„Ängstlichkeitsprovinz“. Fontane 2019 im Bundeskanzleramt

Offen gestanden, dieser Blog-Beitrag existierte nicht, gäbe es neben der Rezeption im Lesesaal der Bibliothek im Marbacher Deutschen Literaturarchiv keine kleine Kiste mit abgelegten Büchern und Broschüren zum Verschenken. Besonders eifrige Archivbenutzer verpönen es, natürlich, die dort ausgesonderten Publikationen durchzusehen. Sie wissen, für sie kann da nichts dabei sein. Wer Sahnetorte gewöhnt ist, greift nicht zum Knäckebrot. Bei mir liegt es anders. Zu oft fand ich dort nicht nur Abgelegtes, sondern Abgelegenes, auf das ich niemals gestoßen wäre, hätte ich gezielt danach gesucht. So auch in diesem Fall.

Eigentlich befasst mit Martin Walser-Beständen, hielt ich vor dem Bücherkorb an – und fischte, in lässiger Zufälligkeit, ein Bändchen heraus, Softcover in dezentem Grünpastell. Dessen Titel zog mich unwillkürlich an: Lyrik im Bundeskanzleramt. Es handelte sich um Band II dieser Reihe, die ich nicht kannte, und vereinte die literarischen Texte zweier Veranstaltungen im Zentrum politischer Macht: „Unmögliche Liebe“ am 5. Juni 2018 und am 16. Oktober 2019 „Ängstlichkeitsprovinz“. Damit man gleich weiß, woran man hier war, teilte die Titelseite gleich mit, dass die Veranstaltungen „auf Initiative der Staatsministerin für Kultur und Medien Prof. Monika Grütters MdB“ zustande gekommen seien. Endgültig geweckt war meine Neugier, als ich auf dem Cover las: „Lyrisches aus der Feder Theodor Fontane aus Anlass seines 200. Geburtstages“. Zweimal „aus“, egal. Entscheidend war der Hinweis auf das Fontane-Ereignis vor zwei Jahren. Da machte unser Autor Furore Land auf, Land ab. Kein märkisches Dorf, das ihn nicht feierte. Die mediale Welt entdeckte sich im Endlosband ihren Fontane. Apps, Games und Speisen aller Art firmierten unter der Marke „Fontane“. Nur das kulturpolitische Berlin, seine Stadt, hielt sich weitgehend heraus.

Gewiss, der Bundespräsident eröffnete in Neuruppin persönlich „das Fontane-Jahr“, und Politiker-Reden im Land Brandenburg, die ohne ein Fontane-Zitat auskamen, ließen sich an einer Hand abzählen. Doch interne Veranstaltungen im Alltag des Regierungsviertels? Was wissen wir davon? Freimütig heraus – ich jedenfalls nichts! Die Broschüre wanderte also sofort in meine Tasche. Nun liegt sie vor mir und beantwortet Fragen. Etwa solche: Unter wessen Regie stand das Ganze, wer war beteiligt, welche Texte Fontanes wählte man aus, wo lagen die Akzente, was war intendiert? Und nicht zuletzt vielleicht die wichtigste: Spiegelten das Ausgewählte ein aktuelles Wunschbild vom Dichter?

Konzept und Dramaturgie lagen in der Hand von Anika Steinhoff. Sie ist seit der Spielzeit 2009/2010 beim Deutschen Theater angestellt. Beruferfahrungen sammelte sie auch in Österreich (Burgtheater Wien, Salzburger Festspiele), vorangegangene Bezüge zu Fontane ließen sich nicht finden. In einem kleinen Begleittext gestand sie den Wunsch, „einen eigenen Zugang in die literarische Welt Theodor Fontanes“ gesucht zu haben und ihn in seiner Lyrik, „um die es hier vornehmlich gehen soll“ (S. 77) gefunden zu haben. Bei dieser beherzten Entscheidung konnte sie sich auf den Dichter berufen, der 1895 seinem Verleger „eine 50jährige Unsterblichkeit“ seiner Verse prophezeit hatte. Nicht berufen konnte sie sich auf den Präsidenten der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung Prof. Dr. Ernst Osterkamp. Der hatte im Rahmen einer Fontane-Ring-Vorlesung im Sommersemester an der Humboldt-Universität mit einem akademischen Übermut, der seinesgleichen sucht, kein einziges Gedicht Fontanes vor dem Richterstuhl seiner ästhetischen Urteilskraft gelten lassen. Viel rhetorische Brillanz, über die der Redner allemal verfügt, war vonnöten gewesen, dieser Hinrichtung 90 Minuten Haltbarkeit zu sicher. Steinhoff filtert, vorbehaltfrei und unbefangen, aus dem lyrischen Werk Fontanes ‚Klassiker‘ wie „John Maynard“, „Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland“ oder „Mein Leben“, stellt ihnen aber beherzt Gelegenheitsverse wie „An Emilie/zum 24. Dezember 1862“ oder kaum bekannte Gedichte („Mein Herze, glaubt’s, ist nicht erkaltet“, „Das gefangene Vöglein“ und „Glaube an die Welt“) zur Seite. Obwohl ihre Einführung drei strukturelle Themenkomplexe nennt – Heimat, Zeitgenossenschaft und Frauenfiguren –, vermeidet sie alles, was die Auswahl in ein strenges Korsett zwingt. Ihre Sorge, „dass mir die Auswahl insgesamt […] eher etwas morbid und düster geraten ist“ (S. 78), ist unbegründet.

Sollte der Zufall Ernst Osterkamp einmal dieses Büchlein in die Hände spielen, dann dürfte er beim Durchblättern erleichtert feststellen: Mit der Lyrik-Fixierung hat es die Auswahl nicht unmäßig streng genommen. Abschnitte aus Romanen (aus Effi Briest etwa jene bewegende Szene nach Rückkehr Effis ins Elternhaus, als die Mutter zu der im Sterben liegenden Tochter ans Chaiselongue tritt und diese Innstetten von aller Schuld freispricht, und aus Irrungen, Wirrungen Bothos letzter Besuch bei Lene, bei dem sie ihm mit seltenem Herzensadel aufkeimendes Schuldgefühl nimmt) finden ihren Platz ebenso wie Schnipsel aus den Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Jenseits der Lyrik ist es allerdings der Briefschreiber Fontane, dem Steinhoff nicht widerstehen konnte. Ihre auswählende Hand beweist dabei eine schöne Leichtigkeit. Emilie Fontanes Zuneigungs- und Liebesbrief zum Hochzeitstag 1868 zu kontrastieren mit Fontane Zeilen zum selben Anlass im Jahr darauf zeigt feinen Bedacht. Hier ihr Satz: „Ich weiß Dir weiter keine Freude zu machen, als daß Du morgen einige Zeilen von mir empfängst, die Dir aussprechen wie sehr ich Dich liebe […]“ – dort sein: „[…] daß ich mich glücklich schätze Dich zu besitzen […] und ganz zufrieden sein würde, wenn Du gleichmäßiger wärest und Macht über Deine Stimmung hättest. […] die goldene Seite, sie kommt noch.“

Ja, diese Persönlichkeitszüge Fontanes sind es, denen Steinhoff nein, nicht erliegt, die ihr aber zu liegen scheinen. Und weil sie der Neigung in Maßen nachgibt, gewinnt die Sammlung ihr eigenes Maß. Dass die Zwischentexte, die Fontanes Lebens- und Werkgeschichte skizzieren, dahinter zurückbleiben, fällt nicht besonders ins Gewicht. Auch dass Fontane „ein sehr inniges Verhältnis zu seiner Mutter“ (S. 81) gehabt habe, wird keiner seiner Biographen und Biographinnen bestätigen wollen, wohl auch nicht, dass er den Zeitgenossen als „zurückhaltender, fast scheuer Mann“ (S. 81) begegnet sei. Und ob, wie Monika Grütters in ihrer hübschen Begrüßungsrede, der literarische Verein „Tunnel über der Spree“ als „Gruppe junger Möchtegernpoeten“ angemessen charakterisiert ist, sei sehr dahingestellt. Der Unterhaltsamkeit tut das keinen Abbruch, und unterhaltsam sollte diese Textcollage vor allem sein. Die Schauspielerin Maren Eggert und der Schauspieler Alexander Khuon liehen ihre Stimmen – wie das ausfiel, kann dieses kleine Büchlein nicht konservieren. Schwer vorstellbar auch, dass tatsächlich alle Texte vorgetragen wurden. Dann dürfte, womit die Ministerin zu locken verstand – den „Streifzug durch sein dichterisches Werk bei kleinen Köstlichkeiten ausklingen zu lassen“ (S. 72) – zu einer Geduldsprobe geworden sein.

Denn mit Brücken zu Annette von Droste-Hülshoff, Gottfried Benn und Sarah Kirsch (Steinhoff: „einfach nur so, zum Vergnügen, ein Gedicht, dass [!] nahezu ein Jahrhundert später dieses Motiv des lyrischen Beschreibens eines Heimatgefühls […] aufgreift“, S. 101) werden weitere Bögen geschlagen, ihren Reiz haben, aber der Stringenz des Ganzen nicht gut tun. Und ob Alfred Lord Tennysons „Ulysses“-Gedicht mit seinen Versen „Kommt, meine Freunde, / noch ist es nicht zu spät, eine neue Welt / zu suchen […]“ als letztes Wort der Sammlung Fontane-gemäß ist, ich weiß nicht. Aber ich ahne, dass hier die Dramaturgin eigene Intentionen ins Spiel bringt und mit den Tennysons Schlussworten „zu / suchen, / zu finden, und nicht zu verzagen“ dem Publikum etwas Gutes, Ermutigendes mit auf den Weg zum Büffet geben wollte. Ein anders gestimmtes Auditorium wäre auseinandergegangen, wäre es mit Fontanes Gedicht „Ausgang“ (vor dem Tennysons abgedruckt) verabschiedet worden: „Immer enger, leise, leise / Ziehen sich die Lebenskreise, / […] Und ist nichts in Sicht geblieben / Als der letzte dunkle Punkt.“

Bleibt die Frage zum Schluss: Hat sich Anika Steinhoff mit ihrer Fontane-Collage einer bestimmten Politik angedient? Ist, was sie vorgestellt hat, eine ministerielle Auftragsarbeit, deren Vertrag festgelegt hatte, welchen Fontane man sich wünsche? Weder auf den ersten, noch auf den zweiten, genaueren Blick. Es spiegelt, das mag sein, eine Haltung, die der Staatsministerin Grütters eignet und das von ihr geleitete Ministerium prägte – indes ist das eine Haltung, die sich wohltuend von der anderer Phasen deutscher Geschichte abhebt. Fontane tritt nicht als Lichtgestalt auf, sein Preußentum wird weder verkleinert noch, mit einem Wort von ihm, ‚aufgepufft‘, und der Konservative wird nicht gegen den Liberalen ausgespielt. Schriftstellerisches Vermögen steht neben anfechtbaren Charakterzügen. Kritische Leser wie Hans-Joachim Birkholz oder Norbert Mecklenburg, denen Fontanes antijüdische Äußerungen Anlass sind, seinen literaturhistorischen Rang entschieden zu problematisieren, werden das Fehlen dieses Bezugs monieren. War es statthaft, so dürften sie argumentieren, 2019 ein solches Fontane-Portrait mit dieser folgenschweren Auslassung im Bundeskanzleramt zu präsentieren? Wird damit nicht jenes politische Areal selbst zu einer „Ängstlichkeitsprovinz“?

Der Fontane-Blog ist ein Ort, Fragen wie diese zu debattieren. Sie sind, liebe Leserinnen und Leser, eingeladen.

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