Datum: 14. November 2021 um 9:08
Betreff: Fontane Apotheke Neuruppin
Lieber Herr Fontane,
bonjour, ausnahmsweise betrifft dieser Brief nur Ihren erlernten Beruf; Tolstoi bekommt aber eine Kopie. Unsere Freundin in Leipzig ist auf den Gedanken gekommen, Sie könnten dort drüben in einer Apotheke für Geistiges als Kunde oder Mitarbeiter zu finden sein, vielleicht sogar als Chef, was sie zu Lebzeiten nicht wurden. Unter Geistigem stelle ich mir nicht das ganze ABC vor, aber doch die drei ersten Lettern: A fürs Alphabet, für den geistvollen Erzähler also und auch für förderliche alkoholische Getränke, B für die Stiche von Berlin und der Mark Brandenburg, also von Neu-Ruppin, als Dekor des Geschäfts, C für die dort verkaufte Chemie, Chloroform usw. Außerdem könnte unter C eine Auswahl der Schriften Ciceros zu finden sein, den sie vor dem Apothekerexamen studieren mußten, sehr ungern, denn sie hätten lieber Sir Walter Scott gelesen.
Die Apotheke im Fontanehaus in dem für Sie langweiligen Neu-Ruppin nennt sich Löwenapotheke. Dazu kommt ein Namenswitz, der Ihnen gefallen könnte.Der Besitzer dieser Apotheke, ein tatkräftiger Mann, der insgesamt drei Apotheken sein eigen nennt, heißt Sommerfeld, mit einem t hinten dazu so wie Ihre Schwester nach Ihrer Heirat, das Urbild für Ihre neureiche Jenny Treibel. Wenn Sie sich melden, senden Sie bitte Fotos von drüben mit, bitte auch von der Apotheke dort, wenn vorhanden.
Herzliche Grüße zum Sonntag
JQ
Datum: 16. November 2021 um 19:20
Betreff: 1. Brief an Tolstoi und Fontane
Lieber Lew Nikolajewitsch – ist die Anrede richtig so? –, lieber Herr Fontane,
guten Morgen nach dort drüben. Ich beginne mit dem Tolstoi-Eintrag im Fontane-Lexikon. Erst spät, lb. Herr Fontane, finden sich bei Ihnen Belege zur Beschäftigung mit Tolstoi. Den „Tod des Ivan Iljitsch“ nannten Sie ein Meisterstück. Zur Aufführung von „Die Macht der Finsternis“ (1890 durch die Freie Bühne) verfaßten Sie eine längere Rezension, die von der Zeitung leider sehr stark gekürzt wurde. In Ihrem Stechlin konstatiert Woldemar, „ein großer Tolstojschwärmer,“ man stehe „jetzt im Zeichen von Tolstoi und der Kreuzersonate.“ (Zur Erzählung fällt mir jetzt nur ein, daß Musik, Instrumentalmusik vielleicht nur von wichtigerer Beschäftigung ablenkt, eine Art Opium also, wie es K. Marx in der Religion gesehen hat. Welche Schlüsse sollte man daraus in Leipzig für das Bachfest ziehen? Soll man die Musikkritik ins Programmheft setzen oder auf das Fest verzichten?)
Der Slavist Horst-Jürgen Gerigk vergleicht gern Werke, die vielleicht nie
verglichen worden sind. Ich bin sehr dafür zu haben, wenn er Caesar und Sie, lieber Herr Tolstoi/j, zusammenführt. In seinem Buch „Die Russen in Amerika“ stellt Gerigk fest, Caesar, Feldherr auch als Erzähler, behandle im „bellum gallicum“ die Vorgänge „regelrecht von oben herab“ (S. 251) Ihre Sicht aber sei in Krieg und Frieden „die Sicht eines Anti-Caesar“. „… nicht mehr der Feldherr beschreibt, wie es gewesen ist…Es gibt nur noch die Grenzsituation derer, die am Krieg als Aktion beteiligt sind, und diese Situation wächst … jedem über den Kopf, der in sie hineingerät“. Daß Geschichtsschreibung, wie Ranke meint, zeigen soll, „wie es wirklich gewesen ist“, das ist auch für die Historiker unmöglich, überholt, passé.
Ich habe mich mit Sekundärliteratur ganz gut eingedeckt und kann ja dann auch Ihnen, lieber Lew Nikolajewitsch, erklären, welche Intention Sie jeweils im Auge hatten, aber nur, wenn Sie es hören wollen.
Herzliche Grüße
JQ
Datum: 17. November 2021 um 17:46
Betreff: 2. Brief an Tolstoi und Fontane
Lieber Herr Fontane, lieber Herr Tolstoi,
solange der November andauert mit schlechtem Wetter, Trauertagen und depressiver Stimmung bei manchen oder auch vielen Menschen, könnte ich auf Tod und Begräbnis kommen, zuerst in Ihren Werken, lieber Herr Fontane. Da kommt mir die Zs. für Trauerkultur aus HH-Ohlsdorf gerade recht. Dort findet sich die Magisterarbeit der Literaturwissenschaftlerin Henriette Hochhuth von 1992 abgedruckt mit Auszügen und dem Schluß. Es gebe, sagt die Vf., kaum einen Text von Ihnen ohne Beerdigung oder einen Zug dorthin.
Sie verbergen Ihre Gedanken über den Tod scheinbar hinter den äußerlich anmutenden Handlungen der Figuren, geben aber damit ein „umso klareres Bild der Gesellschaft“ Ihrer Zeit. Tod und Bestattung kommen bei Ihnen immer zusammen vor; Ihre Art der Behandlung liefert die Möglichkeit, „die Strukturen von Hierarchien … und Konventionen zu vermitteln.“ Der Umgang mit dem Tod erleichtert es, „Wesentliches über… Leben und Dasein mitzuteilen …“ Ich gebe zu, daß man tiefer schürfen könnte, allein schon mit einigen Zitaten aus dem Stechlin. Ich will weitere Grabungsversuche unternehmen.
Tiefer zu schürfen wird leichter bei Ihnen, lieber Herr Tolstoi, wenn man auf „Tolstojs Thanatos“ zu sprechen kommt, einem neueren Titel des Leipziger Slavisten Christian-Daniel Strauch (Böhlau Verlag 2019). Strauch geht gleich zu Anfang in die philosophische Tiefe zum fundamentalen Unterschied zwischen dem literarisch darstellbaren Sterben und dem vernagelten Tod. Irgendeine Form des Nachlebens interessiert da zunächst nicht. Aus fast 500 Seiten kann ich nur auswählen. Ich versuche es mit 1.3: Domestikation und Tod (230 ff.) Im Verständnis Ivan Karamazovs, heißt es dort, sei der Mensch ein „wildes und bösartiges Tier“, das immer Freiräume im Gesetz finde, seine sadistischen Bedürfnisse zu stillen (Zitat jetzt nach Harreß, B.). Wenn Sie die Belegstelle wünschen, gebe ich Sie gerne an; es dauert etwas. Dann kommt es auf Domestikation an, und die setze Individuen voraus, „deren Aggressivität gegenüber Artgenossen eher gering ausgeprägt ist“. Strauch kommt von da aus auf das Kindliche als Idealtypus des domestizierten Menschen und so auf die Bauern in Ihrem Werk. In dieser Verkürzung kann man es wohl nicht stehen lassen. Was ich noch finde, teile ich Ihnen gerne mit; das dauert auch noch eine Weile.
Weil ich leider vergeßlich werde, kann ich nicht sagen, wo in Ihren Texten, lieber Herr Fontane, Bauern auftauchen, außer kurzfristig als Marktbeschicker, was für die philosophische Implementierung nicht reichen dürfte, so, wie sie in Goethes Novelle erscheinen, sehr karg und nicht ausgearbeitet.
Da hat Exzellenz eher den Feldherrn auf dem Hügel gemimt.
Herzliche Grüße nach dort oben
JQ
Datum: 18. November 2021 um 10:24
Betreff: 1. Brief an Tolstoi, Th. Mann, Fontane
„Meine Herren!“ so begrüßt der Leutnant Vogelsang, der Wahlkampfleiter Treibels, die Gäste im Haus des Kommerzienrats. Jenny bebt vor Zorn, denn er übergeht die Damen, darunter auch zwei vom Hof. (Hier wäre ein Dativ angebracht.) Und dann nennt er den Gastgeber „unseren Wirt“! Ein Skandal! … Sie, lieber Herr Fontane bzw. Ihr Erzähler, legen großen Wert auf die Gruppierung der Figuren und auf deren Gesprächsführung …Vogelsang hätte realiter keinen Bürgen für die Aufnahme in die literarische Gesellschaft des „Tunnels“ gefunden, auch wenn es dort keine Damen gab. Nehmen Sie bitte die Anrede Vogelsangs als die meine. Sie, lieber Herr Mann, haben nicht weniges von Fontane übernommen. Die Ungeschicklichkeit Vogelsangs wird in Buddenbrooks erheblich gesteigert, wenn Permaneder seine Gattin als „Sauluder, dreckat‘s“ apostrophiert. So weit gehen die Ehekräche in Frau Jenny Treibel nicht.
Ihr Erzähler in Anna Karenina, lieber Lew Nikolajewitsch, betont gleich zu Anfang, daß das Ehepaar sich nichts zu sagen hat. Wie es dann bei Meinungsverschiedenheiten verbaliter zugeht, das bringe ich für die beiden anderen Herren hier später ein. Tja, sie wissen es wohl nach ihrer Lektüre schon, aber ich weiß es noch nicht.
Sorry, ich habe aber so einen leichten Übergang zum nächsten Brief.
Herzliche Grüße nach dort oben
JQ
Datum: 22. November 2021 um 13:59
Betreff: 2. Brief an Tolstoi, Th. Mann, Fontane
Liebe Herren Schriftsteller,
guten Tag dort drüben. Schläft man bei Ihnen denn, oder hat der Tag wirklich 24 Stunden bei Wegfall des Morpheus? Ich beginne mit einem Satz von Th. Klugkist in „Der pessimistische Humanismus…“ (Königshausen u. Neumann, 2002). Für den schwergewichtigen Satz hätte ich gern philosophische Nachhilfe; vielleicht kommentiert jemand im blog. Laut Klugkist unterziehen Sie, lieber Herr Mann, Schopenhauers Mitleids-Ethik „einer Wendung ins Lebensdienliche“, sie berauben sie „vorderhand ihres transzendierenden Impulses“ – jetzt verkürzt weiter –, mit der Folge, „daß sich nicht erst die ‚Allsympathie‘ des späten Krull, sondern schon die wohltätige Nachsicht Josephs und sogar Zeitbloms aus eben derselben metaphysischen Quelle speist wie ihrer aller Hybris“. (S. 43) … eine kühne Synopse!
Dieses Paket schnüre ich nicht ohne Hilfe auf. Ich glaube, vom Lebensdienlichen bei Ihnen gelesen zu haben, was auch als Basis für Ihr politisches Engagement gesehen werden kann, auf jeden Fall von etwa 1930 an. Der Begriff läßt sich sehr leicht auch auf die Werke Fontanes und Tolstois anwenden. Das gilt etwa, lieber Herr Fontane, für die halb versöhnlichen Schlüsse in der Adultera, für den verlassenen Vanderstraaten und für den stillen Tod des alten Stechlin, auch für die Schlußworte des alten Briest, wenn er die Verstoßung Effis bedauert.
Der Slavist Christian-D. Strauch sieht auch bei Tolstoi eine Absage an „Transzendenz im Sinne eines Außer- bzw. Überweltlichen“ und ebenso Ablehnung einer Mystifikation des Daseins, die das Kreatürliche negiert (sinngemäß, wie ich hoffe, nach S. 182 in: Strauch, Tolstojs Thanatos /Böhlau Verlag, Köln, 2019). Diese Aussage belegt der Slavist an Tolstois Bauern, die der Natur näher stünden als die übrigen Stände, der Erde und den Tieren näher. Ich verzichte vorläufig auf Zitate; Kommentare im blog
sind ja erwünscht.
Ich hoffe also auf Rückmeldungen von hier und, wenn möglich, von Ihnen drüben.
Mit herzlichen Grüßen im mehrfach eingetrübten November
JQ
Datum: 26. November 2021 um 19:04
Betreff: Ehebruch
Lieber Herr Tolstoi, lieber Herr Fontane,
im grauen Monat November könnten wir uns über ein „graues“ Thema unterhalten, über den Ehebruch bürgerlicher Damen, den riskanten Verstoß von Effi und Anna. Beide Frauen sind verheiratet mit Staatsbeamten, die sie schätzen, aber nicht lieben. Beide gehen ein Verhältnis ein mit einem Offizier, beide riskieren viel, finden ihr Lebensglück doch nicht und erleiden einen frühen Tod: Die verstoßene Effi erkrankt schwer und stirbt, Anna wirft sich vor einen Zug.
Der Tod beider wird in beiden Romanen symbolisch vorweggenommen, etwa durch den Schatten über Briests Anwesen oder durch Effis Schaukel, in Annas Fall durch die Beobachtung eines vom Zug überrollten Mannes. Die Enge von Effis Weg wird immer wieder dargestellt, Annas Weg ist ständig mit Zügen verknüpft. Das fatale Ende zeigt – wie auch in Flauberts Mme Bovary (1848) –, daß die Frauen nicht wirklich die Freiheit einer Wahl haben. Der moralische Druck der Gesellschaft erzwingt ihr Ende … Entschuldigen Sie, wenn ich die Werkdaten mit angebe; ich merke mir Zahlen nur schwer, sogar bei Ihnen, lieber Fontane: Anna Karenina (1873), Effi Briest (1894/5). Ich gestehe auch, daß ich reichlich aus dem web gefischt habe, wo auch die ganze Motivgeschichte des Ehebruchs seit
den alten Griechen bis heute zu finden ist.
Die Adultera Aphrodite verfällt dort noch nicht der Verstoßung durch die Gesellschaft, in diesem Fall der Götter. Der Suizid scheidet bei Göttern aus; das Paar wird in bewegungsunfähigem Zustand nur dem homerischen Gelächter ausgesetzt. Die suizidale Eisenbahn steht ohnehin noch lange nicht zur Verfügung; Verführungen durch Zeus haben andere Folgen, besonders im Fall der Alkmene, besonders verwickelt bei Kleist, ja, klar, wo denn sonst?
Um hier nicht so grau abzuschließen, stelle ich mir den Ehebruch dank modernerer Möglichkeiten per Telekinese oder wenigstens Telepathie vor. Reisekosten entfallen ebenso wie die Unterbringung der Liebhaber bei vorzeitiger Rückkehr von Hephaistos, Henry oder Heinrich im Schrank oder im Wäschekorb.
Einen guten Tag dort drüben, hoffentlich nicht so grau wie hier unten,
wünscht Ihnen
JQ