Erinnern Sie sich an Ihre erste Begegnung mit Fontane?
Wie wahrscheinlich viele, begegnete ich ihm schon im Kindesalter. Ein beliebtes Prozedere war es in der Schule, die Schüler*innen den berühmten Herr[n] von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland auswendig vortragen zu lassen. Wer sich das (für Kinder recht lange) Gedicht nicht gut merken konnte, konnte es spätestens, nachdem man es sich etwa 27-mal nacheinander anhören durfte. Dass einem als Kind der Spaß vergehen kann, wenn das der einzige Berührungspunkt mit Fontane ist, verwundert nicht. Zum Glück hatte ich eine Familie, die nachhalf.
Als ich neulich in meinem Bücherregal stöberte, entdeckte ich ein Buch, das meine Oma mir als Kind geschenkt hat. Es handelt sich um Der kinderleichte Fontane, ausgewählt von Gotthard Erler. Die bunten Illustrationen stammen von Sabine Wilharm, bekannt durch die Cover-Bilder der Harry-Potter-Bücher. Das Buch erschien 2009 im Aufbau-Verlag. Mit dem Schutzumschlag voller Birnen weiß es genau, was Kinder mit Fontane verbinden.
Dass Herr von Ribbeck im Buch nicht fehlt, überrascht nicht. Doch welche Werke hält der Herausgeber noch für kindgerecht? Wodurch wird das Buch für Kinder zugänglich gestaltet? Und für welche Altersgruppe ist es empfehlenswert?
Die Einleitung: Ein Lausejunge aus Swinemünde
Die allererste Doppelseite, noch vor dem Schmutztitel, ist übersät mit – natürlich – Birnen. Auch auf jeder der acht Seiten Einleitung taucht mindestens eine Birne auf (5-13). Ich habe die Befürchtung, dass das Thema des Herrn von Ribbeck in diesem Buch etwas inflationär gehandhabt wird. Diese entpuppt sich als falsch. Sobald die Einleitung vorbei ist, sind keine Birnen mehr zu finden.
Der Titel von Erlers Einleitung löst die (zugegebenermaßen stereotype) Assoziation aus, das Buch sei eher an Jungen gerichtet. Die abenteuerlichen Illustrationen zeigen, passend zum Text, Fontane als Birne im historischen Kontext seiner Lebenszeit. Eine Birne mit Gewehr, eine Birne auf einer Dampflok oder eine Birne im Vorreiter des Flugzeugs (6 ff.). Erler erzählt von Fontanes Kindheit in „Vaters riesigem Wohnhaus“. Die Mutter bleibt unerwähnt. Auch die Betonung, dass „seine nicht ungefährlichen Streiche […] nicht unbedingt zur Nachahmung zu empfehlen“ sind (5), spricht für meine Gender-Vermutung.
Die Einleitung versucht, die Leser*innen auf Fontanes Texte neugierig zu machen. Dies geschieht durch die Erwähnung der berühmtesten Gedichte sowie einem Vergleich mit modernen Medien (6). Fontanes Leben wird zeitlich eingeordnet, um seine Texte für die jungen Rezipierenden besser verständlich zu machen (7 f.).
Seine Geburtsstadt Neuruppin preist Erler den Kindern an. Er ermutigt zu einem Besuch dort. Kindheit und Jugend verbrachte Fontane jedoch an der Ostsee. Sein Vater musste die Löwen-Apotheke aufgeben. Daraufhin zog die Familie nach Swinemünde im Norden Deutschlands. Der liebste Spielort ist laut Erler (angeblich) der Störtebekers-Kul gewesen. Ausgerechnet das Versteck des berühmten Seeräubers aus dem 14. Jahrhundert. Inwiefern diese Information belegt ist, bleibt fragwürdig. Fest steht, dass es sich für Kinder aufregend anhört und Sympathie mit dem jungen Fontane stiftet (8).
Auch Fontanes Mitgliedschaft in der Literarischen Gesellschaft Tunnel über der Spree wird erwähnt. Erler spielt auf seine linke Gesinnung an. Das Wort „links“ nimmt er dabei nicht in den Mund. Es wird lediglich gesagt, dass „Besitzverhältnisse und Standesunterschiede keine Rolle spielten“. Im folgenden Absatz schreibt Erler: „1848 erlebte er die Revolution in Berlin“. Der Fontaneexperte scheint manchmal zu vergessen, dass einige Informationen für Kinder neu sind.
Der nächste Satz, „ihr erinnert euch vielleicht aus dem Geschichtsunterricht“ (9), erklärt auch nicht, von welcher Revolution die Rede ist. Er zeigt eher, dass Erler nicht darüber im Bilde ist, welche Inhalte der Lehrplan für seine Zielgruppe vorsieht (Kinder ab sieben Jahren). Oder, dass das Buch älteren Kinder zu empfehlen ist. Den Eindruck bekommt man auch durch Begriffe wie „interniert“, „Metier“ oder „Stenographie“ (9 ff.). Kindern ab sieben Jahren würde ich zum gemeinsamen Lesen mit Erwachsenen raten.
Fontanes Texte
Doch genug zur Einleitung. Im Folgenden widme ich mich Fontanes Texten.
Insgesamt ist im Buch etwas mehr Lyrik als Prosa enthalten. Die Anteile sind aber fast gleich groß. Mit der Auswahl sollen Kinder also gleichermaßen an beide Gattungen herangeführt werden. Ich werde einige der ausgewählten Werke kurz kommentieren.
Das erste Gedicht des Buches ist die, auch bei Kindern sehr berühmte, Ballade John Maynard (22 ff.). Da sie nicht so übermäßig oft in der Schule behandelt wird, wie Herr von Ribbeck, halte ich sie für einen guten Einstieg. Darauf folgen die zwei kurzen Gedichte Butterstullenwerfen (25) und Seifenblasen (29). Sowohl in ihrer Thematik als auch in ihrer Länge sind beide äußerst kindgerecht. Zwischen ihnen sorgt eine kurze Geschichte dafür, dass die Kinder nicht das Gefühl haben, von Lyrik überhäuft zu werden.
Eine weitere Ballade ist Der Tower-Brand (30 f.). Um das Gedicht voll fassen zu können, muss man sich einigermaßen mit der Geschichte der britischen Dynastie auskennen. Zwei Namen werden allerdings auch in den Fußnoten erklärt – wohlgemerkt, zwei Frauennamen. Es wird offenbar davon ausgegangen, Kindern seien die männlichen Vertreter der Dynastien besser bekannt als die weiblichen. Aber das nur nebenbei. Auch, wenn man nicht jeden Namen kennt, handelt es sich trotzdem um ein Gedicht mit gewissem Abenteuerfaktor, das Kindern durchaus gefallen kann. Es geht schließlich um Geister. Und nicht nur das. Bemerkenswert ist, dass der Brand des Towers aus Perspektive der Geister geschrieben ist. Der Brand wird als etwas Genugtuendes beschrieben. Es wird geradezu als Enttäuschung dargestellt, dass nur der Inhalt und nicht die Mauern verbrennen. Das ist ein seltener Blickwinkel und könnte die Ballade für Kinder umso interessanter machen.
Eine weitere Ballade im Buch ist Der Kranich (53). Rührend illustriert erzählt das Gedicht von der Sehnsucht eines Kranichs, mit seinen „Brüdern“ in den Süden zu fliegen. Seine gestutzten Flügel halten ihn jedoch davon ab. Erstaunlich aktuell wirkt die Ballade, die sich leicht in heutige Debatten um Tierquälerei einordnen ließe. Indem Kinder die Bedeutung von gestutzten Flügeln aus der Perspektive eines Vogels selbst hören, kann man sie schon früh auf solche Themen aufmerksam machen.
Die Ballade Die Brück am Tay (58-61) beginnt mit einem Zitat aus Macbeth. Macht auch eine Fußnote kurz darauf aufmerksam, dass es sich hierbei um eine Tragödie Shakespeares handelt, dürfte sich Kindern der intertextuelle Bezug trotzdem kaum erschließen.
Dennoch erinnere ich mich, dieses Gedicht als Kind selbst gelesen und geliebt zu haben. Auch, wenn man nicht jede Anspielung versteht, die man als Erwachsene*r versteht, so vermittelt die Ballade doch eine mystische Stimmung, die schon auf mich als Kind eine große Anziehungskraft ausübte. In dieser Ausgabe trägt Sabine Wilharms großartige Illustration ihren Teil dazu bei. Die bunten, lustigen Geister im Vordergrund kontrastieren mit der düsteren Eisenbahnbrücke im Hintergrund. Obwohl die Illustration kindgerecht gestaltet ist, verklärt sie nicht den Ernst der Thematik – den (real passierten) Einsturz der Brücke über den Firth of Tay in Schottland. In ähnlichen Farben gehalten sind die Illustrationen zur Ballade Der Wettersee (62 f.). Sie spiegeln das märchenhafte Geschehen im See wider, das das Gedicht beschreibt.
Etwas weiter hinten im Buch ist eine nette Ballade zu finden, die davon handelt, wie ein Esel darauf besteht, einen Hund und eine Katze miteinander zu vermählen (82 f.). Einen Titel hat das Gedicht nicht. Auf liebenswürdige Art und Weise kritisiert Fontane arrangierte Hochzeiten. Die Problematik des Themas wird im Gedicht nachvollziehbar dargestellt. Da es von Tieren erzählt, wirkt es jedoch relativ harmlos und dadurch kindgerecht. So, wie Der Kranich einen guten Startpunkt um Debatten über Tierquälerei bietet, kann man diesen Text nutzen, um mit Kindern arrangierte Ehen zu besprechen.
Auf die Ballade folgt eine kurze Erzählung mit dem Titel Das väterliche Strafgericht (84-87). Ähnlich wie in Erich Kästners Als ich ein kleiner Junge war, erzählt Fontane von einer Situation, die er selbst als Kind erlebt hat. Dies tut er jedoch rückblickend mit den Augen eines Erwachsenen. Dadurch bekommt die Erzählung, sowohl für Kinder als auch für Erwachsene, einen besonderen Charme. Ich halte sie für gut geeignet für Kinder. Es wird beschrieben, wie unverständlich das Verhalten seiner Eltern für den kindlichen Fontane war. Dieses Unverständnis Erwachsenen gegenüber hat wohl jedes Kind schon einmal erlebt. Rückblickend versteht Fontane sie jedoch. Das fügt der Geschichte eine spannende Ebene hinzu, die eventuell das Verständnis mancher Situationen für Kinder erleichtert.
Im Gegensatz dazu scheint ein kurzes titelloses Gedicht zu stehen, das von einem kleinen frechen Kater handelt (109). Es wird beschrieben, wie sein Vater „ihm den Buckel krumm“ macht und „ihm einen Maulkorb“ umgibt, „[a]uf dass er lerne höflich sein.“ Hat Fontane doch in der eben beschriebenen Geschichte versucht, das Verständnis von Kindern für ihre Eltern zu verbessern, so scheint er hier das glatte Gegenteil zu tun. Statt nachzuvollziehen, warum der kleine Kater frech ist, meckert der Vater mit ihm und verbietet ihm den Mund. Auch, wenn das Gedicht vermutlich witzig gemeint ist, so ist es doch recht problematisch. Insbesondere im Vergleich zum väterlichen Strafgericht wird suggeriert, dass Kinder Verständnis für ihre Eltern aufbringen sollen, sich andersherum die Eltern jedoch nicht bemühen (müssen), ihre Kinder zu verstehen.
Darauf folgt ein weiteres Gedicht ohne Titel, das ich in diesem Rahmen ebenfalls nicht unproblematisch finde (110 f.). Es behandelt auf kritische Weise die Schlacht bei „Sherifmur [sic]“ im November 1715. Zwar erklären zwei Fußnoten kurz die gröbsten Eckdaten. Trotzdem finde ich es für Kinder schwer fassbar. Es ist eine große Aufgabe, das Thema „Krieg“ kindgerecht zu vermitteln. Man möchte die Kinder nicht zu sehr verstören, aber doch den Ernst der Lage deutlich machen. Leider empfinde ich insbesondere die zum Gedicht gehörende Illustration als unpassend. Sie zeigt viele Kinder, die sich im Kreis rennend hinterher jagen. Jede*r jagt die Person vor ihm*ihr, und wird von der Person hinter ihnen gejagt. Das mag metaphorisch den Verlauf der Schlacht deutlich machen. Jedoch stellt es das Kriegsgeschehen, bei dem Menschen ihr Leben verloren haben, als kindliches Fangen-Spiel dar. Dadurch wird meiner Meinung nach der Ernst der Thematik absolut verfehlt.
Es folgt die Ballade Fritz Katzfuß (112-115). Sie erzählt von einem Lehrling, den alle für langsam und faul halten, weil er ungewöhnlich lange braucht, um seine Aufgaben zu erledigen. Erst zum Ende des Gedichts kommt heraus, dass er nur so langsam ist, weil er heimlich Gedichte liest. In der letzten Strophe ergreift das lyrische Ich Partei für Fritz. Es schreibt: „Wie dir die Lehrzeit hinging […] / Ging mir das Leben hin. Ein Band von Goethe / Blieb mir bis heut mein bestes Wehr und Waffen“. Die Ballade ermutigt Kinder nicht nur zum Lesen. Sie enthält auch die Botschaft, dass es in Ordnung ist, so zu sein, wie man ist. Außerdem wird vorschnelles Urteilen kritisiert. Die anderen Kinder lachen nur über Fritz, weil sie sein Geheimnis nicht kennen. Halten sie ihn für langsam, wird er am Ende als jemand präsentiert, der ihnen intellektuell einen Schritt voraus ist.
Die Geschichte Mit Schiller auf dem Dachboden (116 ff.) enthält eine ähnliche Botschaft. Fontane erzählt, wie er sich als Kind quält, weil er Das Eleusische Fest von Friedrich Schiller auswendig lernen musste. Obwohl sein Vater halbherzig versucht, ihm seine Fragen zum Gedicht zu beantworten, scheitert er letztendlich. Er schreibt, er „habe das ‚Eleusische Fest‘ nicht auswendig gelernt, weder damals noch später.“ Ich kann mir vorstellen, dass es wahnsinnig erleichternd auf Kinder wirkt, von einem berühmten Dichter wie Fontane zu hören, dass auch er an solchen Aufgaben verzweifeln kann. Es nimmt Kindern den Druck, jede Aufgabe bewältigen zu müssen. Manchmal ist es eben auch in Ordnung, etwas nicht zu schaffen.
Urteil
Insgesamt fällt mein Urteil über die Auswahl von Fontanes Werken für das Buch gemischt aus. Prinzipiell finde ich die Idee des Buches toll. Die relativ dünne, bunt illustrierte Ausgabe ist äußerlich für Kinder zugänglich gestaltet. So werden Kinder, die gerne lesen, schon früh gefördert. Durch die leicht verständlichen Texte aus der Erwachsenenliteratur weckt man hoffentlich ihr Interesse daran, diese Affinität beizubehalten. Die Länge der Texte ist angemessen. Sind manche Balladen für Kinder recht lang, wecken die lustigen Illustrationen die Neugier daran. Bei einigen Texten halte ich es für problematisch, sie Kindern zu lesen zu geben. Trotzdem ist das Buch im Großen und Ganzen ein gelungenes.
Was die Altersempfehlung betrifft, bleibe ich bei der Einschätzung, die ich schon nach dem Lesen der Einleitung abgegeben habe. Die im Buch angegebene Empfehlung, ab sieben Jahren (5), halte ich für gewagt. Es kommen einige Geschichten und Gedichte vor, die auf historische Ereignisse oder andere Texte verweisen. Diese sind für so junge Kinder schwer zu verstehen. Wenn jedoch eine erwachsene Person dabei ist, mit der man die Texte gemeinsam lesen kann, ist das angegebene Alter in Ordnung. Insbesondere bei Texten wie Der Kranich, die sich in einen größeren Kontext einbetten lassen, ist das gemeinsame Lesen mit Erwachsenen empfehlenswert.
Titelangaben:
Gotthard Erler: Der kinderleichte Fontane. Illustriert von Sabine Wilharm. Berlin, Aufbau-Verlag, 2009, 127 Seiten, 22 Euro, Kinderbuch ab 7 Jahren. ISBN: 978-3-351-03773-4.