Fontane auf Föhr: Erinnerung eines Chronisten

Georg Friedlaender, Amtsgerichtsrat in Schlesien und geschätzter Korrespondenzpartner, hatte Theodor Fontane im Juli 1891 in einiger Gründlichkeit über seine Urlaubs- und Reisepläne unterrichtet. „Ein Schlachtplan wie von Moltke“, befand Fontane, als ihn der Brief erreichte, und freute sich am meisten darüber, „daß Sie nun Ihre Wyker Tage verlängern wollen, wie beschämend gütig gegen mich.“ (23. Juli 1891). Er selbst hatte nämlich den Plan gefasst, im August des Jahres ein paar Wochen auf der Insel Föhr zu verbringen. An Gründen dafür mangelte es nicht, obgleich er erst Anfang Juli von einem einmonatigen Aufenthalt in Bad Kissingen mit Emilie, seiner Frau, heimgekehrt war. Dort hatte es zwar gefallen, aber die Gesellschaft am Table d’hôte war ein eher „halbes Vergnügen“ (Tagebuch: 1. Juni bis 31. Okober 1891) gewesen. Aber es war nicht allein die Aussicht, dort oben auf die Familie Friedlaenders zu treffen, die Fontanes „Gefühlsapparat“ anregten. Einen „kleinen Belebungspuff“, wie er am 9. Juli 1891 dem schlesischen Bekannten schrieb, versetzte ihm auch der Umstand, „daß ich nach einer ganzen Reihe von Jahren mal wieder was andres zu sehn kriege.“ Hamburg, Helgoland, Sylt und eben auch Föhr („mir eine Neuigkeit“) – seien ihm „nach einer bestimmten Seite hin […] die Gegend, die mir immer am meisten Freude macht, weil sie mich patriotisch am meisten erhebt.“ Sie sei die „Wiege jenes Angelsachsenthums, dem die moderne Welt entsprossen ist und das der regierende Faktor darin ist und ein bisschen davon fühlt man dem ganzen Lande ab, wenn man’s auch blos in der Eisenbahn“ durchfliege. Man empfinde schon „die Kultur und das Wohlleben der Skandinaven und Hanseaten“ „in diesen gesegneten Gegenden“, da sei ihm angenehm (Tagebuch: 1. Juni bis 31. Okober 1891).

War das alles, was für Nordseeland, Föhr und Wyk sprach? Im Tagebuch schimmert noch ein weiterer, durchaus gewichtiger Grund durch. Neben Fontanes Wohnhaus war ein Neubau entstanden, der zu beträchtlichen Schäden an ihrem eigenen geführt hatte. Deren Reparatur stand an, Flucht also empfahl sich: „Maurer, Maler, Anstreicher, Tapezierer treiben mich aus dem Hause; Emilie bleibt zurück, um alles zu überwachen.“ (1. Juni bis 31. Okober 1891). Jedes mitleidige Herz fühlt mit Fontanes Frau. Neben Abschreibarbeiten musste sich die Geplagte auch noch um derartige häusliche Unannehmlichkeiten kümmern, während es sich der Herr Gemahl in nördlich-luxuriöser Insellandschaft gut gehen lässt …

Aber so einfach lagen die Dinge nicht. Gerade hatte Fontane für Verleger Hertz den Vorabdruck von Unwiederbringlich durchgesehen – für ihn nie ein leichtes Unterfangen –, da liefen parallel schon neue Romanideen. Die drängten aufs Papier, so nachhaltig, dass er den Herausgeber der Deutschen Rundschau, Julius Rodenberg, bitten musste, auf Fertigstellung und Einsendung von Frau Jenny Treibel noch ein wenig warten zu wollen. Auch auf Föhr, das – wie es in Werbeanzeigen hieß – „für schwache Constitutionen besonders geeignet“ (zit. n. Chronik Bd. 4, S. 3188) sei, unterbrach Fontane sein strenges Schriftstellergeschäft nicht. Mathilde Möhring und Die Poggenpuhls regten sich in seiner Phantasie, erzählerische Einfälle stellten sich ein, ihnen wollte er beikommen, sie festhalten …

Vielleicht lag es an den Kissingener Erfahrungen. Jedenfalls quartierte sich Fontane nicht einem besseren Hotel ein, sondern mietete sich für die Wyker Wochen in einer kleinen Pension ein: Am Sandwall 32. Deren Besitzer hieß Jürgen Lolly (1845-1926), ein respektierter Ratmann. Friedlaender war ihm bei der Wahl wohl behilflich – und nicht nur dabei, „in Friedlaenders habe ich einen Anhalt und die Möglichkeit eines Gesprächs“, heißt es in einem Brief an Emilie, fast gegen Ende der Föhrer Wochen (21. August 1891). Längst wäre er wieder fort, wenn diese unterhaltende Anknüpfung fehlte. Friedlaenders waren immerhin zu fünft angereist (das Ehepaar, zwei Kinder und Friedlaenders Schwägerin, die unverheiratete Malerin Marie Tillgner). „Es ist ganz unmöglich an solchem Ort in Einsamkeit auszuhalten“, wer alt sei und keine derartige Bekanntschaft um sich, der verzichte auf Bäder und Sommerfrischen“, bleibe besser zu Haus und lege sich ins Bett. Das hinderte Fontane freilich nicht, gegenüber seiner spottfreudig wie -aufgeschlossenen Tochter Martha, Friedlaenders Konversationsgrenzen zu markieren: Er sei „in den Banden des Persönlichen, nur was er erlebt hat, nur was in seinen Umgangskreis eingetreten ist, interessirt ihn […], kaum daß er Geduld hat einer altenfritzischen Anekdote zuzuhören, wenn sie nicht sehr drastisch ist.“ Doch überwogen Friedlaenders Vorzüge, das Unbourgeoishafte besonders, trotz dessen „Gewichtlegens auf gutsitzende Hosen“ (an Martha, 25. August 1891).

Wie schon angedeutet: Wer denkt, dass Fontane hier an der Nordsee den Urlauber gegeben habe, täuscht sich. Vier Stunden Schreiben im Tageslicht waren selbstverständlich, und da er Nachtarbeiter war, traten weitere bei Kerzenschein hinzu. Er genoss das „Gleichmass“, freute sich an Kaffeestunden mit Friedlaenders und ließ es sich angelegen sein, soweit es das Wetter erlaubte, zwischen 17 und 20 Uhr ausgedehnte Spaziergänge zu unternehmen: „entweder am Strand hin oder nach dem reizenden Dorfe Boldixum„. Das Wetter: Das war offenbar mies, wenige Sonnentage abgerechnet. Sturm und Regen beherrschten die Insel, er könne sich gar nicht entsinnen, so ein Wetter schon einmal erlebt zu haben. Aber, damit Emilie ihn nicht bedauerte, „das Meer vor mir, kam ich kaum zu einem rechten Unmut und wurde an unsere Berchtesgadener Tage erinnert, wo wir von dem reizenden grossen Balkon aus bei nicht aufhörendem Regen in das schöne Gebirgstal hineinsahen“ (an Emilie, 21. August 1891). Kein Verdruss – auch dann nicht, als ihn nach einer Ausflugspartie hinüber zur Insel Amrum mit Friedlaenders eine totale Erkältung erwischt. Halt, kein Verdruss? So klang es am 21. August, zwei Tage später schlug die Stimmung um – fast. Schnupfen und Husten zwangen zu Hausarrest und Hungerkur, alles Arbeiten war einzustellen. Und „glücklicherweise […] auch nichts zu lesen – damit verdirbt man sich immer bei Schnupfenzuständen“ (an Emilie, 23. August 1891).

Und was tat Fontane unter solchen misslichen Umständen? Er beschäftigte sich damit, „mein Leben zu überblicken“. Was dabei an „Spielereien, Einbildungen und allerhand Fraglichkeiten“ zu Tage trat, behielt er, natürlich, nicht für sich. Emilie durfte sich über einen langen Brief freuen und beinahe mehr noch darüber, dass das „Endresultat“ dieses Streifzugs durch die eigene Geschichte dankbares Staunen war: „Es ist alles leidlich geglückt und man hat ein mehr als nach einer Seite hin bevorzugtes und namentlich im Kleinen künstlerisch abgerundetes Leben geführt, […]“ (an Emilie, 23 August 1891).

Lebensrückschau, bei der Dankbarkeit überwog: Hatte die Insel Föhr trotz rauem Nordwind und peitschendem Regen daran Anteil? Wer weiß. Der Verfasser dieses kleinen Blog-Eintrags erinnert sich an die Zeit, als er noch Chronist Fontanes war, es ist lange her und währte über ein Jahrzehnt. In den vielen nächtlichen Stunden regte sich immer wieder der Wunsch, verzeichnete Fontane-Orte aufzusuchen. Eine Schweizer Kollegin, die ihm Ermutigung war, trug sich mit der Idee, eine Lebensgeschichte des Dichters zu schreiben. „Du“, sagte sie, „ich möchte, so genau es nur geht, an jedem Ort einmal stehen, wo ich denke, da hat Fontane gestanden – und dann möchte ich sehen, was er gesehen hat, möchte mir vorstellen, ich wäre er, hätte seine Augen, seine Nase, seine Ohren …“. Dabei lachte sie fröhlich. Natürlich wusste sie, keine Fee dieser Welt kann einen solchen Wunsch erfüllen. Von seinem Zauber nahm das nichts. Und das Buch, das sie schrieb und seine Leserschaft fand, war ganz getragen von diesem Geist.

Als der Chronist zum ersten Mal auf Föhr war, hatte er vergessen, dass es einer jener „Fontane-Orte“ war, nach denen er sich gesehnt hatte. Bis er vor einem Eckhaus mit einer Wandtafel stand: „In diesem Hause / weilte im August 1891 / der Dichter / Theodor / Fontane“. Die Süderstraße, zu der hin die Tafel angebracht ist, führt direkt auf den Sandwall und öffnet den Blick auf die See. Ein schmaler Wiesen- und Baumstreifen trennt den Wall mit seinen Hotels, Cafés und Geschäften vom Promenadenweg. Dort stehen Bänke, unweit einer kleinen, niedrigen Mauer, auf der Bummelnde mit Eis und Seeblick sitzen. Hinter der Mauer erstreckt sich bis zum Wasser eine Sandfläche voller dicht gestellter Strandkörbe. Heute. Und damals?

Es wird damals anders ausgesehen haben – und auch das Haus, in dem Fontane gewohnt hat, sieht glatt und gepflegt aus, als habe der Sturm des Jahres 1891 und der aller Folgejahre nie um seine Ecken gefegt. Der Wohlstandswille vieler Urlaubergenerationen hat die Fassaden ausbessern lassen, kein Stein von damals hat das überlebt. Und doch erblickt das Auge Unwandelbares – jenseits des Ufers. Da reihen sich die Halligen auf, gefährdet und noch täglich Anlaufstellen für den regen Fährbetrieb. Und der Himmel, der sich nie gleicht, gleicht doch in seinen Wolkenwelten jenen, die Fontane gesehen haben wird auf seinen Spaziergängen. Wer will, kann Bücher mit alten Wyk-Ansichten in der Buchhandlung „Bücher & Meehr“ (Mittelstraße 8) oder, fast reizvoller, bei „bu-bu, dem bunten buchladen“ (Sandwall 20) erwerben. Der Chronist hatte damals im Internet lange Angebotslisten mit historischen Ansichtskarten durchgeblättert. Ach, wäre er doch der Verlockung, die von ihnen ausgingen, erlegen! Heute hat sich deren Preis mehr als verdoppelt. Aber wer will, der kann dort unbegrenzt herumstöbern. Er oder sie hat dann bald jene Wyk- und Föhrwelt vor sich, die Fontanes Augen sahen und ihm Momente von Seelenfrieden bescherten:

Das Bild von meinem Fenster aus, ist nach wie vor entzückend, die breaker’s die ihren Schaum ans Ufer rollen, die Boote, die Möven die auf dem Wasser tanzen und zahlreiche Kinder in roten und weissen Kappen, die am Strand ihre Festungen baun. Es ist ein sehr angenehmer Aufenthalt, ohne alles Hässliche oder sonst Störende, […]“ (an Emilie, 27. August 1891).

1891 musste, wer ans Festland wollte, über den Pier zu einem kleinen Dampfer gehen, „der dann bis an die mitten im Wattmeer liegende ‚Cobra‘ heranfährt und Gepäck und Passagiere umlädt“ (an Emilie, 27. August 1891). Jenes Seebäderschiff war erst 1890 in Betrieb genommen worden und blieb es bis Anfang der zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Es schmückt nicht wenige Ansichtskarten und war durch schmuck … Obwohl ein 90-Jähriger, der auf einer Halligen lebte, Wetterbesserung prophezeite – „Mit 90 ist alles Orakel und gilt“ (an Emilie, 23. August 1891) – und „eine bildschöne Frau“ Fontanes „Visà-Vis an der Table d’hote“ war, brach er am 28. August auf und trat den Heimweg an.

Fast täglich ging sein ehemaliger Chronist an diesem Haus am Sandwall vorbei, es tat ihm gut. Ihn freute die schöne Fähre, die heute vor diesen Fenstern ihre verlässlichen Touren absolviert, und ihn freute der Gedanke, dass Fontane sich hier wohlgefühlt hatte. Denn obgleich die Erinnerungen an die „Chronik“-Jahre eingetrübt sind – ein Archiv, das wichtige Materialien verweigerte und die Unterstützung auf ein Mindestmaß reduzierte, eine Edition, die die Bibliographie gegen die Chronik ausspielte, eine kritische Kollegenschaft, die stillschweigend das Zusammengetragene nutzt(e) und beredt Fehler moniert(e) … –, unvermindert wirkt die Anziehungskraft, die von Fontane ausgeht. Indem er uns als Mensch unter alltäglichen Umständen seiner Zeit begegnet und diese Begegnungen in unendlichen Facetten vergegenwärtigt, tritt er in unsere Gegenwart: frisch und unverfälscht. Kein deutschsprachiger Schriftsteller des 19. Jahrhunderts weckt auch nur ansatzweise derartige Identifikationsanwandlungen. Da fällt Dissenz doppelt schwer und ist, wie etwa in seinen Äußerungen gegenüber dem Jüdischen, dreifach nötig. Und während der Chronist den Sandwall entlangspazierte, erinnerte er sich an den Missmut, mit dem nicht wenige auf die antijüdischen Zitate reagierten – warum so ausführlich, das wissen man doch, ein, zwei Beispiele, das sei genug …

Um auf andere Gedanken zu kommen, ließ er sich – die Maske vorm Gesicht – in der Bäckerei Süderstraße Ecke Wilhelmstraße von der herzensguten und spruchflinken Frau Rosi ein krossgebackenes „Treibholz“ einpacken. Viele Tage, Wochen und Jahre des eigenen Lebens an die Chronik eines Fremden zu geben, dachte er, wie merkwürdig, wie abwegig. Der Andere, der Fremde, er musste wohl schon ein „Fontane“ sein, wollte man da heil herauskommen – im Wechselspiel von Annäherung und Ferne.

Am 29. August 1891 um Mitternacht hielt Fontane seinen „Einzug in das geflickte Johanniterhaus […], dem die Risse mittlerweile vergangen sind“ (an Martha, 30. August 1891). Das Tagebuch-Fazit Juni-Oktober hält fest, dass „die Wohnung sauber und gut in Ordnung“ gewesen sei, allerdings „die arme Frau aber recht elend“. Sie habe, „wie sie mir heut erzählte, dabei sterben und diese Hausfrauenthat uns rühmlich hinterlassen wollen. […]“ (an Martha, 30. August 1891). Dem Chronist von einst und Bloggisten heute ist fast so, als höre er von weitem rufen, „hätte sie’s man …!!!“ Doch dann wären wir um Meine Kinderjahre, Effi Briest, Die Poggenpuhls und Der Stechlin gekommen. Ob wir das wirklich wollten?

Rasch geht der Blick noch einmal zurück auf die Insel Föhr, hinüber nach Wyk und zur Pension Am Sandwall. Ein Fontane-Ort, ja, und nun auch ein Ort des Chronisten.

 

Fotos vom Verfasser.

Literatur:
Emilie und Theodor Fontane. Die Zuneigung ist etwas Rätselvolles. Der Ehebriefwechsel 1873-1898. Hg. von Gotthard Erler unter Mitarbeit von Therese Erler. Berlin: Aufbau 1998.
Theodor Fontane. Tagebücher 1866-1882/1884-1898. Hg. von Gotthard Erler unter Mitarbeit von Therese Erler. Berlin: Aufbau 1994.
Theodor Fontane und Martha Fontane. Ein Familienbriefwechsel. Hg. von Regina Dieterle. Berlin, New York: Walter de Gruyter 2002.
Theodor Fontane. Briefe an Georg Friedlaender. Aufgrund der Edition von Kurt Schreinert und der Handschriften neu hg. u. m. einem Nachwort versehen von Walter Hettche. Mit einem Essay von Thomas Mann. Frankfurt am Main, Leipzig: Insel 1994.
Roland Berbig: Theodor Fontane Chronik. Projektmitarbeit 1999-2004: Josefine Kitzbichler. Bd. 4: 1884-1895. Berlin, New York: Walter de Gruyter 2010.

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