Fontanes ‚Die Jüdin‘ – Reproduktion eines antijüdischen Motivs

1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland steht als Titel über diesem Jahr – 2021. Die Absicht, damit die Vielfalt jüdischen Lebens sichtbar zu machen und gleichzeitig ein Zeichen gegen Antisemitismus zu setzen, ist mehr als nur redlich. Tatsachen diktieren ihre Notwendigkeit. Erfreulich wie unbestritten ist, dass wir diesem Anlass einige zum Teil wirklich hervorragende Veranstaltungen und Formate verdanken.

Veranstaltungsflyer der Evangelischen Gesamtkirchengemeinde Ruppin zu 312-2021 – 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland Foto: Maria Döring

So lud im Sommer die Evangelische Gesamtkirchengemeinde Ruppin zu einem Stadtspaziergang durch Neuruppin ein, um gemeinsam mit Martha Krümmling die Spuren jüdischen Lebens in der Stadt zu entdecken. Sie beschäftigt sich seit etwa 30 Jahren mit diesem Thema und hat inzwischen eine Fülle von Informationen zusammengetragen.

Trotz der 35°C im Schatten hatte sich eine kleine Gruppe eingefunden und machte sich auf den Weg. Neben den Spuren aus dem Mittelalter, lag der Schwerpunkt der Führung darauf, das jüdische Leben des 19. Jahrhunderts in der Stadt zu entdecken. Und das war reich: eine aktive jüdische Gemeinde mit etwa 100 Mitgliedern, die eine eigene Synagoge, Schule und einen Friedhof unterhielt, eine große Anzahl jüdischer Familien hatte Wohnung und Arbeitsstätte im Herzen der Stadt, waren die Nachbarn von Fontanes, Gentz’ens usw. Unser Rundgang endete nach etwas zwei Stunden auf dem Schulplatz am Alten Gymnasium – hier, und das war damals ein Novum, gingen jüdische und christliche Jungen gemeinsam zur Schule, erklärte Martha Krümmling – auch Fontane.

Sie hatte sich noch schnell am Abend vorher an den Rechner gesetzt und etwas zu Fontanes Sicht auf die Juden recherchiert: Dabei fand sie einen Aufsatz von Henry H. H. Remak über Fontanes Ballade Die Jüdin. Leider, gestand sie, hatte sich das Gedicht auf die Schnelle nicht auftreiben lassen, aber zu lesen war, dass es sich um einen antijüdisch akzentuierten Text handele.

Meine Internetrecherche zum Gedichttext ergab nach einiger Suche einen Treffer. Dort steht er neben der englischsprachigen Vorlage. In der Gedichtsammlung des Aufbau-Verlags (1989) findet sich der Text unter den ausgesonderten Gedichten am Ende des Bandes. Fontane übersetzte das Gedicht wahrscheinlich um 1851. Vorlage ist die schottische Ballade The Jew’s Daughter aus Thomas Percys Reliques of Ancient English Poetry. Mit der Übertragung dieses Gedichtes reproduzierte Fontane eine ganze Reihe antijüdischer Motive, nämlich das des Ritualmordes an christlichen Kindern durch Juden und deren angebliche Menschenblutopfer, auch das Motiv der Brunnenvergiftung wird angedeutet.

Erstdruck des Gedichtes Die Jüdin in Argo. Belletristisches Jahrbuch für 1854 hrsg. v. Theodor Fontane und Franz Kugler, Dessau: 1854. S. 219f.

Erstmals trug Fontane den Text am 12. Dezember 1852 im Tunnel über der Spree vor – und löste damit nicht nur eine Diskussion aus, sondern sorgte auch für einen Zwiespalt unter der Zuhörerschaft. Die einen standen ihm bei, die anderen (unter ihnen Bernhard von Lepel) ihm gegenüber. Lepel schrieb Fontane am nächsten Tag auch, warum er das Gedicht nicht gutheißen konnte. Denn Fontane lege hier keine Sammlung vor „zur Charakteristik der Zeit u. der Literatur“, dafür wäre dann „aber auch die veredelte Form der Uebersetzung“ nicht angemessen. Offenbar hatte Fontane das Gedicht ohne Anmerkungen zum Kontext vorgetragen. (Percy hatte immerhin in seinem Vorwort darauf hingewiesen, dass die Anschuldigungen gegen die Juden haltlos waren). So erntete er u. a. von George Hesekiel Beifall, der, so Lepel in seinem Brief, ihm im Anschluss gesagt habe, „daß es allerdings erwiesen sei, daß solche Morde wirklich geschehen sein“.

Fontane veröffentlichte seine Nachdichtung mehrere Male, obwohl Lepel ihm davon abriet. Nur einmal versah er sie mit einer Anmerkung, die allerdings etwas entfernt vom Gedicht gedruckt wurde. Darin betonte er, dass es ihm lediglich um die Form des Gedichtes gehe, der Inhalt indes sei widerlegt. Erst aus der letzten Ausgabe vor seinem Tod 1898 strich er das Gedicht. Günter Häntzschel, der sich mit dem Gedicht und seiner Geschichte auseinandergesetzt hat, schreibt, dass „es schwer zu entscheiden sei, ob sich Fontane der Problematik bewusst gewesen ist, mit seinem Gedicht ein Vorurteil den Juden gegenüber wieder aufgegriffen zu haben“. Immerhin hat er es aber trotz der ablehnenden Reaktionen drucken lassen und damit zur weiteren Verbreitung des Ritualmord-Motivs beigetragen.

Und nun? Wie umgehen mit Schriftsteller:innen, die Diskriminierendes, Rassistisches, Antijüdisches schrieben? Dürfen wir sie heute noch lesen und uns an ihren Texten freuen? Entschuldigt sie ihr historischer Kontext? Geht es hier überhaupt um Schuld? Diese Fragen und Überlegungen betreffen ja nicht nur Fontane, bei dem die  Herausforderung dazukommt, dass seine Aussagen und sein Verhältnis zu Juden ziemlich ambivalent waren.

Richtig ist, dass die Künstler:innen in ihren politischen und historischen Kontext gestellt werden müssen. Klar ist aber auch, dass ihre Aussagen damit nicht zu relativieren sind, sie bleiben diskriminierend, rassistisch, antijüdisch, antisemitisch. Die Abgründe in den Werken und Biographien von Künstler:innen dürfen nicht verhüllt oder verschwiegen, sie müssen in der Rezeption offengelegt werden. Erst die Konfrontation mit ihnen ermöglicht eine kritische Auseinandersetzung – und die bleibt nötig. Nicht nur bei Fontane.

 

Zur Rezeption des Gedichtes: Häntzschel, Günter: „Der Aberglaube hat seinen Poeten“. Theodor Fontane: Die Jüdin. In: Interpretationen. Gedichte von Theodor Fontane hrsg. v. Helmut Scheuer, Reclam, Stuttgart: 2001. S. 65-79.
Der Brief von Lepel ist zitiert nach: Fontane, Theodor; Lepel, Bernhard von: Der Briefwechsel hrsg. v. Gabriele Radecke, Walter de Gruyter, Berlin, New York: 2006. Bd. 1, S. 348.

 

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