In Datenbanken und Handbüchern
Obwohl beide große Schriftsteller und Beschreiber des Berlins des endenden 19. Jahrhunderts waren, wird ein literarisches Verhältnis zwischen Theodor Fontane und Walter Benjamin in der Forschung kaum berücksichtigt. Eine Datenbanksuche ergibt nur einen Artikel von David Darby über W. G. Sebalds Ringe von Saturn mit Bezug auf Fontanes Wanderungen sowie Benjamins Berliner Chronik und Berliner Kindheit um neunzehnhundert; das Nachschlagen im Namensregister des Benjamin-Handbuch nur eine Seitenangabe. Diese Erwähnung Fontanes deutet zwar auf die literarische Entwicklung eines sehr jungen Benjamins hin, denn die „frühen Tagebücher zeigen, wie der Schüler in seiner Schreibweise Anschluß suchte an die literarische Tradition des Journals und des Reiseberichts, an Goethe, Alexander von Humboldt, Chamisso, Pückler-Muskau, Fontane“ (Benjamin-Handbuch, S. 664). Diese Tagebücher hätten aber Eingang in die Gesammelten Schriften nicht gefunden und darüber hinaus: „Benjamins frühe Versuche in diesen Formen zeigen aber auch, daß sie für ihn nur bedingt und zeitlich befristet brauchbar werden“ (ebd.). Wenn es hier eine Verbindung gibt, scheint sie früh und flüchtig zu sein.
In Wohnungen und auf Straßen
Wenn man das Werk der beiden an sich betrachtet, sieht man jedoch auch eine geographische Nähe, die die Berliner Romane Fontanes und die Berliner Kindheit Benjamins verbindet: Der Alte Westen Berlins, heutzutage Ortsteil Tiergarten. Hier finden mehrere Episoden nicht nur der Romane Fontanes, sondern auch Episoden der Kindheit Benjamins statt.
Bevor Lene im Spätsommer 1875 auf Botho in Irrungen, Wirrungen stößt, beobachtet sie den Wochenmarkt am Magdeburger Platz und horcht „bis das Gebimmel und Geklingel [der Feuerwehr] in der Ferne verhallt war, dann aber sah sie links hinunter nach der Turmuhr der Zwölf-Apostel-Kirche“ (IW, S. 108). In den 1930er Jahren erinnert sich Benjamin an seine Kindheit, an die Markthalle, ob Markt-Halle oder Mark-Thalle, am Magdeburger Platz (GS 4.1, 252f.) und an Besuche bei seiner Großmutter, deren Loggia manchmal von den Glocken der Zwölf-Apostel- und der Matthäi-Kirche beladen wurde (GS 4.1, 259). Sogar die Droschkenfahrt am Ende des Kapitels der Berliner Kindheit über diesen Besuch erinnert an andere Droschkenfahrten in Berliner Romanen:
Wenn wir dann, die Sachen fest eingeschlagen und verschnürt am Arm, in die Dämmerung hinaustraten, die Droschke vor der Haustür wartete, der Schnee unangetastet auf Gesimsen und Staketen, getrübter auf dem Pflaster lag, vom Lützowufer her Geklingel eines Schlittens anging und die Gaslaternen, die eine nach der andern sich erhellten, den Gang des Laternenanzünders verrieten, der auch an diesem süßen Feiertagabend seine Stange hatte schultern müssen – dann war die Stadt so in sich selbst versunken wie ein Sack, der schwer von mir und meinem Glück war. (GS 4.1, 260)
Im Lektüreverzeichnis und Brief
Seit seinem Abitur führte Benjamin ein sorgfältiges Verzeichnis aller 1712 Bücher, die er Gershom Scholem zufolge bis zum Ende gelesen hätte (GS 7.2, 724). Die ersten 461 Einträge, die bis Ende 1916 oder Anfang 1917 reichen, sind nicht erhalten, aber ein Durchblättern der Liste zeigt, dass Benjamin mindestens vier Romane Fontanes gelesen hatte. Nach Veröffentlichungsdatum anderer Einträge darf man seine Lektüre von Frau Jenny Treibel (Nr. 683) und Effi Briest (Nr. 690) auf das Jahr 1920 einschätzen (GS 7.1, 446). Genauer lassen sich zwei weitere Lektüren bestimmen: Der Stechlin (Nr. 1211) während eines Aufenthalts auf Ibiza vom Mai bis zum Juni 1932 (GS 7.1, 465); Unterm Birnbaum (Nr. 1647) taucht neben Texten von Karl Marx 1938 bei einem Besuch auf, den Benjamin zwischen Juni und Oktober 1938 beim ebenfalls exilierten Bertolt Brecht am Skovsbo Strand in Svendborg, Dänemark, gestattete (GS 7.1, 474).
Ob Benjamin und Brecht sich am Schachtisch über Fontane unterhielten, kommt im Verzeichnis nicht vor. Seine Lektüre vom Stechlin wird in einem Brief, den Benjamin Anfang Mai 1932 an Gershom Scholem schrieb und der im Schatten des Dritten Reichs steht, jedoch kurz erwähnt:
Natürlich benutzte ich die Zeit [auf Ibiza], einiges durchzulesen, was mir in Berlin aus Zeitmangel kaum zugänglich ist. Zum zweiten Male habe ich die ungemein bewundernswerte Chartreuse de Parme [von Stendhal] gelesen, jetzt stehe ich bei dem „Stechlin“ von Fontane, den am Mittelmeer durchzulesen, auf eine Verfeinerung des übrigens soliden Komforts dieses Autors hinauskommt. Soviel Spaß er mir macht, glaube ich doch zu verstehn wie man ihn nicht ausstehen könne; ja, manchmal genieße ich selbst beinah die Entrüstung imaginärer Leser mit. (GB 4, 89f.)
Am Mikrofon
In seinen literaturwissenschaftlichen Werken beschäftigt sich Benjamin bekanntermaßen mit dem Barock, mit Goethe, Hölderlin und Kafka, mit Baudelaire und Proust, viel weniger mit dem poetischen Realismus: Der Name Fontane kommt zum Beispiel nicht unter den Titeln der literarischen und ästhetischen Essays Benjamins vor (GS 2.3, 1524), sondern unter den Rundfunkgeschichten für Kinder. In diesen zwischen 1929 und 1932 geschriebenen und für mehrere Sender gelesenen Texten (GS 7.2, 583) beschäftigt sich Benjamin mit Berliner Themen wie dem Berliner Dialekt und der Mietskaserne, mit Hexenprozessen und Caspar Hauser, sowie mit Katastrophen wie dem Untergang von Pompeji und dem Erdbeben von Lissabon.
In einer 1932 ausgestrahlten Sendung schreibt – beziehungsweise – liest Benjamin über „Die Eisenbahnkatastrophe vom Firth of Tay“; in diesem Beitrag bettet Benjamin diese in die Entwicklungsgeschichte der Eisenbahn ein und zitiert drei Strophen aus Fontanes Gedicht, „Die Brück’ am Tay“, die wohl als Gegensatz zu den sachlich beschriebenen Fakten stehen soll. (GS 7.1, 235)
In einer früheren, vermutlich 1929 oder 1930 entstandenen Sendung, die zu Benjamins Berlinstunden zu zählen scheine, wird den jungen Zuhörern des Berliner Rundfunks von Fontanes Wanderungen berichtet. (GS 7.2, 593) Benjamin tritt in den Hintergrund und zitiert Fontane ausgiebig: Aus der Vorrede über den Loch Leven und den Rheinsberger See, aus der Wanderung nach Caputh, aus einem Brief über die Alchimie und aus einem Dialog zwischen Friedrich dem Großen und Oberamtmann Fromme sowie aus einem Gedicht über märkische Dorfnamen. (GS 7.1, 137-145) Benjamin scheint mit seinen Zitaten sich den Vorstellungen und Vorurteilen gelangweilter Berliner Schüler über Fontane entgegenstellen zu wollen, denn:
Das sind nicht etwa nur Landschaftsschilderungen oder öde Schloßbeschreibungen, das sind Bücher voll von Geschichten, Anekdoten, alten Schriftstücken und Porträts merkwürdiger Personen. (GS 7.1, 138)
Darüber hinaus lobt Benjamin, wie Fontane „so ein kleines märkisches Nest, an dem nichts weiter zu bemerken scheint, schildert“. (GS 7.1, 139). Wie ein guter Maler habe er seinen Gegenstand in Erfahrung gebracht und mit Verstand gesehen.
Es gibt da nicht viel lyrische Naturbeschreibungen, keine Mondlichtschwärmerei, keine schönen Reden über Waldeinsamkeit und solche Sachen, mit denen ihr euch noch manchmal auf der Schule abquält. Dafür steht einfach das da, was Fontane gewußt hat. Und das war viel; nicht nur von Königen und Schloßbesitzern, von Feldern und Seen, sondern eben von den einfachsten Leuten. Wie sie leben, wovon, was sie für Sorgen haben und was ihre Pläne sind. (GS 7.1, 139)
Laut eigenen Aussagen und denen Adornos scheint Benjamin mindestens ambivalent gegenüber seiner Rundfunkarbeit gewesen zu sein. Adorno zufolge hat Benjamin diesen Arbeiten Jahre zwischen dem Scheitern seiner akademischen Karriere und der nationalsozialistischen Machtergreifung einige Jahre sorgenfreier Existenz verdankt, aber allzu hoch geschätzt habe er selber diese Texte kaum. In anderen Briefen an Scholem schreibt Benjamin 1930, dass die Rundfunkarbeit ihm lieber als die Brotarbeit in Zeitschriften gewesen sei, aber 1931 teilt er ihm mit, dass er nach Frankfurt fahre, „um windige Rundfunkangelegenheiten durchzuführen“. (GS 7.2, 583)
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In den zwanzig Bänden Gesammelter Schriften beziehungsweise Briefe Benjamins kommt der Name Fontanes kaum vor und die hier zitierten Textstellen bezeugen keinen engen Bezug zu Fontane. Benjamins literarische Beziehungen gehen eher in die Richtung seiner Essays und Abhandlungen und der oben erwähnten Epochen und Autoren. Dies bedeutet nicht, dass Benjamin Fontane vergnügungslos gelesen hat; der ibizenkische Brief an Scholem bestätigt das Gegenteil, aber auch eine Ambivalenz, die die Entrüstung anderer Leser und die Langeweile von Schülern nicht ignoriert, sondern sich ihrer vollkommen bewusst ist.
Literatur:
Benjamin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hrsg. von Burkhardt Lindner unter Mitarbeit von Thomas Küpper und Timo Skrandies. Stuttgart/Weimar 2006.
Benjamin, Walter: Gesammelte Briefe. Hrsg. vom Theodor W. Adorno Archiv. 6 Bde. Frankfurt am Main 1995-2000. Abgekürzt als GB.
——: Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem, hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. 7 Bde. in 14 Teilbdn. Frankfurt am Main 1974-1985. Abgekürzt als GS.
Darby, David: Landscape and Memory. Sebald’s Redemption of History. In: W. G. Sebald. History – Memory – Trauma. Hrsg. von Scott Denham und Mark McCulloh. Berlin 2006, S. 265-277.
Fontane, Theodor: Irrungen, Wirrungen [1887]. Frankfurt am Main 2008. Abgekürzt als IW.