Fontanes Roman Effi Briest war und ist Pflichtlektüre in höheren Schulklassen und damit auch Anlass für Aufsatzthemen und Prüfungsfragen. Aber wurde in der Schule jemals eine der Reiseszenen mit der Eisenbahn thematisiert, die sich im Roman vielfach finden? In unserer Reihe soll das nun Thema sein!

Fontane 1879

Die Romanhandlung wechselt zwischen Berlin und den (von Fontane erfundenen) Orten Hohen-Cremmen im havelländischen Luch und Kressin an der pommerschen Ostseeküste. Ziemlich zu Beginn der Handlung – Effi ist frisch mit Baron Geert von Innstetten verlobt worden – reist die junge Frau mit ihrer Mutter vom heimischen Hohen-Cremmen nach Berlin. Man will Einkäufe für die bevorstehende Heirat tätigen und die Atmosphäre der jungen Reichshauptstadt kennenlernen. Effis Vetter Dagobert, ein junger Leutnant beim Alexanderregiment, weiß den Aufenthalt in Berlin als „himmlische Tage für alle drei“ zu gestalten: „…so saßen sie denn mit ihm bei Kranzler am Eckfenster oder zu statthafter Zeit auch wohl im Café Bauer und fuhren nachmittags in den Zoologischen Garten…“ Die glücklichen Tage in Berlin gehen zu Ende. „Vetter Dagobert war am Bahnhof, als die Damen ihre Rückreise nach Hohen-Cremmen antraten … Gegen Mittag trafen beide Damen an ihrer havelländischen Bahnstation ein, mitten im Luch, und fuhren in einer halben Stunde nach Hohen-Cremmen hinüber.“ [1, alle folgenden Zitate bis Quelle [2] am Ende des Beitrages sind aus Quelle [1]]

Hohen-Cremmen hat Fontane für seine Roman-Briests erfunden. Als Vorbilder für diesen Ort und für die Person Effi dienten ihm offenbar das Dorf Zerben nordöstlich von Magdeburg und die im Zerbener Schloss lebende Elisabeth Freiin und Edle von Plotho. Ein Berliner Gesellschaftsskandal von überregionalem Ausmaß, in den Elisabeth von Plotho verwickelt war, lieferte Fontane die Idee für seinen Roman. Die Situation einer Frau, die zwischen zwei rivalisierende Männer gerät, von denen einer den anderen im Duell erschießt, stellt Fontane ins Zentrum seines Romans. Die Details des Zerbener Skandals will er vernachlässigen, das gesellschaftliche und menschliche Problem ist sein Thema. Und für diese Unterscheidung benutzt Fontane andere Namen für seine Roman-Orte und -Personen, und auch das Leben von Effi im Roman nimmt am Ende einen anderen Verlauf als die Biografie der Edlen von Plotho.

Zurück zur Romanfigur Effi Briest und zu den Bahnreisen! Inzwischen wurde geheiratet; die Hochzeitsreise steht bevor, standesgemäß nach Süden, schließlich bis Italien. Vater Briest erinnert seine Frau daran, dass der Schwiegervater seinerzeit ihre Hochzeitsreise verhindert hatte. „Aber Effi macht nun eine Hochzeitsreise. Beneidenswert. Mit dem Zehnuhrzug ab.“ Die Reise ist für die junge Effi aufregend und voller Erlebnisse – für unser Thema aber nicht von Interesse. Die Eisenbahn kommt erst wieder bei der Rückankunft in Berlin ins Spiel.

Ein Foto vom Bahnhof Klein-Tantow kann aus genannten Gründen nicht angeboten werden. Vielleicht hatte sich Fontane von dem hier abgebildeten und für Pommern typischen Bahnhof Schlawe (heute Sławno) inspirieren lassen? Zumindest hat Schlawe einige Gemeinsamkeiten mit dem literarischen Klein-Tantow: Der Bahnhof Schlawe ist auch „vielgleisig“, liegt etwa zwei Meilen entfernt von der Ostseeküste, von hier führt eine Bahnstrecke über Zollbrück und Hammermühle nahe Varzin, und der im Roman erwähnte Danziger Schnellzug passiert Schlawe. Andererseits hätte der Bahnhof Schlawe, von dem aus Züge in vier Richtungen verkehrten, den Vorsatz „Klein-“ nicht verdient. (Sammlung Wolf-Dietger Machel)

„Am 14. (November) früh traf er (Innstetten mit Effi) dann auch mit dem Kurierzuge in Berlin ein, wo Vetter Briest ihn und die Kusine begrüßte“ Innstetten drängt wegen seiner Dienstgeschäfte in Kessin zu schneller Weiterfahrt. Doch man „nutzt die zwei bis zum Abgange des Stettiner Zuges noch zur Verfügung bleibenden Stunden“ zu einer kurzen Berlin-Visite mit einem „Gabelfrühstück … Um Mittag war man wieder auf dem Bahnhof und nahm hier … unter herzlichem Händeschütteln Abschied voneinander. Noch als der Zug sich schon in Bewegung setzte, grüßte Effi vom Kupee aus … Es war eine angenehme Fahrt, und pünktlich erreichte der Zug den Bahnhof Klein-Tantow, von dem aus eine Chaussee nach dem noch zwei Meilen entfernten Kessin hinüberführte.“ Das Paar wird am Bahnhof erwartet, weil Innstetten „bereits von Stettin aus an seinen Kutscher telegraphiert hatte: ‚Fünf Uhr, Bahnhof Klein-Tantow. Bei gutem Wetter offener Wagen.'“ Das Wetter war gut, und so stand Kutscher Kruse mit offenem Gefährt schon bereit. Das Paar steigt ein. „Und über die Schienen weg, die vielgleisig an der Übergangsstelle lagen, ging es in Schräglinie den Bahndamm hinunter…“

In seinen Romanen beschreibt Fontane Handlungsorte in Berlin und auch die Berliner Eisenbahnlandschaft oft so genau, dass man viele dieser Orte trotz zeitbedingter Veränderungen heute noch ermitteln kann. Doch bei jenen Teilen von Effi Briest, die in Pommern spielen, sind dem Dichter die Handlungsabläufe und die Charakteristik von Personen offenbar wichtiger als die geografische Genauigkeit. Fontanes Kessin an der Ostseeküste hat mit keinem der tatsächlich vorhandenen, meist im mecklenburgischen und vorpommerschen Binnenland liegenden Dörfer gleichen Namens zu tun. Der Dichter benutzte den Namen für einen fiktiven Roman-Ort, den er nach seinen Kindheits- und Jugenderinnerungen an Swinemünde gestaltete, ohne sich dabei auf eine Position Kessins an der Mündung der Swine festzulegen.

Zu Beginn des 9. Kapitels spielt Fontane geradezu mit realen Ortsnamen: Nach der Ankunft des Paares in Kessin kommt Landrat Innstetten der gesellschaftlichen Verpflichtung nach, seine junge Gattin mit dem Landadel der Umgebung bekanntzumachen. Von Kessin aus fährt das Paar nach den Romanorten Rothemoor, Morg(e)nitz, Papenhagen (heute Głowaczewo), Dabergotz…; Orte mit diesen Namens gab und gibt es tatsächlich, jedoch liegen sie voneinander so weit entfernt (bei Malchin, auf Usedom, bei Kolberg, in der Ostprignitz), dass sie sich als nähere Umgebung eines einzigen bestimmten Ortes nicht zuordnen lassen. Sie sind bei Fontane Roman-Orte – und passen so zu Kessin.

Ähnliche Schwierigkeiten ergeben sich, sofern man ein Vorbild für den Bahnhof Klein-Tantow ermitteln wollte. Wenn man die in der Romanhandlung verstreuten Angaben zur Lage dieses Bahnhofs miteinander vergleicht, lässt sich ein solcher Bahnhof nicht finden. Das Klein-Tantow Fontanes ist offenbar eine „Mischung“ verschiedener Eindrücke von Bahnhöfen in Pommern. Von der Station Tantow an der Stettiner Bahn hat Fontane sich nur einen Teil des Namens abgeleitet. Gegen eine Lage von Klein-Tantow an der Stettiner Bahn spricht, dass dieser Bahnhof nur „zwei Meilen“, d. h., etwa fünfzehneinhalb Kilometer, vom Küstenort Kessin entfernt liegt. Die Bahnstrecke nach Stettin kommt jedoch keinem Ort an der Ostseeküste so nahe. Innstetten hat, wie oben zitiert, auf der Reise von Berlin nach Klein-Tantow in Stettin seinem Kutscher die bevorstehende Ankunft telegrafiert. Daraus lässt sich schlussfolgern, Klein-Tantow liegt von Berlin aus hinter Stettin.

„…noch eine Stunde Eisenbahn“ und Innstetten hatte die Station Hammermühle erreicht. Für die sechs Kilometer Wegstrecke nach Varzin dürfte der Reichskanzler ein passendes Gefährt bereitgestellt haben. In dem als Forstschule genutzten Schloss Varzin ist heute ein Zimmer eingerichtet, dessen Ausstattung an die Zeiten Bismarcks erinnert. Kann man sich Bismarck und Innstetten vor diesem Kamin vorstellen? (Foto Michael Günther)

 

Überhaupt sind die Angaben zur Lage des Bahnhof Klein-Tantow teilweise widersprüchlich: Vor dem am Bahnhof gelegenen Gasthaus „Zum Fürsten Bismarck“ gabelte sich „der Weg und zweigte, wie rechts nach Kessin, so links nach Varzin hin ab, dem damaligen Wohnsitz von Reichskanzlers Bismarck. Vom Bahnhof Klein-Tantow aus blickte Effi, „als der Zug vorbeijagte“, in die Runde, und „da drüben lag Varzin“. Der Sitz des Reichskanzlers liegt für Effi an dieser Stelle des Romans also in Sichtweite. Doch als Innstetten, der von Bismarck protegiert wird, einer Einladung des Reichskanzlers nach Varzin folgt, muss er „die fast zweistündige Fahrt bis an den Bahnhof … im Schlitten“ zurücklegen. Von dort ist es „noch eine Stunde Eisenbahn“. So nahe, dass Innstetten einfach den vor dem Gasthaus „Zum Fürsten Bismarck“ abzweigenden Weg nehmen konnte, von wo Effi im 11. Kapitel des Romans Varzin sehen konnte, lag Bismarcks Landsitz dem Bahnhof Klein-Tantow wohl doch nicht! Fontane schuf sich also einen Bahnhof, der in die Handlung seines Romans passt, aber nicht in die Geografie der Landschaft. Der Bahnhof Klein-Tantow ist auch ein fiktiver Ort, der sich so im realen Pommern nicht finden lässt.

Dagegen ist Varzin (heute Warcino) ein realer Ort, der über vierzig Kilometer südlich von Stolpmünde (heute Ustka) in Hinterpommern im Landesinneren liegt. Eine Bahnstation, die tatsächlich in der Nähe des Bismarck-Sitzes Varzin lag und die der Reichskanzler für die An- und Abreise damals auch nutzte, war Hammermühle (heute Kępice) an der Nebenstrecke Zollbrück (heute Korzybie)–Rummelsburg/Pommern (heute Miastko). Doch wir wollen uns nun nicht weiter mit der Suche nach der Lage von Klein-Tantow verzetteln. Nehmen wir Klein-Tantow als gegeben! Wenn es um die Darstellung von Eisenbahnatmosphäre gegen Ende des 19. Jahrhunderts geht, wirken Fontanes Beschreibungen wieder authentisch.

Bei einem zu Effis Ablenkung unternommenen Kutschausflug hält Innstetten „unten am Bahndamm vor dem Gasthause ‚Zum Fürsten Bismarck’…“ Der redselige Wirt sucht das Gespräch mit dem Landrat und hätte es gern fortgeführt, „…wenn nicht in ebendiesem Augenblicke die von der Bahn her herüberklingende Signalglocke einen bald eintreffenden Zug angemeldet hätte.“ Der Wirt kennt die Züge! „‚Das ist der Danziger Schnellzug; er hält hier nicht, aber ich gehe doch immer hinauf und zähle die Wagen … Hier gleich hinter meinem Hofe führt eine Treppe den Damm hinauf, Wärterhaus 417…'“ Effi ist begeistert; sie sieht gern, aber auch mit Wehmut den Zügen nach.

Und so machten sich denn alle drei auf den Weg und stellten sich, als sie oben waren, in einem neben dem Wärterhause gelegenen Gartenstreifen auf … Der Bahnwärter stand schon da, die Fahne in der Hand. Und jetzt jagte der Zug über das Bahnhofsgeleise hin und im nächsten Augenblick an dem Häuschen und an dem Gartenstreifen vorüber. Effi war so benommen, daß sie nichts sah und nur kurz dem letzten Wagen, auf dessen Höhe ein Bremser saß, ganz wie benommen nachblickte. „Sechs Uhr fünfzig ist er in Berlin“, sagte Innstetten, „und noch eine Stunde später, so können ihn die Hohen-Cremmner, wenn der Wind so steht, in der Ferne vorbeiklappern hören. Möchtest du mit, Effi?“

Die Frage reißt bei Effi eine Wunde auf; wieder wird ihr die Einsamkeit in Kessin bewusst, und sie erinnert sich an glücklichere Zeiten im Hohen-Cremmener Elternhaus.

Landrat von Innstetten macht schließlich dank seiner Verbindungen zu Kanzler Bismarck Karriere und wird ins Innenministerium berufen. Effi ist begeistert; man wird nach Berlin ziehen! Innstetten lässt sie zu Erkundungen in der Reichshauptstadt vorausfahren und bringt sie zum Bahnhof Klein-Tantow.

Oben war der Zug noch nicht angemeldet, und Effi und Innstetten schritten auf dem Bahnsteig auf und ab. Ihr Gespräch drehte sich um die Wohnungsfrage; man war sich einig über den Stadtteil und daß es zwischen dem Tiergarten und dem Zoologischen Garten sein müsse. „Ich will den Finkenschlag hören und die Papageien auch“, sagte Innstetten, und Effi stimmte ihm zu. Nun aber hörte man das Signal, und der Zug lief ein; der Bahnhofsinspektor war voller Entgegenkommen, und Effi erhielt ein Kupee für sich. Noch ein Händedruck, ein Wehen mit dem Tuch, und der Zug setzte sich wieder in Bewegung.

„Auf dem Friedrichstraßen-Bahnhofe war ein Gedränge…“, so dass Effi, Mama und Vetter Dagobert längst in der Menge verschwunden sind. (Sammlung Michael Günther)

Der Übergang auf der Reise ist abrupt: von der verträumten pommerschen Station gerät Effi ins turbulente Zentrum der Reichshauptstadt.

Auf dem Friedrichstraßen-Bahnhofe war ein Gedränge; aber trotzdem, Effi hatte schon vom Kupee aus die Mama erkannt und neben ihr den Vetter Briest. Die Freude des Wiedersehens war groß, das Warten in der Gepäckhalle stellte die Geduld auf keine allzu harte Probe, und nach wenig mehr als fünf Minuten rollte die Droschke neben dem Pferdebahngeleise hin, in die Dorotheenstraße hinein und auf die Schadowstraße zu, an deren nächstgelegener Ecke sich die „Pension“ befand.

Fontane beschreibt hier die Örtlichkeiten so genau, dass sich die Lage dieser „Pension“ als „Lamprechts Hotel“, damals eines der erstrangigen Häuser, ermitteln lässt. Die Ankunft auf „dem Friedrichstraßen-Bahnhofe“ hat allerdings einen „Schönheitsfehler“: Zum Zeitpunkt dieses Teils der Romanhandlung – im Jahre 1879/80 – befand sich der Bahnhof Friedrichstraße noch in Bau. Fontanes hier schon mehrfach erwähnte Begeisterung für die Stadtbahn hatte ihn wohl dazu verführt, auf die Lage und Atmosphäre des zentralen Berliner Bahnhofs Friedrichstraße in seinem Roman nicht verzichten zu wollen. (Außerdem: Züge von der Ostseeküste trafen damals gewöhnlich auf dem Stettiner Bahnhof ein.)

So unkompliziert, wie Effi in den 1880er Jahren vom Bahnhof Friedrichstraße (oder doch vom Stettiner Bahnhof?) und dann auch von ihrer Pension westwärts in den Tiergarten fährt, ohne besonderen Reisepass und scharfe „Grenz“-Kontrolle, ging das einhundert Jahre später ja nun gar nicht. Eine derart absurde Situation hätte Fontane sich wohl nicht vorstellen können. Die zu Effis Zeit zum Tiergarten führende Dorotheenstraße hieß ein Jahrhundert danach Clara-Zetkin-Straße und endete als Sackgasse an einer Mauer…

Doch Effi hat in den 1880er Jahren ganz andere Probleme. Der Seitensprung mit dem lebenslustigen Major Crampas, mit dem sie ihren Gatten noch in Kressin hintergangen hatte und von dem Innstetten bisher nicht weiß, bedrückt Effi, lässt sie kränkeln und sich zeitweise ins Elternhaus zurückziehen. Hier bringt Fontane auch wieder die Eisenbahn ins Spiel. Das vertraute Geräusch aus Tagen ihrer Kindheit in Hohen-Cremmen schafft Effi Erleichterung. Sie vernimmt „von fern her, aber immer näher kommend, das Rasseln des Zuges, der, auf eine halbe Meile Entfernung, an Hohen-Cremmen vorüberfuhr. Dann wurde der Lärm wieder schwächer, endlich erstarb er ganz, und nur der Mondschein lag noch auf dem Grasplatz, und nur auf die Platanen rauschte es nach wie vor wie leiser Regen nieder.“ Doch Effis Flucht nach Hohen-Cremmen löst ihr Problem nicht. „Am andern Abend war Effi wieder in Berlin, und Innstetten empfing sie am Bahnhof.“

Durch einen Zufall erfährt Innstetten von der inzwischen sechs Jahre zurückliegenden Affäre seiner Frau. Der Ministerialrat reagiert nach den für ihn feststehenden gesellschaftlichen Regeln: Duell mit Crampas, dessen Tod, Scheidung von Effi, sein Sorgerecht für Tochter Annie. Effi, der auch der Rückzug ins Elternhaus zunächst verwehrt bleibt, lebt inzwischen weitgehend gesellschaftlich isoliert in einer bescheidenen Wohnung in der Königgrätzer Straße (heute Stresemannstraße) nahe dem Anhalter Bahnhof. Effis Arzt, der alte Geheimrat Rummschüttel, hält zu ihr, besucht die ziemlich Kränkelnde und versucht sie aufzuheitern.

…erlauben Sie mir, daß ich Sie bis an das Fenster führe. Wieder ganz herrlich heute. Sehen Sie doch nur die verschiedenen Bahndämme, drei, nein vier, und wie es beständig darauf hin und her gleitet … und nun verschwindet der Zug da wieder hinter einer Baumgruppe. Wirklich herrlich. Und wie die Sonne den weißen Rauch durchleuchtet! Wäre der Matthäikirchhof nicht unmittelbar dahinter, so wäre es ideal.

Der Aussicht auf die Bahnanlagen kann Effi nichts abgewinnen, eher dem Blick auf den Friedhof. Heute ist der Blick von der Stresemannstraße zum Matthäi-Friedhof längst verbaut, und die „verschiedenen Bahndämme“ sind bis auf vier S-Bahn-Gleise und die Nord-Süd-Trasse der Fernbahn zu einem weitläufigen Parkgelände umgestaltet, dem Park am Gleisdreieck.

Der Intervention Rummschüttels ist es zu danken, dass Effi wieder nach Hohen-Cremmen zurückkehren darf. Noch einmal nutzt Fontane die Eisenbahn, um Effis Situation und Stimmung zu zeichnen.

In der Nähe der Station, hart an der Chaussee, lag eine Chausseewalze. Das war ihr täglicher Rasteplatz, von dem aus sie das Treiben auf dem Bahndamm verfolgen konnte; Züge kamen und gingen, und mitunter sah sie zwei Rauchfahnen, die sich einen Augenblick wie deckten und dann nach links und rechts hin wieder auseinandergingen, bis sie hinter Dorf und Wäldchen verschwanden.

Die ständige Bewegung auf den Gleisen (der Strecke Berlin–Magdeburg) steht im Kontrast zu Effis Todesahnung. Im August erkrankt sie schwer; Ende September ziert eine Marmorplatte Effis Grab auf Hohen-Cremmen. – Der frühe Tod der Romanfigur Effi unterscheidet sich, wie oben schon erwähnt, vom Leben der realen Elisabeth von Plotho, die als verheiratete Elisabeth von Ardenne am 4. Februar 1952 im 99. Lebensjahr verstarb.

*

Ein Nachtrag zum „Friedrichstraßen-Bahnhofe, den Fontane nicht ganz zeitgerecht in Effi Briest unterbrachte und auf dessen Erwähnung er auch in einem anderen Roman wohl nicht verzichten wollte: In Die Poggenpuhls, deren Handlung 1888 einsetzt, stimmt es dann zeitlich. Die beiden Poggenpuhl-Frauen reisen zur Beerdigung des Onkels ins Riesengebirge.

Um zehn Uhr ging der Nachtzug vom Friedrichstraßenbahnhof aus ab. Schon vor neun stand man in voller Reisetoilette da… es war aber immer noch viel zu früh, und man kam in Verlegenheit, wie die Zeit hinzubringen sei… Morgens gleich nach fünf kam der Zug in Schmiedeberg an, von dem aus es nur eine kleine Stunde bis Adamsdorf war.[2]

Fontane bevorzugt hier den Bahnhof Friedrichstraße als Ausgangspunkt der Reise, obwohl Fahrten ins Riesengebirge damals vorrangig vom Görlitzer Bahnhof abgingen.

(wird fortgesetzt)

 

Dank an Wolf-Dietger Machel, der bei der Suche nach dem Bahnhof Klein-Tantow wertvolle Hilfe leistete.

 

Anm.: Dieser Text erschien zuerst in der 5. Ausgabe 2019 der Verkehrsgeschichtlichen Blätter.

Quellenangaben
[1] Fontane, Th.: Effi Briest. – Aufbau-Verlag Berlin und Weimar, 1985

[2] Fontane, Th.: Die Poggenpuhls. – Sämtliche Romane. Phaidon Verlag Essen. – o. J

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