Während ich an meinem Beitrag für eine kleine Festschrift sitze, die sich dem 30-jährigen Bestehen der Theodor Fontane Gesellschaft widmet, fällt mir das heutige Datum ins Auge. Helmuth Nürnberger, dem dankbar zu sein die Fontane-Welt gute Gründe hat, wäre heute 91 Jahre alt geworden. Als er im November 2017 starb, reagierten die überregionalen Zeitungen mit Nachrufen. Und die ihn persönlich kannten, vergewisserten sich, was ihnen die Bekanntschaft bedeutet hat.
Wäre es nicht passender gewesen, 2020 an Nürnberger zu erinnern – und passender auch, die Festschrift nach 30, statt nach 31 Jahren herauszubringen? So sind wir es gewohnt und so handhaben wir’s üblicherweise. Aber ist das nicht eigentlich Unfug? Wenn sich die Erinnerung einstellt, gehört sie ausgestellt, gehört sie mitgeteilt. Mir jedenfalls kam heute früh in Erinnerung, wie ich 2005 von der Flensburger Hochschule eingeladen wurde, anlässlich des 75. Geburtstags von Prof. Dr. em. Helmuth Nürnberger die Rede zum Tag zu halten.
Bekannt war ich mit dem damaligen Jubilar seit Dezember 1990. Da hatte er das Amt des Vorsitzenden der frisch gegründeten Theodor Fontane Gesellschaft übernommen, und ich war in den Vorstand gewählt worden. Unsinnigerweise hatte ich mir den Autor des mit Verve und Frische verfassten Buches Der frühe Fontane 1840-1860. Politik, Poesie, Geschichte (1. Auflage Hamburg: Wegner 1967) als einen eher jungen Mann vorgestellt, nicht als 60-jährigen, der er war. Schnell war ich eines Besseren belehrt. Helmuth Nürnberger gab sich durchaus altersgemäß und fand an dieser Rolle augenscheinlich Wohlgefallen … Er handhabte sie nicht ohne Eleganz und mit Geschick.
2005 lag die Bekanntschaft 15 Jahre zurück und ich war mittlerweile sein Stellvertreter geworden. Zweite Wahl übrigens, was angesichts unserer Verschiedenheit, die im Vorstandsalltag nicht verborgen blieb, nicht verwunderlich gewesen war. Doch wir hatten uns in unsere Eigenarten gefunden. Er billigte, nicht immer ganz unbekümmert, meinen Hang zu freiem Urteil in Konfliktsituationen. Da das bis zu abweichendem Verhalten beim Votieren führte, kostete ihn das Kraft, die er ungern aufbrachte. Und ich entschloss mich, sein wendiges Taktieren, das die Intrige oder sagen wir : den verdeckten Gestaltungswillen nicht scheute, als Schule des (Vereins-)Lebens zu nehmen. Auch Lektionen mit problematischem Lerninhalt lehren. Da wir beide indes eine gehörige Schwäche für Ironie hatten, fehlte es nicht an gelösten Momenten. In unserer besten Zeit genügte ein Blick aus den Augenwinkeln, uns dessen zu versichern. Dass er diese Vorliebe kaschierte durch überbetonten Sanftmut im Umgang, störte mich nicht, fast im Gegenteil.
Doch zurück ins Jahr 2005. Zögerlich hatte ich der ehrenvollen Bitte, als Geburtstagsredner aufzutreten, entsprochen. Ich war mir des Tones nicht gewiss, den ich anzuschlagen hatte und der dem Anlass so gerecht wurde wie unserer Beziehung. Aus der Klemme half mir die Fontane-Chronik. Sie hatte sich immer mehr in eine ausgedehnte Trümmerlandschaft verwandelt. Ich saß allein an dem Monster und die Zeit mir im Nacken. Statt Ruhm drohte Ruin oder doch Ruinöses. Gleich nach der Begrüßung fragte Nürnberger nach ihrem Stand – und ich hatte Mühe, standhaft mein längst Gewohnheit gewordenes „bitte fragen Sie nicht“ zu murmeln. Aber es ging mir doch leichter als gedacht über die Lippen, hatte ich doch dort den Schlüssel für die Festrede gefunden. Inwiefern?
Was war näherliegend gewesen, als in der Chronik den 19. Januar unter die Lupe zu nehmen. War das ein einträglicher Tag in Fontanes Leben? Hatte er Profil und Gewicht? Ja, unbedingt. Denn an diesem Tag feierte Fontanes Gönner und Freund Franz Kugler seinen Geburtstag. Der Kunsthistoriker, mit dem Fontane zusammen den ersten Band des belletristischen Jahrbuchs Argo herausgegeben hat, war Förderer des elf Jahre Jüngeren. Und der war angetan vor Kuglers kunstgeschichtlichem Wissen und hatte Respekt vor dessen geheimrätlichen Reputation. Über Jahre konnte der Chronist jenem 19. Januar also Handfestes einfügen: mal einen Brief, mal Gelegenheitsverse, mal einen Besuch. Kurzum: Die Festrede nahm sich diesen Jahrestag vor und suchte ihn auf den Festakt zum 75-jährigen Lebensjubiläum Nürnbergers umzumünzen.
Gelang es? Ich bin mir bis heute ungewiss. Hier und da wurde geschmunzelt, auch einmal beifällig genickt – doch als der so Beredete nun seinerseits ans Podium trat, verflog das alles wie ein loses Blatt im Herbstwind. Denn rhetorisch gewandt drosselte Nürnberger in seiner Dankesreplik dem nur dem Anschein nach feingeknüpften Datumsspaß den speisenden Energiequell. Ausgelassen heiter parlierte er, dass sein eigentliches Geburtsdatum der 18. Januar sei, kurz vor Mitternach. Aber aus diesem und jenem Grunde habe die erschöpfte Kreißsaalschwester den fälligen Eintrag erst in der bereits angebrochenen Morgenstunde des Folgetages vorgenommen … Das wurde alles mit so viel Wortwitz und Amüsement vorgetragen und besaß einen Zauber, dem sich niemand zu entziehen vermochte. Da war nichts zu machen, meine Pointe verpufft. Ich faltete meine Blätter zusammen, kniff sie scharf in der Mitte und verstaute sie abgrundtief in meiner Jackentasche. Als alles vorbei war und ich mich nur noch nach dem rettenden Bufett umschauen mochte, kam – wie denn auch anders – ein aufgeräumter Helmuth Nürnberger auf mich zu. Er schüttelte mir die Hand, klopfte auf meine Schulter und zeigte sich bester Laune. Dem Kellner, ein Tablett mit Sektgläsern balancierend, rief er fröhlich ein „hier bitte!“ zu, um, kaum hatten wir ein Glas in der Hand, mir – – – „Du“ anzubieten.
Nein, hier breche ich ab. An dieser Stelle beginnt schon das nächste Kapitel, dem wiederum weitere folgen sollten. Sie sind begraben in einer umfänglichen Korrepondenz, die wir zeitweilig intensiv, später lose pflegten. Der zum Literarisieren neigende Briefschreiber Nürnberger – ein Talent, das ihm Charlotte Jolles einmal abgesprochen hat (er, anhaltend gekränkt, parierte das mit geflissentlichem Beipflichten) – verdient die Entdeckung. In diesem Briefaustausch hat sich viel Kurioses zweier kaum zu vereinbarenden Charaktere abgelagert, aber vor allem bunte Bilder von Glück und Leid, wie sie die Historie der Theodor Fontane Gesellschaft mit sich brachten.
Heute wäre Helmuth Nürnberger 91 Jahre alt geworden.