Auf den Spuren Fontanes und Fühmanns

Ein Abend – Drei Blickwinkel

Aus spontaner und neugieriger Haltung entschied ich mich am 5. November 2019 an der Lesung „Fontane und Fühmann“ teilzunehmen. Gegenstand der Veranstaltung war das Ruppiner Tagebuch. Auf Theodor Fontanes Spuren, ein posthum veröffentlichtes Werk. Der Untertitel dieser Veranstaltung lautete: Ein fiktives Gespräch. Anlass war der 20. Jahrestag des Internationalen Franz-Fühmann-Freundeskreises.

Nach einer kurzen Begrüßung spielte man uns eine Ton- und Videoaufnahme aus einem Interview mit Fühmann vor. Diese Einstimmung auf die Person Fühmann hinterließ einen nachhaltig berührenden Eindruck in mir. Es ist ergreifend einen Dichter im Original zu hören und seinen Habitus zu sehen, da es dem geschriebenen Wort eine Stimmung verleiht. 

Der freisprechende Vortragende begann damit, Fontanes Gedicht zu seinem 75. Geburtstag vorzulesen. Das Gedicht, das sich durch einen ungewohnten Pathos auszeichnet, endet mit den Versen „Jedem bin ich was gewesen, / Alle haben sie mich gelesen, / Alle kannten mich lange schon, / Und das ist die Hauptsache …, / ‚kommen Sie, Cohn'“. Der in der Forschung als antisemitisch diskutierte Zug des letzten Verses blieb unkommentiert. Das Gedicht wurde vielmehr als Auftakt für Fühmanns Rezeption Theodor Fontanes eingesetzt. Einige ausgewählte Passagen aus Fontanes Beschreibungen der Grafschaft Ruppin wurden Passagen aus Fühmanns Aufzeichnungen aus dem Ruppiner Tagebuch gegenübergestellt. Fühmann geht zuweilen unmittelbar auf Fontanes Schilderungen ein. Dabei findet er einen ernüchternden, nahezu ironischen Ton in seiner Spurensuche. Das gelegentliche Lachen im Publikum galt Fühmanns trocken-sarkastisch eingefangenem Scheitern an jenem Auftrag, Fontane aufzuspüren. Der sogenannte innere Zensor Fühmanns, der sich in den wiederholten Klammern im Text „(darf ich nicht schreiben)“ auffindet, wurde zwar konstatiert, aber unzureichend thematisiert. Der darin erkennbare inhärente Kampf Fühmanns, dem er sich ausgesetzt sah, galt dem ernüchterten Eingeständnis, dass von dem Preußen Fontanes nur noch wenig übrig zu sein scheint. Der Frage, was das für Fühmann bedeute, ging man oberflächlich nach, indem Fühmanns Werk(ästhetik) auf das Thema „Heimat als Erfahrungsraum“ reduziert wurde. Der Infotext dieser Veranstaltung führt folgendes Zitat aus dem Ruppiner Tagebuch an:

„Die Reisen nach Preußens Schoß haben mir deutlich gemacht, was ich eigentlich bin: ein österreichischer Schriftsteller in einem Land, dem dankbar zu sein ich genaue politisch-historische Gründe habe. Aber dadurch werde ich nun einmal nicht zu einem Eingesessenen.“[1]

Es zeugt von unkritischem Umgang, wenn man das literarisierte Resümee Fühmanns als sein Scheitern an dem Auftrag übernimmt. Der Vortragende banalisierte mit einem Abriss der Biographie und Herkunft Fühmanns die Lage, in der Fühmann sich diesem Auftrag widmete. Gänzlich inadäquat ist es, sich als Vortragender (und Mitgründer des Fühmann-Freundeskreises!) auf Grobheiten wie „Fühmann war Alkoholiker“ einzulassen, die das Scheitern am Auftrag begründen sollen. 

Der zweite Referent las einen vorbereiteten Aufsatz vor. Dieser wählte einen analytischen, kontextualisierenden Ansatz und verwob darin Textpassagen, welche der andere Referent zum Teil bereits vorgelesenen hat. Interessante Umstände, wie beispielsweise die Erteilung des Auftrags vom Aufbau-Verlag an Fühmann und gleichzeitig den westdeutschen Autor Joachim Seyppel erfasste man in deren (literatur)historischer Brisanz nicht. Das veröffentlichte Buch Seyppels unter dem Titel Ein Yankee in der Mark hielt man nur beiläufig hoch. Zur Erinnerung der Auszug aus dem Perspektivplan des Aufbauverlags für das Jahr 1969:

Der Band ist eine Auftragsarbeit; er soll zum 20. Jahrestag der DDR erscheinen. Die Autoren werden vom Sommer 1967 bis Herbst 1968 unabhängig voneinander Fontanes Wanderungen durch die Mark nachvollziehen und erzählen, was sich in diesen hundert bis achtzig Jahren, vor allem natürlich in den letzten zwei Jahrzehnten [,] verändert hat. Vom Genre her werden wahrscheinlich Reportagen entstehen, der Verlag hat den Autoren jedoch auch andere belletristische Formen nahegelegt.[2]

Fragen, die sich unmittelbar stellen und denen es für eine differenzierte Auseinandersetzung sicher lohnt nachzugehen: Wie kommt es zustande, dass sowohl ein westdeutscher, als auch ein ostdeutscher Autor auf die Spuren Fontanes gehen sollen? Wie kommt es zustande, dass ein ostdeutscher Autor auf die Spuren Fontanes gehen soll? Wie wurde Fontane/Fontanes Werk in der DDR rezipiert?

Einige Gedanken möchte ich noch zu dieser Veranstaltung loswerden: Es ist mir selbstverständlich bewusst, dass der Anspruch einer Lesung keine literaturwissenschaftliche Studie ist und auch nicht sein soll. Doch besteht ohne einer sorgfältigen Untersuchung die Gefahr, in Mutmaßungen abzuweichen und die komplexen Facetten der Arbeit (Fühmanns) zu vereinfachen. Daher lautet mein Plädoyer: Manchmal einen Schritt zurücktreten und den Dichter sprechen lassen. Die beiden Vortragenden waren leider beispielhaft für eine unangemessene Erhabenheit über das Werk Fühmanns, die sie umgangen wären, wenn sie ihre Prämisse des fiktiven Gesprächs eingehalten hätten. Wenn zwei Vortragende eine Veranstaltung über zwei Dichter ausführen, gleicht es doch wirklich dem größten Leichtsinn, keine Rollen zu verteilen. Und auf diese Weise nicht nur ein Gespräch zwischen den Dichtern zu inszenieren, sondern auch ein Gespräch zwischen den Vortragenden zu forcieren. An diesem Abend waren es nämlich zwei Monologe, die ungenau blieben, was den Kontext anbelangt. Gleichzeitig kam der Text zu kurz, weil beide keine Stimme für den Text fanden. Ich maße mir sogar an zu behaupten, dass sie auch nicht danach suchten. Es hinterließ den Eindruck, dass sich beide nicht von dem Text einvernehmen ließen, sondern sich den Text einvernahmen.

Weshalb ich das Konzept eines fiktiven Gesprächs bei diesem Gegenstand grundsätzlich in Frage stelle, möchte ich noch mit einem kurzen Nachtrag zu dieser Veranstaltung wagen. Bei meinen bisherigen zwei Lesebegegnungen mit Fühmann hat mich besonders seine Selbstreflexivität beeindruckt. Davon ausgehend ist ein gescheitertes Projekt Fühmanns natürlich ausgesprochen interessant. Diese offenbar geistig beanspruchende Auseinandersetzung Fühmanns erhoffte ich daher in einer gleichsam materiellen Auseinandersetzung wiederzufinden. Ein Blick in die Archivdatenbank der Akademie der Künste verspricht erfolgreiche Chancen: 1957 Blatt für das Ruppiner Tagebuch. Mit Abstand der größte Teilbestand Fühmanns. Zur Einordnung: „Das [Fühmann]-Archiv umfasst […] ca. 70.000 Blatt […]“[3] und der zweitgrößte Teilbestand sind die Arbeiten zu „Jugend im Widerstand“ mit 1655 Blatt. Das Überfliegen der insgesamt fünfzehn Mappen Material ist eindringlich. Die zahlreichen maschinenschriftlichen Fassungen indizieren das fortgeschrittene Stadium des Arbeitsprojekts. Einige Typoskripte sind mit handschriftlichen Korrekturen versehen. Ein Fassungsabgleich ergab eine bemerkenswerte Beobachtung:

Gang durch die Stadt. Erste Annäherung, die Eindrücke überstürzen sich, unmöglich, das festzuhalten, wie sich so ein Bild zu formen beginnt. [Aber gerade das ist deine Aufgabe!!][4]

Gang durch die Stadt. Hatte den Plan, festzuhalten, wie so ein Stadtbild sich in einem aufbaut, aber das unmöglich, ganz unmöglich. Die Eindrücke überstürzen sich, unmöglich, das in eine Reihenfolge zu bringen.[5]

Letzteres fand den Weg in die veröffentlichte Fassung des Ruppiner Tagebuchs. Ist die Unterstreichung („das„) als Vergegenwärtigung des Auftrags zu verstehen, mit dem Fühmann bereits zu ringen hat? Die Überarbeitung von „Erste Annäherung“ zu „Hatte den Plan“ ist signifikant. Während die erste Formulierung noch das (euphorische) Herantasten an die Spurensuche betont, verdeutlicht die Überarbeitung der Tempusform ins Plusquamperfekt: Fühmann hat den Plan ad acta gelegt. Die Überarbeitung zu „Hatte den Plan“ ist auch hinsichtlich der Auftragsarbeit interessant. Steckt darin bewusste Ironie? Notizhefte und handschriftliche Aufzeichnungen zeugen von der intensiven Recherche. Eine handschriftliche Liste erhaschte meine Aufmerksamkeit. Sie trägt die Überschrift „Zusammenstellung schw. Ortsnamen + semantische Bedeutung“. Die teils handschriftlichen Briefe zwischen Fühmann und Seyppel versprechen ein interessantes Verhältnis, das zwischen distanzierter und naher Zusammenarbeit oszilliert. Eine weitere materielle Spur, die es sich lohnte zu verfolgen, ist die Arbeitsbibliothek Fühmanns nach Lesespuren in Fontanes Werken zu durchforsten.

Dieser kurze Archivbesuch hat mir verdeutlicht, welch gründliche Untersuchung dieses Projekt Fühmanns bedarf. Meiner Ansicht nach hätte das Konzept dieses Abends demnach grundlegend anders aussehen sollen. Ich bin allenfalls gespannt, wie Barbara Heinze sich dieser Menge an Material ausgesetzt hat. Meine Lektüre der Adventszeit wird das Ruppiner Tagebuch sein – es liegt bereits auf meinem Nachttisch.

 

Quellennachweis:
[1] Franz Fühmann: Das Ruppiner Tagebuch. Auf den Spuren Theodor Fontanes. Hrsg. von Barbara Heinze. Hinstorff Rostock 2005, S. 307.
[2] Franz Fühmann: Das Ruppiner Tagebuch. Auf den Spuren Theodor Fontanes. Hrsg. von Barbara Heinze. Hinstorff Rostock 2005, S. 463.
[3] Barbara Heinze: Auch ein Bergwerk: Das Franz Fühmann Archiv in der Akademie der Künste. In: Hrsg. von Roland Berbig, Stephan Krause und Volker Scharnefsky: Literarisches Bergwerk. Arbeitswelt und Bibliothek Franz Fühmanns. Zentral und Landesbibliothek. Berlin 2014, S. 112.
[4] Franz Fühmann Archiv: 76/4, Blatt 2. [Hs. Randbemerkung mit Einfügungspfeil].
[5] Franz Fühmann Archiv: 76/3, Blatt 2.

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