Fontanes „Der Stechlin“ im Abitur 1982

Fast ein Jahr ist es her, da schickte ein Freund, der sich hatte in die Theodor Fontane Gesellschaft locken lassen, einen Brief vom Feinsten – der überdies mit einem Freibrief schloss: „Vielleicht mögen Sie ja etwas damit anfangen …“.

Dr. Christian Schmitt an R. B., 11. Februar 2020

Der Umschlag enthielt nämlich nicht nur diese liebenswürdigen Zeilen – geschrieben in bestechend schöner Handschrift auf feinstem Papier, sondern auch ein angegilbtes DIN A4-Blatt. Wem Archive sakrale Orte sind und wer viele seiner glücklichsten Stunden über Autographen aller Art gehockt hat, der erlag dem Reiz sofort. Das Blatt, eben noch brachial im Umschlag gefaltet, wurde mit äußerster Vorsicht, als handele es sich um ein Archivgut Marbacher Provenienz, auf den Schreibtisch gelegt. Sanftes Licht der dort sorgsam platzierten Lampe fiel auf den Bogen.

Und wie es sich gehört, setzte sogleich eine sorgsame Musterung ein. Der Materialbefund – heute zuweilen wichtiger genommen als die Sache selbst – ergab: masch. hektographiert, A4-Bogen mit hs. Notizen, Blei und Tinte, leicht vergilbt, am linken Seitenrand minimal beschädigt, 1 Bl., 2 S. Nach dem kurzen hektographierten Text folgten mit Bleistift vorgenommene Notizen. Sie machten den größten Teil der Vor- und Rückseite aus und verrieten eine eilige Niederschrift – offenbar ausschließlich für den eigenen Arbeitsgebrauch gedacht. Auf der zweiten Hälfte der Rückseite dann ein augenfälliger Einschnitt. Der Verfasser wechselte offensichtlich nicht nur das Schreibgerät – der Bleistift wurde vom Füller abgelöst –, sondern auch das Profil seiner Notierung. Ganz am Ende griff er dann doch noch einmal zum Blei. Getrennt durch einen Schrägstrich notierte er sich drei Zahlen. Der Begleitbrief hat eine Fährte gelegt. Es wird sich um Seitenverweise zu einer damals in den Schulen benutzten Ausgabe von Fontanes „Der Stechlin“ handeln. Das Blatt selbst fand sich, wie der Brief mitteilt, vor dem 32. Kapitel, in dem so hübsche Passagen stehen wie diese aus dem Mund von Grafen Barby, dem Vater der bezaubernden Melusine:

Alle beschränkten und aufgesteiften Individuen, alle, die eine bornierte Vorstellung vom Christentum haben – das richtige sieht ganz anders aus – alle Pharisäer und Gernegroß, alle Selbstgerechten und Eiteln fühlen sich durch Personen wie Melusine gekränkt und verletzt, und wenn sich der alte Stechlin in Melusine verliebt hat, dann lieb‘ ich ihn schon darum, denn er ist dann eben ein guter Mensch. Mehr brauch‘ ich von ihm gar nicht zu wissen.

Soweit mit der Analyse des Textzeugen gekommen, war ein Besinnungsmoment angezeigt. Kurz ging der Blick zum Fenster hinaus, dann aber, als gelte es, keine Zeit zu verlieren, sofort wieder auf das Blatt. Je genauer die Musterung des freundlich Zugesandten, um so ergiebiger der Ertrag. Schon die Kopfzeile versprach Klärung. Da stand: „Klausur Nr. 2 LKD 9. 11.“ LKD – was um alles in der Welt bedeutet LKD? So fragt vielleicht die eine oder der andere. Ganz entschieden abzuraten ist vom allzeit lockeren Googlefinger. Man gerät unversehens zu soolchen Angeboten: „Landesarbeitsgemeinschaft Kulturpädagogische Dienste / Jugendkunstschulen NRW e. V.“, wird da in Flinkheit angeboten, „Landeswirtschaftliche Kontroll- und Dienstleistungsgesellschaft mbH“, „Ladenbau Kühltechnik Dienstleistungen“ und „Leitender Kriminaldirektor“. Schon hat man ein mitleidiges Lächeln aller Gymnasialschüler*innen der Bundesrepublik Deutschland einzustecken und im Ohr einen dröhnenden Chor: „Leistungskurs Deutsch“. Natürlich, selbstverständlich – was sonst. Der Absender der historischen Schülerfracht wird im Spätherbst 1982 weder dem geschichtslastigen Datum noch der Kopfzeile auch nur eine Tausendstelsekunde Aufmerksamkeit geschenkt haben: In latenter Klausurpanik wird er vielmehr mit fliegenden Augen zum Eigentlichen gejagt sein – und das fand er unmittelbar nach dem Hinweis „Textgrundlage: Th. Fontane, Der Stechlin“. Zweiteilig bot es erst ein Schriftsteller-Zitat, dann die Themenstellung, alles zünftig.

Alles Plauderei, Dialog, in dem sich die Charaktere geben, mit und in ihnen die Geschichte. Natürlich halte ich dies nicht nur für die richtige, sondern sogar für die gebotene Art, einen Zeitroman zu schreiben …

Mit dieser Aussage Fontanes über sein Alterswerk Der Stechlin, so die Leistungskurs-Forderung, solle sich der Klausurkandidat auseinandersetzen und dabei den besonderen Stellenwert, den dabei „die Sprache“ einnehme, berücksichtigen. Damit alles Hand und Fuß hat, gebot die Aufgabenstellung: „Belegen Sie ihre [!] Ausführungen an geeigneten Beispielen im Text.“ Erschrak der Gymnasiast vor diesen Anforderungen, lehnte er sich entspannt zurück, „das krieg‘ ich hin“ oder legte sich seine Stirn in Falten als sichtbare Zeichen konzentrierten Nachdenkens? Kamen die Notizen rasch aufs Papier oder sind sie Ergebnis längeren Bedenkens? Was überhaupt hielt er, der junge Kerl, von einem umständlichen Erzählwerk eines derart alten? Hatte ihn das Buch gelangweilt, war er von den Endlosgesprächen genervt und musste er sich verbiegen, um auf die Zensurengerade zu gelangen?

Leichtes Kaliber, so viel ist gewiss, war dieses Klausurthema nicht. Eins lässt sich aus den Stichworten unbedingt ablesen: Der Klausurverfasser folgte dem Schriftsteller, er ging gewissermaßen mit, was Fontane knapp einhundert Jahre zuvor in einem Briefentwurf aufs Blatt probehalber geworfen hatte. Es schien ihm überzeugend. Aber verdeckt spiegeln die Orientierungssätze auch eine gewisse Ergebenheit. Der Schüler hatte herausgehört, was da von ihm verlangt wurde – die Richtung war klar, die Weichen gestellt: also ab dafür – – –

Aber es kann auch anders gelegen haben. Aus den Überlegungen mag vielleicht ein weiterführendes Argumentieren erwachsen sein. Vielleicht krümmte sich sogar dies und das Ausrufe- in ein Fragezeichen, wer weiß. Warum sollte sich nicht bei einem aufgeweckten Kopf die Einsicht geregt haben, dass dem Roman in seinen vertrackten Dimensionen nicht so leichthin auf die Schliche zu kommen sei. Was da von einem über die Maßen versierten Schriftsteller am Ende seiner Tage dahinerzählt scheint, brachte es nicht mehr zur Sprache, als ein 17-, 18-Jähriger zu erfassen und aufs Klausurpapier zu bringen vermochte? Ein Signal dieser Art, ist es nicht denkbar? Es muss kein weißes Tuch widerstandslosen Kapitulierens gewesen sein, aber doch ein zaghaftes: „Ich stoße an meine Grenzen, ich bin kein Hänschen Übermut und ein Schwadroneur schon gar nicht.“

Denn durch die Sprache werden Personen und Gesellschaft charakterisiert, durch Handlung ist dies gar nicht mehr möglich (deswegen ließe sich die Handlung im Stechlin auch auf wenige Seiten konzentrieren)

Mit diesen Worten öffnet das Klausur-Konzeptblatt einen Horizont, den die Reinschrift dann ausgeschritten hat. Ein Jammer, dass der Text im Nimmerleins-land baden-württembergischer Schul-magazinverliese verschwunden ist – nach fünf Jahren vernichtet oder schon nach Durchsicht und Benotung der Kritik gnadenloser Nagetiere ausgesetzt … Ohne Zögern hätte der Fontane-Blog eine solche Arbeit gedruckt. Lehrreich für die Abiturient*innen des Jahres 2021 – und lehrreich für uns Ältere, die wir nicht unbedingt die Schlaueren. Und es hätte gereizt, den Verfasser – der selbst ein Sprachliebhaber und Meister des Gesprächs geworden ist – noch einmal zu befragen: Wie war das damals eigentlich – vor dem Blatt, vor den Fragen, vor Fontanes „Stechlin“?

Folgenlos jedenfalls blieb auch dieser 9. November nicht. Den Klausur-Kandidaten von damals verschlug es zwar nicht in der Germanistik mit ihrer Fontanologie, sondern in die Medizin. Indes: Er verfasste Kluges über das Krankheitsbild des Schriftstellers Uwe Johnson – und, fast noch besser: Seit einigen Jahren gehört er zu geschätzten Mitgliedern der Theodor Fontane Gesellschaft.

 

P. S.: Die Abbildungen erscheinen mit freundlicher Genehmigung von Herrn Dr. Christian Schmitt, dem dafür mindestens ebenso freundlicher Dank gebührt.

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