Das kann man so nicht sagen!

Auf dem Nachttisch liegt Michael Maars Die Schlange im Wolfspelz. Das Geheimnis großer Literatur. Der Klappentext auf der Rückseite des Covers lautet:

Ein Sprach- und Stilverführer, wie es noch keinen gab: Michael Maar zieht in seinem Hauptwerk die Summe seines Leselebens. Wer wie warum gut schreibt – in fünfzig Porträts, von Kleist bis Kronauer, entfaltet sich eine höchst originelle Geschichte der deutschen Literatur.

Die Empfehlung kam von Denis Scheck in der Sendung „Druckfrisch“. Nach dem Kauf im Inhaltsverzeichnis gleich Theodor Fontane gesucht, um zu lesen, dass er in den Reigen derer aufgenommen ist, die Maar ausgewählt hat. Ich war überzeugt davon, dass Maar über Fontanes Stil in seinem Werk zur großen Literatur des späten 19. Jahrhunderts erzählen wird. Denn im Buch geht es vor allem darum, wer hat welchen Stil, was ist ein guter Stil und worin unterscheiden sich die Stilmittel und die Kunst, Sprache in der Literatur, die unvergesslich bleibt, zu nutzen. Zusätzlich versprach ich mir Anregungen und Lesevergnügen, in einer Zeit, in der Vergnügen und Vergnügungen außerhalb der eigenen Wohnung im Bereich Kunst, Kultur, Theater und Kino nicht möglich sind. Die Auswahl der Dichter, Schriftsteller und Poeten war zusätzlich eine kleine Zeitreise in meine eigene Leselebensgeschichte, und ich war sehr einverstanden mit Textbeispielen als „Häppchen“ für den abendlichen Tagesabschluss.

Ja, Theodor Fontane wird im Buch über das Geheimnis großer Literatur nicht ausgelassen, und Michael Maar schreibt von Seite 150-154 über Fontanes Stil, doch sehr anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Unter der Rubrik III. Die Instrumente zeigen beginnt mit der Überschrift Fontanes Wassermelonen folgender Text:

Der hervorragende Fall für dieses „Nicht Fisch, nicht Fleisch“ ist – und wir hören die Entrüstungsrufe der Leser – Theodor Fontane. Wie? Fontane, der gerade für seine Dialogkunst so gepriesene Schöpfer der preußischen Gesellschaftsromane, der Schöpfer der von vielen über die „Madame Bovary“ gestellten „Effi Briest“? Eben der. Vieles an Fontane ist entzückend. Seine Essenz ist wie mit einer dicken Phiole in seinem Alterswerk „Der Stechlin“ konserviert, dessen Erscheinen im Oktober 1898 sein Verfasser um einen Monat verpaßte, abberufen vom Tod.

Es folgt die kürzeste Zusammenfassung des Stechlin, von Fontane selbst angekündigt mit „Zum Schluß stirbt ein Alter und zwei Junge heiraten sich – das ist ziemlich alles, was auf 500 Seiten geschieht“ und Maars Fazit, dass es sich um Dauergeplauder handelt. „Hoch gebildetes, amüsantes, geistreiches, oft bummeliges, manchmal biblisch feierliches und immer gleiches Dauergeplauder.“ Es gäbe „[n]ur ganz wenige Momente, in denen sich die Sprache zurückzieht und sich der Grenze des Verstummens nähert.“

Keine Figur hätte eine individuelle Sprache, selbst der tschechische Musiklehrer Wrschowitz fällt vom gerade noch wenig passablen Deutsch ins Berlinerische oder spricht unvermittelt ohne schiefe Syntax und scharfem Akzent. Wer es selbst lesen möchte, findet dieses Beispiel im Gespräch des Grafen Barby mit Nils Wrschowitz. Es stimmt. Auch die von Maar „Fontanes Manier“ genannte des „oder doch“ belegt der Autor für Zweifler mit Beispielen, „bei denen sich unmöglich unterscheiden ließe, ob sie von Dubslav, oder Czako oder Woldemar, ob sie von Frau Gundermann oder von Melusine gesprochen (respektive: gelacht) werden. Oder auch vom alten Briest.“ Alle Figuren „klingen nach their master’s voice.“

Letztlich sei eben die Stärke Fontanes, nämlich die „Kunst der wörtliche Rede“, seine Schwäche. Kein Mensch glaubt, dass man beim Reiten solche Gespräche wie Woldemar, Czako und von Rex führt, als sie sich das erste Mal dem Schloss Stechlin nähern.

Es ist dieser immer gleiche Fontane-Ton, den man irgendwann nur noch schwer erträgt. Es ist wie mit Wassermelonen, gegen die man prinzipiell nichts einwenden kann, an denen man sich aber irgendwann überißt.

Ich las die Kritik Maars, auch dass er bei Fontane eine Schwäche für die Sentenz erkannt hat, und alle Textbeispiele, die er aus Der Stechlin gewählt hat, kurz vor dem Einschlafen an einem Samstag vor. Ich brachte meine Zustimmung zum präzise Gelesenen, der Auswahl der Textpassagen aus dem Stechlin und zur Argumentation aus dieser, wenn doch sehr speziellen Perspektive Maars zu diesem Roman zum Ausdruck. Die Aneinanderreihung der „oder doch “ Beispiele ließ mich schmunzeln. Ich gab mir sogar Mühe, sie etwas überspitzt und pointiert vorzulesen. Doch das Fazit mit dem Wassermelonenvergleich war starker Tobak und hat mich an eine Veranstaltung im Rahmen der Ringvorlesung im Fontanejahr 2019 erinnert. Die Vorlesung hielt Prof. Dr. Ernst Osterkamp.

Die Antwort meines Zuhörers, geboren im Land des Zeitgenossen Fontanes, Gottfried Keller, kam nach dem sonntäglichen Aufwachen, noch im Bett, prompt und für seine Verhältnisse äußerst vehement und leidenschaftlich:

„Noch mal zu diesem Michael Maar: Das kann man so nicht sagen! Das ist viel zu technokratisch mit den Satzbeispielen. Und es war ein beliebtes Stilmittel auch in anderen Romanen aus und in Filmen über diese Zeit, dass man sehr wohl im Trab beim Ausreiten die Figuren so intellektuell sprechen ließ. Schließlich war ein Pferd damals ein Fortbewegungsmittel, auf das man sich nicht konzentrierte wie heutzutage, wo das Reiten eher ein Sport ist, den man erlernt und wo das Pferd manchmal die gleiche Aufmerksamkeit bekommt wie ein Kind. Und die Tiere brauchten damals ja auch mal Ruhe, man ließ sie locker traben, und da ergab sich eben so ein Gespräch. Man kann es ja ruhig Geplauder oder Dauergeplauder nennen, in dem man über Gott und die Welt, in diesem Fall über die Welt des alten Dubslav und der Gegend rund um das Schloss spricht! Und was heißt schon Verwechselbarkeit oder Austauschbarkeit! Das ist ja auch genau das, was ich an Fontane und seinen Figurenzeichnungen so schätze: Es gibt kein eindeutiges Gut oder Böse, jede Figur zieht im Gespräch mit anderen Protagonisten der Romane seine eigene Betrachtung auch mal in Zweifel oder wird von einer anderen Figur im Gespräch mit der Nase darauf gestupst. Und außerdem hat er seine damalige Zeit so gut beschrieben, dass wir uns heute noch etwas darunter vorstellen können: den Standesdünkel, die Unterschiede des Lebens von Arm und Reich, die Hierarchien im preußischen Militär, die Träume der Menschen und die Hindernisse, sie zu erreichen. Und dies alles in einer solch unterhaltsamen Form, die man ruhig den typischen Fontanestil nennen könnte, dass ich finde, dass dieser Literaturkritiker Fontane Unrecht tut!

Die Ausrufungszeichen musste ich setzen, denn die Verteidigungsrede meines Zuhörers war genau das, ein Rufen gegen die Argumente des Autors Maar.

Ich nahm mir zur Prüfung der Feststellung, dass Fontane nicht ein einziges Mal die Gegend der Handlungen oder die Stimmungen in seinen Romanen auktorial beschreibt, den Schach von Wuthenow aus dem Regal. Ja, auch das ist richtig und gehört eben nicht zu Fontane, die auktoriale Erzählperspektive. Aber die „oder doch“-Manier habe ich in diesem Buch nicht gefunden. Möglicherweise hat Michael Maar in diesem Punkt doch zu sehr verallgemeinert. Oder kann es sein, dass Maar vom Stechlin gelangweilt war? Denn im gleichen Text schreibt er „nichts gegen ‚Vor dem Sturm‘, ‚Irrungen, Wirrungen‘, ‚Effie Briest‘ und ‚Meine Kinderjahre'“.

Vielleicht ist es mit der Literatur so wie mit der Musik: Ich kaufe ein Musikalbum, weil mir ein oder zwei Titel darauf sehr gut gefallen, die anderen enttäuschen eher, aber vielleicht wird der eine oder andere doch zum Favoriten aufsteigen nach mehrmaligem Hören. Mit Büchern, oder Werken, wie man gemeinhin sagt, eines einzelnen Autors könnte es genauso sein. Und dann bleibt es immer der subjektive Blick wie auf alles im Leben. Ich nehme also zur Kenntnis, dass Michael Maar nicht zu den Fontane-Fans oder -Jüngern gehört, wie ich nicht durchweg Thomas Mann so toll und großartig finde, dass mir buchstäblich die Luft wegbleibt vor Begeisterung. Balzac jedoch liebe ich wirklich, aber die Tolldreisten Geschichten werden auf die Dauer trotzdem etwas langfädig, wie mein Schweizer Zuhörer sagen würde. Damit will ich es bewenden lassen. Es war auf jeden Fall ein anderer Blick auf Fontane, den Michael Maar dem geneigten Leser sozusagen durch seine „Brille“ anbietet.

Trotzdem der Tipp für Euch, die Ihr in unserem Blog ab und zu schmökert: In dem Buch Die Schlange im Wolfspelz. Das Geheimnis großer Literatur sind viele großartige Literaturtextbeispiele zu finden, und es gibt das Literaturquiz I und II, in dem der Leser anhand von kurzen Textpassagen unter drei Möglichkeiten den Urheber finden soll/kann/müsste. Schaut einfach selbst, am besten in der Buchhandlung Eures Vertrauens.

 

Überdies wurde Maars Buch auf die Nomminiertenliste des Deutschen Sachbuchpreises berufen.

Michael Maar: Die Schlange im Wolfspelz. Das Geheimnis großer Literatur. Hamburg: Rowohlt 2020, 656 S., ISBN: 978-3498001407.

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