Fontane, „Schach“ und Uwe Johnson. Ein Hinweis

Wer Uwe Johnsons Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl gelesen hat, der wird eine Episode aus der vierten Lieferung nicht vergessen. Sie findet sich unter dem Datum 2. August 1968, erzählt von einer Oberschule in einer mecklenburgischen Kleinstadt und beginnt so:

Ein jedes Kind, das sich erinnert an die Deutschstunden der Elf A Zwei 1950/ 51 in Gneez, unausweichlich wird es rufen: Schach! Schach! (JT 1694)

und endet mit dem Fazit:

Einen einzigen Anzug (grauen Sommerstoff) hatte er [der Lehramtspraktikant Herr Weserich] besessen, den trug er mit Tuch in der Brusttasche und täglicher Krawatte; als sei er uns den achtbaren Aufzug schuldig. Und wir hatten bei ihm das Deutsche lesen gelernt. (JT 1707)

Um dieses Ziel zu erreichen, hatte der kriegs- und seelenversehrte Junglehrer seiner Klasse Theodor Fontanes Roman Schach von Wuthenow. Erzählung aus der Zeit des Regiments Gensdarmes angeboten. Fontanes Text, 1878 begonnen, war zuerst 1882 in der Vossischen Zeitung und dann, ein Jahr später, im Verlag von Wilhelm Friedrich als Buch erschienen. Über mehr als zwanzig Druckseiten erinnert sich die nun in New York lebende ehemalige Schülerin Gesine und der ihr behilfliche Erzähler an jenes unvergessliches Unterrichtserlebnis. Und während wir lesen, kehrt der Glanz dieser Erfahrung zurück und strahlt zeitlos fort.

Darüber ist viel geschrieben worden, immer bewundernd, beinahe andächtig. Wem das widerfahren ist, der hat in den Himmel geschaut. Traurig sieht er Herrn Weserich, von einem leichtfertigen Schüler politisch brüskiert, nach. Der Schaden war nicht zu heilen, der Schüler verwendete viel Mühe darauf, vergeblich. Wenige Jahre später sollte unter dem Verfassernamen Mathias Weserich eine Dissertation über Fontanes Roman in einem westdeutschen Verlag als Buch herauskommen.

Für Uwe Johnson war Fontane kein Erzähler unter anderen. Er hat bei ihm gelernt und sich dazu bekannt. Wenn man wissen wolle,

was unsere Vorgeschichte in den letzten vierzig Jahren des 19. Jahrhunderts ist, dann werden wir eben nicht mehr vordringlich zu Bismarck greifen oder zu Bülows oder zu Caprivis und zu Bethmann-Hollwegs Erinnerungen, wir werden Fontane lesen, und da werden wir ein Bild der Gesellschaft bekommen, wo die konkreten Einzelheiten und das Verhalten der Personen uns viel mehr überzeugen. [Manfred Durzak: Gespräch mit Uwe Johnson, S. 435]

Daran hat er sich gehalten. Es empfiehlt sich immer wieder, Johnson beim Erzählen zuzuschauen, wie er eine Geschichte einrichtet, die Figuren – bei ihm „Personen“ – lebendig werden lässt: in dem sie reden und schweigen. Ja, vor allem wie er die Kunst des Unausgesprochenen ‚zur Sprache‘ bringt und Unsagbares ‚ins Wort‘.

Jetzt ist im jüngsten Johnson-Jahrbuch (27/2020) die Transkription einer Diskussion mitgeteilt worden, die mit Johnson nach seiner Lesung aus Jahrestage am 1. März 1974 in Köln geführt wurde. Ganz am Ende steht Johnsons Erwiderung auf die Frage, ob es überhaupt möglich sei, „Ihre Bücher in der Schule zu lesen?“ Seine Antwort:

Ich habe mal ein Kind getroffen, das war von meinem Jahrgang. Dieses Kind hat mir erzählt, sie hätten im Jahre 1950 und 1951 bei einem Deutschlehrer gearbeitet, der hätte diese ganzen beiden Jahren nix anderes lesen lassen als eine Erzählung von Fontane, den Schach von Wuthenow. Und dieses mittlerweile erwachsene Kind hat mir gesagt, das wäre eigentlich die allerbeste Einführung gewesen in Fontane, und dieses Kind liest heute weiterhin Fontane. […] Es gibt solche Lehrer, die können einen zum Leser erziehen, und es gibt solche Lehrer, die die Literatur als Pensum auffassen und den Schüler und den zukünftigen Leser eher darauf hinweisen, als daß Lesen ein Vergnügen sein kann und nebenher auch noch eine Erkenntnismöglichkeit. (S. 54)

Ja.

 

Literatur:
Aus Respekt vor Realität. Diskussion mit Uwe Johnson am 1. März 1974 in Köln im Anschluss an eine Lesung aus Jahrestage. In: Johnson-Jahrbuch Band 27/2020. Hg. von Holger Helbig, Bernd Auerochs, Katja Leuchtenberger u. Ulrich Fries. Göttingen: Wallstein 2020, S. 39-54.
Manfred Durzak: Dieser langsame Weg zu einer größeren Genauigkeit. Gespräch mit Uwe Johnson, in: ders., Gespräche über den Roman. Formbestimmungen und Analysen, Frankfurt am Main 1976, S. 428–460.
Bodo Plachta: Geschichte und Gegenwart. Theodor Fontanes Schach von Wuthenow in Uwe Johnsons Jahrestagen. In: Euphorion 90, 1996, H. 2, S. 206–218.
Norbert Mecklenburg: Die Erzählkunst Uwe Johnsons. Jahrestage und andere Prosa, Frankfurt am Main 1997.
Roland Berbig: „Er hatte die Geschichte, er hatte die Personen, er wollte das zu Papier bringen“. Fontane bei Uwe Johnson. In: Johnson-Jahrbuch Band 22/2015. Im Auftrag der Uwe Johnson-Gesellschaft. Hg. von Holger Helbig, Bernd Auerochs, Katja Leuchtenberger u. Ulrich Fries. Göttingen: Wallstein 2015, S. 109–126.

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