„Um was geht es?“ – Bov Bjergs „Serpentinen“ und etwas Fontane

(c) Ullstein Verlag

„Um was geht es?“ – mit dieser selbstreflexiven Frage beginnt der neuste Roman des 1965 in Heiningen, Baden-Württemberg, geborenen Schriftstellers Bov Bjerg (eigentlich: Rolf Böttcher). Eine Frage, ein Wendung, ein Vers, der sich repetitiv durch den Roman zieht und dessen scheinbare Antwort der Titel ist: Serpentinen.

Doch was heißt das? Um was geht es denn nun in dem Roman? Die Geschichte ist schnell erzählt: Der namenlose Protagonist und Ich-Erzähler, Soziologie-Professor und Vater, unternimmt eine Reise in seine Vergangenheit. Mit dabei ist der „Junge“, sein Junge, der ebenfalls ohne Namen bleibt – denn nicht um ihn geht es, auch nicht um den Vater, sondern um die Geschichte, ihre Geschichte, die Vergangenheit und die Zukunft – um das identitätskonstruierende Erzählen der Geschichten. Und diese Geschichte ist düster:

Viel später war ich in Hamburg und ging die Passagierlisten durch. In Bremerhaven. Auf Ellis Island. Ich fand den Urgroßvater nicht. Er war nicht ausgewandert. Er hatte sich einfach das Leben genommen. Wie der Großvater und wie der Vater. […] Urgroßvater, Großvater, Vater. Ertränkt, erschossen, erhängt. Zu Wasser, zu Lande und in der Luft. Pioniere. Ich war noch am Leben. Vor Angst schlief ich ein. (S. 5)

Zynisch kommentierend und makaber witzelnd geleitet der Erzähler den Leser durch seine Vergangenheit und leuchtet die totgeschwiegenen Winkel einer Kindheit in bäuerlichen Verhältnissen mit einem alkoholsüchtigen Vater und einer strafenden Mutter aus: eines Älterwerdens in akademischen Breitengraden mit jenen habituellen Prägungen, der Angst vor dem Versagen und der existentiellen Erkenntnis, seiner Herkunft nicht entkommen zu können.

Dabei gerät das Erzählen immer wieder an seine Grenzen. Manche Erinnerungen bleiben dem Protagonisten verschlossen, rätselhaft. Montageartig werden Gedanken- und Wortfetzen, einem Erinnerungs-, Traum- oder Bewußtseinstroms ähnelnd, aneinandergereiht, um schließlich in der Gegenwart der Erzählzeit morbide Pointen zu ziehen: „Man entschied sich für ein Kind, wenn man glaubte, dass man weiterleben wollte. Doch was war, wenn man sich geirrt hatte?“ (S. 190)

Bjergs Roman ist darüber hinaus noch weit mehr, und er verfährt wie die bereits angesprochenen Serpentinen: „‚Um was geht es.‘, sagte der Junge. Er lachte. ‚Ser-pen-ti-nen!‘, rief ich. […]. Er fragte: ‚Geht es ums Schalten?‘ ‚Nur ums Schalten. Links treten, am Knüppel schalten.‘ Ich hakte einen Gang runter: ‚Gas geben, dann die Kupplung kommen lassen, so schnell wie möglich, ohne das er absäuft.'“ (S. 11) Das Schalten beim Entlangfahren der Serpentinen ist metaphorisch/allegorisch auf den Roman hin zu lesen, auf die Geschichte, per se auf seine Geschichten.

Mit jeder neuen Serpentine das Gas rausnehmen, sich Zeit nehmen, neu anfahren – wieder von vorn beginnen. Die sich ins endlose wiederholende Frage „Um was es geht?“ treibt dieses Bild auf die Spitze. Und wenn dann im finalen Akt eine Sequenz aus der Vergangenheit des Protagonisten mit einer aus der Gegenwart gleichgesetzt wird, wird klar wohin die Reise geht. Es geht mitnichten nur um eine abzubildende Wirklichkeit, es geht um die Möglichkeiten, diese Wirklichkeit abzubilden – Serpentine für Serpentine, erneut und erneut.

Bleibt hier im Fontane-Blog natürlich die eigentliche Frage: Was hat all das mit Fontane mit zu tun hat? Die Antwort findet sich in einem der erwähnten ausgeleuchteten Winkel.

Während die Gegenwart des Romans im schwäbischen Raum angesiedelt ist, lokalisiert sich die Herkunft der Familie des Protagonisten nirgends anders als im brandenburgischen Havelland, in Rathenow nämlich. In mehreren Sequenzen schildert der Erzähler, wie er dort auf der Suche nach Spuren seiner Familie ist. Es werden für den ansonsten reduziert und parataktisch gehaltenen Roman merkwürdig üppig die Erlebnisse im Havelland geschildert. Zitaten vom dialektalen Volkslied bis hin zu Adalbert Stifter untermauern das Erzählen, ja kontrastieren es. Nur Fontane fehlt an dieser Stelle …

Oder nicht? Nein: Denn nur zwei Kapitel später taucht Fontane auf, mit einem explizit ausgestellten Zitat aus den Wanderungen durch die Mark Brandenburg (Havelland, Kloster Lehnin, 1. Die Gründung des Klosters – Beschreibung der märkischen Landschaft um das Kloster Lehnin):

weite Flächen, Hügelzüge am Horizont, ein See, verstreute Ackerfelder, hier ein Stück Sumpfland, durch das sich Erlenbüsche, und dort ein Stück Sandland, durch das sich Kiefern ziehen (S. 182)

Aber dieses Kapitel, in dem das Zitat zu finden ist, ist genau jenes Kapitel, in welchem der Protagonist über die nationalsozialistische Gesinnung seines Vaters nachdenkt. Ist es bösester Zynismus, der Bjerg dazu trieb, Fontane neben ein Zitat aus dem Katechismus des SS zu setzen? Oder steckt mehr dahinter? Mit dieser offenen Frage endet hier der Blick auf ein beeindruckendes und ein bedrückendes Buch: nicht ohne Hoffnung, dass sich eine Blog-Leserschaft findet, die Bescheid gibt. Feststeht, dass es Bjergs Roman nicht umsonst auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises geschafft hat!

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