Ein Abend – Drei Blickwinkel
Meine Vorfreude auf den Besuch einer literarischen Veranstaltung war groß. Eine Zeit in meinem Leben gehörte es zu meinem Alltag solche Abende mit zu organisieren. Die Entscheidung, den Blick von Franz Fühmann und seine Sicht auf das Ruppiner Land zu Fontanes Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Die Grafschaft Ruppin kennenzulernen, wurde durch die Information des Vorsitzenden der Theodor Fontane Gesellschaft zusätzlich motiviert. Ich kenne von Franz Fühmann Bücher, weiß von seinen Aktivitäten im Schriftstellerverband der DDR junge Autoren zu unterstützen, habe den Briefwechsel mit seiner Lektorin Inge Prignitz gelesen, ging mit seiner Tochter Barbara auf die Andreasoberschule, doch auf welche Art und Weise er sich mit Theodor Fontane beschäftigt hat, war mir bis zu diesem Abend weitestgehend unbekannt. Die Veranstaltung versprach „ein fiktives Gespräch“ zwischen Fontane und Fühmann, initiiert durch den Franz Fühmann Freundeskreis. Sie fand im Kleinen Säulensaal der Berliner Stadtbibliothek am 5. November 2019 in der Breite Straße in Berlins Mitte statt.
Eine Literaturveranstaltung, zusätzlich mit der Aussicht danach auf ein Glas Wein mit den Fontane-Bloggern zusammen zu sitzen, trug zur Aufhellung des Herbstblues bei. Außerdem versetzte mich der Veranstaltungsort in eine Erinnerungsschleife. Vor vielen Jahren gestattete mir eine Bibliothekarin der Berliner Stadtbibliothek „das wirklich nur ausnahmsweise“ Ausleihen der zweibändigen als Leseexemplar geführten Beethoven-Biografie eines westdeutschen oder österreichischen Verlags. Ich wollte mich auf mein mündliches Musikabitur vorbereiteten und durfte die Bücher also mit nach Hause nehmen. Es hatte sich gelohnt! Mit der Rückgabe der Bücher war ich dann aber mehr als drei Jahre in Verzug, immerhin sind die Bücher jetzt wieder dort, wo sie noch heute stehen. Die Bibliothek hat es damals nicht sanktioniert, danke dafür! Das wäre eigentlich nicht der Rede wert, aber die Erinnerung führte mich über dieses Erlebnis vom Musikabitur zur Musik und zu der Literaturveranstaltung über die ich berichten möchte.
Wie die Musik ist auch die Literatur eine Gattung der Kunst. Erlebnisse, Erfahrungen und Beobachtungen werden zu Gedanken, zu sprachlichen Zeugnissen, zum geschriebenen und gedruckten Text. Das individuelle, zumeist stille Lesen verlangt außer Interesse keine weiteren Fähigkeiten. Werden die Texte der Dichter, Schriftsteller, Lyriker jedoch von Dritten einem Publikum zu Gehör gebracht, ist es hilfreich, neben dem vorausgesetzten Interesse der inhaltlichen Erfassung des Textes und dem Gestaltungswillen eine bestimmte Gestaltungsform zu finden. Diese Form, kombiniert mit der Fähigkeit des dem Text angemessenen Vortragens, kann so das Publikum mit ihm vertraut machen, es bestenfalls zum eigenen Nach-Lesen veranlassen oder sogar begeistern.
Gestaltungswille- und form waren im Titel angekündigt: ein „fiktives Gespräch“ zwischen Theodor Fontane und Franz Fühmann mit ihren Texten aus dem Ruppiner Land und zum Heimatbegriff. Franz Fühmann bekam 1967 vom Aufbau Verlag den Auftrag, das Ruppiner Land auf den Spuren Fontanes aus dem Blickwinkel der Veränderung, des Wandels von Land und Leuten, insbesondere der letzten Jahre seit der Gründung der DDR zu erkunden. Ob im Autorenvertrag zwischen Franz Fühmann und dem Verlag für eine solche Auftragsarbeit eine genaue Definition des gewünschten Ergebnisses vereinbart wurde, ist mir nicht bekannt. Der Klappentext zu Franz Fühmanns Das Ruppiner Tagebuch, herausgegeben 2005 von Barbara Heinze und Peter Dehmel beim Hinstorff Verlag Rostock, zitiert aus dem Perspektivplan des Aufbau Verlags zur Vorbereitung des 20. Jahrestages der DDR. Welches Ziel der Verlag genau verfolgte, wurde an diesem Abend für mich nicht deutlich, denn dass es den von Fontane beschriebenen Landadel und damit die im 19. Jahrhundert typische soziale Struktur auf dem Land nicht mehr gab, war sicherlich auch 1967 allen Beteiligten klar. Und es lagen mehr als einhundert Jahre, zwei Weltkriege und unterschiedliche Staatsformen zwischen Fontanes Texten und der Idee des Verlags, die mir unter Beachtung aller Veränderungen in dieser langen Zeit doch etwas simpel und eindimensional erscheint. Auf jeden Fall fuhr Franz Fühmann in Orte, die Fontane in diesem Teil der Wanderungen beschrieben hatte und vielleicht sollte er dort auch Spuren suchen, finden und dann beschreiben, die sich der Verlag wünschte. Ich nehme vorweg, es wurde nichts daraus. Es gab kein Buch, Franz Fühmann hat das Projekt aus den unterschiedlichsten Gründen ab einem bestimmten Punkt nicht weiter bearbeitet.
Die Vortragenden nutzten die Texte Fontanes und Fühmanns nun jedoch nicht für ein „inszeniertes, fiktives“ Gespräch, sondern trugen ähnliche Inhalte zur Biografie Fühmanns und dem Zustandekommen und Abbruch der Arbeit für den Aufbau Verlag vor. Da die Konzeption des Abends nicht zu Ende gedacht war, kam es zu Doppelungen beim Zitieren, die ihn in die Länge zogen. Die Auswahl der Zitate folgte einem bestimmten Schema: Kuriosa, wie Fühmann im Brief vom 19.XI.1967 dem Cheflektor des Aufbau-Verlags, Günter Caspar, schrieb, brachten das Publikum zwar zum Lachen, wurden jedoch dem vorliegenden Gesamtkonvolut der Tagebuchaufzeichnungen in keiner Weise gerecht. Die zum Teil persiflierten Beschreibungen der Personen aus dieser Region in ihrer Zeit waren verzichtbar oder hätten kontextualisiert werden müssen. Wünschenswert wäre eine sehr kurze Einführung zum Thema des Abends gewesen, an die sich das angekündigte fiktive Gespräch anschließt, und zwar nur mit den Texten von Fontane und Fühmann mit rhetorischer Fähigkeit und der Sensibilität, die diese Texte vorgeben. Dabei hätte eine Person diejenigen ausgewählten Passagen von Fontane und die andere die von Fühmann lesen können. Nicht umsonst werden Dichter-Briefwechsel zum Bespiel am Deutschen Theater in Berlin von Schauspielern und nicht von Dramaturgen vorgelesen. Es kann sogar sehr gut gelingen, wenn wie beim Hörbuch Kein Ort. Nirgends in der ungekürzten Lesung des Buches von Christa Wolf eine Schauspielerin alle Dialoganteile der Protagonisten in dem fiktiven Aufeinandertreffen von Karoline von Günderode und Heinrich von Kleist übernimmt. Es muss nur gekonnt sein. Möglicherweise lag es am Geld, dass die Initiatoren nicht größer gedacht haben. Vielleicht wollten sie es aber genauso wie an diesem Abend präsentiert. Bitte nicht falsch verstehen, aber mir fehlte auch dieses Mal wieder die Qualität und nach 40 Minuten, spätestens, begann ich an etwas ganz anderes zu denken, schade, es hätte gelingen können.
Sonntag, 12.11.(1967) ………… Abends zum, na sagen wir 23. Mal Fontane gelesen: ‚Grau wie die Müllertiere erreichen wir die Stadt, sehen mit geblendetem Auge anfänglich wenig oder gar nichts und atmen erst auf als wir vor dem Gasthofe Zum Deutschen Hause halten und freundlich bewillkommt in die Kühle des Flures treten …‘
Montag, 13. November – So sind wir also mittags hier angekommen: nicht grau wie die Müllertiere, nein, bequem im Auto, mit drei Koffern, einem Anzug am Bügel – erste Frage: Was heißt heute überhaupt Reisen in die Mark? Bei Fontane wars ein Abenteuer, ein kleines, manchmal auch ein großes; man fuhr mit dem Pferdefuhrwerk, falls man überhaupt eins bekam, und eine Stadt, ein Dorf, ein See waren Ziele, Oasen, jetzt rutscht man eben mal so hin.
Wobei das „Rutschen“ vom Aufbau Verlag ermöglicht wurde. So schreibt Fühmann am 1.11.67 an Caspar: „Lieber Günther (Günter), ich gedenke am 13.11. für etwa fünf Wochen nach Neuruppin zu fahren und mit Gewalt in die Fontanespuren einzubrechen. Kannst Du mir, wie besprochen, zur Hinfahrt einen Wagen besorgen? Ich muss sonst viermal umsteigen und wäre fast sieben Stunden unterwegs – mit großem Gepäck nicht angenehm! Gruß Franz“ Der Wunsch wurde erfüllt, was durchaus eine Wertschätzung des Verlags für den Autor war, denn es gehörte ja auch ein Chauffeur dazu.
Ich komme zurück auf meine Frage im Titel des Beitrags. War nun Fühmann auf den Spuren Fontanes oder nicht? Nachdem ich mir das Buch gekauft habe, würde ich konstatieren: Ja, er war auf den Spuren Fontanes und fand letztlich zu sich selbst. Und wenn die Zeit im Ruppiner Land ihn genau zu dieser Erkenntnis brachte, war sie nicht verloren:
Wo war ich geblieben: ach so, ich stolpere. Stolpere also durch dieses Land, durch diese Geschichte, sammle preußische Anekdötchen und Späße und tue mir den Teufel was drauf zugute, wenn ich ein oder zwei davon widerlegen kann, sehe dem großen Dichter und miserablen Reporter (die „Wanderungen“ sind Miststücke von Büchern) Th. Fontane auf die Finger, die ja auch nicht dafür konnten, weil sie ihren Mann ernähren mussten – und der Mann hatte ziemlich viel Hunger, und auch ohne diesen Hunger hätte dieser Mann über Herrn Quast aus Protzen oder Gartz nicht anders schreiben können als ich über Frau Mix in Kunsterspring; latsche, fast fünfzig und immer noch ein Esel, grau wie die Müllertiere […] latsche durch Preußen, kenne die Geschichte nicht und will sie, nach dem, was ich von ihr kenne fürderhin auch nicht kennenlernen […] habe keine Vergleichsmöglichkeiten, keine Kindheitseindrücke, keine Kunst- oder Literaturerlebnisse (o doch: Fontane, Benn, Arendt, Huchel), […] und will – ein – ja was wohl? – ein Buch schreiben!! Schluss damit.
Fühmann will das Falsche, welches er fühlt, auch falsch nennen und kein Auftragsschreiber sein „[…] schließe niemals einen Vertrag, wenn du dein zu schreibendes Buch nicht in deutlichen, konkreten Konturen (und nicht im Dämmern abstrakter Philopheme) vor dir siehst.“ Im Jahr 1968 beginnt ein neues Kapitel im Leben von Franz Fühmann.
Danke den Veranstaltern für den Büchertisch. Ich habe mir den Briefwechsel zwischen Franz Fühmann und Christa Wolf gekauft.
Zitiert aus:
Franz Fühmann: Das Ruppiner Tagebuch. Auf den Spuren Fontanes, Hrsg. Barbara Heinze und Peter Dehmel, Hinstorff Verlag, Rostock, 2005.