Dorothea Keulers Effi B.

„Mit Effis Leiden und Sterben war ich nie so recht einverstanden. Es ärgerte mich, wie diese bedauernswerte Frau alle Emanzipationschancen ignorierte.“ (S. 236), schrieb Dorothea Keuler in das Nachwort ihres Romans Die wahre Geschichte der Effi B.

Heutzutage gibt es mehrere Möglichkeiten, sich über Literatur zu informieren und auszutauschen. Neben literarischen Zeitschriften, Leserunden und Literaturblogs findet auch auf der Social Media Plattform Instagram ein reger Austausch zwischen Literaturliebhaber*innen statt. Auch ich bin aktiver Teil dieser Community und habe so den Beitrag von Nicole Seifert auf ihrer Instagram-Seite nachtundtag.blog entdeckt. In ihrem Post vom 8.6.2020 stellte Frau Seifert den Roman Die wahre Geschichte der Effi B. vor. Nach der kurzen Beschreibung wusste ich, dass ich dieses Buch lesen musste!

104 Jahre nach dem Roman Effi Briest von Theodor Fontane erschien die Romanadaption Die wahre Geschichte der Effi B. von Dorothea Keuler. In dem Werk beschrieb Keuler eine andere Variante der Geschichte. Indem sie Motive und Ereignisse des echten Werkes als Inspiration zur Hilfe nahm, entwickelte sie ein völlig neuen, aber ebenso fesselnden Handlungsstrang. Dabei betonte sie in ihrem Nachwort, dass „es sich bei der ‚Wahren Geschichte der Effi B.‘ um eine Travestie, eine Form literarischer Komik“ (S. 233) handelte.

Wer ist Dorothea Keuler?

Dorothea Keuler wurde 1951 in Kirchheim unter Teck geboren. Sie studierte zunächst Erziehungs- und Empirische Kulturwissenschaft und absolvierte anschließend ein Studium in deutscher und englischer Literaturwissenschaft. Neben Tätigkeiten als Verlagslektorin und Volkshochschuldozentin arbeitete sie ebenfalls als Journalistin. Sie veröffentlichte neben dem Roman Die wahre Geschichte der Effi B., der 1999 bei Piper erschienen ist, weitere Bücher, die sich vor allem mit der Geschichte der Frauen beschäftigten. So zum Beispiel die Werke Undankbare Arbeit. Die bitterböse Geschichte der Frauenberufe, erschienen 1993 beim Attempto Verlag und Provokante Weibsbilder. Historische Skandale aus Baden und Württemberg, erschienen 2011 im Silberburg Verlag.

Die wahre Geschichte der Effi B.

Ich finde, die Geschichte, wie meine Mutter sie erzählte, klingt wie ein Märchen, und das ist sie auch. In Wirklichkeit war alles ganz anders. (Prolog)

Mit diesen Worten leitete Anna, die Tochter von Effi, die ‚wahre‘ Geschichte ihrer Mutter ein. Und somit wurde ich in den Bann der Erzählung gezogen. Beim Lesen des Romans herrschte eine ähnliche Atmosphäre wie in Effi Briest. Die Autorin schaffte es, den Stil Fontanes in ihr Buch einzuweben und ehrte somit die ursprüngliche Idee. Gleichzeitig machte sie aus dem Stoff eine eigene Geschichte, die einen völlig neuen Blick zuließ. Sie nutzte dazu geschickt die vielen angedeuteten Motive in Effi Briest. Die ehemalige Liebelei zwischen Innstetten und Effis Mutter Luise diente hervorragend als Weiterentwicklung eines Inzestmotivs. Dabei schrieb Keuler das aus, was Fontane nur andeutete.

Inzestmotiv

So ließ sie ihre Version der Geschichte mit den folgenden Worten beginnen: „Als Luise die Augen wieder öffnete, war sie keine Jungfrau mehr.“ (S. 9) und führte das Motiv durch den ganzen Roman fort. „‚Effi, du kannst Dagobert nicht heiraten […] so nahe Verwandte können einander nicht heiraten!'“ (S. 84) bemerkte Briest gegenüber seiner Tochter. Innstetten hingegen schlug seiner Tochter Anna vor: „‚Dagobert hat mich gestern um deine Hand gebeten. […] Du würdest damit ganz gewiß auch im Sinne deiner Mutter handeln, die immer ein faible für ihren Cousin hatte.'“ (S. 179-180). Keuler entwickelte einen Handlungsstrang, der in eine erneute Wiederholung der ursprünglichen Geschehnisse zu münden schien.

Hintergrundgeschichte des Spukhauses

Den Spuk im Haus der Innstetten in Hohen-Cremmen um den mysteriösen Chinesen nutzte Keuler, um die Hintergrundgeschichte herauszuarbeiten. In Keulers Version wurde der mysteriöse Chinese aus Fontanes Werk zum Leben erweckt. Seine Mutter „Miss Elizabeth Wellbourne nämlich war seinerzeit mit dem Sohn eines chinesischen Geschäftspartners durchgebrannt […].“ (S. 32) Darauf aufbauend entwickelte sich eine eigenständige Geschichte, die Keuler weiterspann, indem sie die Geschichten von Luise und James ineinander verwebte. „James hatte nur Augen für Luise. Und noch ehe er sich überlegt hatte, […] hatte sie ihm die Hand auf den Arm gelegt.“ (S. 46)

So verstrickte Keuler nach und nach die Schicksale mehrerer Figuren zu einem undurchdringlichen Gestrick voller Lügen und Intrigen. Nur allein Effis Tochter Anna war im Stande, das Gewirr zu durchschauen. „‚Es muß einmal Schluß sein mit dieser entsagungsvollen Familientradition. […] Ich möchte nicht den Mann heiraten, den meine Mutter liebte, sondern den, den ich selber liebe!'“ (S. 181). Sie setzte sich intensiv mit ihrer eigenen Familiengeschichte auseinander. Dadurch deckte sie die verschwiegenen Geheimnisse ihrer Familie auf und verhinderte ein weiteres Lügennetz.

Theodor Fontane: Effi Briest

Als ich zunächst Effi Briest las, empfand ich den Ausgang der Geschichte ebenso bedauernd. Einige Punkte stimmten mich unzufrieden. Mir war die arrangierte Ehe zwischen Innstetten und Effi suspekt. Insbesondere in dem Punkt, dass ihre Mutter einst Sympathien für den zukünftigen Schwiegersohn hegte. Das vermeintliche Spukhaus hinterließ zudem offene Fragen, die Fontanes Roman nicht aufklärte. Des Weiteren war mir die Beziehung zwischen Effi und Crampas zu unausgesprochen und rechtfertigte somit, meiner Meinung nach, nicht den tragischen Ausgang. Fontane hinterließ den Leser*innen ein Werk voller offener Fragen, die zum Nachdenken anregten.

Ansatzpunkt von Dorothea Keuler

Und genau diese vielen ungeklärten, angedeuteten Motive brachten Keuler dazu, ihre Version der Geschichte zu schreiben. Sie bot damit eine Variante, die sich aus den Werken Fontanes weiterentwickeln ließ und bewirkte gleichzeitig einen Auftakt, ihr das nach zu tun. In ihrem Nachwort schrieb sie selbst:

 Schon immer wurde Literatur aus Literatur gemacht. Jeder Text verweist auf andere Texte, die ihm vorausgingen oder in seinem Umfeld existieren. […] Weil man sie kennt und liebt, aber auch weil andere Figuren als der Held, die Heldin in den Mittelpunkt des Interesses rücken. Oder weil man sich fragt, welche anderen, bloß angedeuteten, verschwiegenen, verheimlichten, verschütteten Geschichten sich hinter der „richtigen“ Geschichte verbergen. Und: Gibt es diese „richtige Geschichte“ überhaupt? Erzählt nicht jede und jeder Beteiligte eine andere? (S. 234-235)

Dorothea Keuler eröffnete die Möglichkeit, die Werke von Fontane nicht als abgeschlossenes Konstrukt zu begreifen, sondern als Anregung, die Geschichte mithilfe der eigenen Fantasie weiterzuspinnen. Indem die Literatur Fontanes Werke wiederverwendet, wird erst der wahre Gehalt der Geschichte deutlich. Denn die offenen Motive bewirken erst die Option einer literarischen Adaption.

Fontane lesen, heißt eben auch, die Motive Fontanes nicht einfach nur zu akzeptieren, sondern auch, sie zu nutzen und seine eigene Sicht zuzulassen. Und hat Fontane nicht selbst die reale Geschichte um Elisabeth von Plotho als Inspirationsquelle genutzt?

 

Bibliografie:

Keuler, Dorothea: Undankbare Arbeit. Die bitterböse Geschichte der Frauenberufe, Attempto, Tübingen 1993.
Keuler, Dorothea: Die wahre Geschichte der Effi B., Piper, München 2000.
Keuler, Dorothea: Provokante Weibsbilder. Historische Skandale aus Baden und Württemberg. Silberburg Verlag, Tübingen 2011.

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