Theodor Fontanes „Archibald Douglas“ und Apollon N. Majkows „Emschan“ – zwei Balladen im Vergleich

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzte sich die Entwicklung des Balladengenres in der europäischen Literatur fort. Narrative Gedichte zu historischen und mythologischen Themen expandierten. Vorläufer dieser Entwicklung waren zum Einen Sammlungen englischer und schottischer Volksdichtung, zum anderen die Balladen von Goethe und Schiller aus der Zeit der Weimarer Klassik. Hinzutraten Texte wie die des frühen Victor Hugo oder der deutschen Romantiker wie Clemens Brentano und Achim von Arnim. Auch in Russland wurden Balladen geschrieben – Alexander Puschkins Werk präsentiert eine Vielzahl an Balladenarten, unabhängig davon, ob er – wie beispielsweise „Das Lied des prophetischen Oleg“ – sie als solche bezeichnet hat.

Es ist nicht einfach, Balladen scharf zu klassifizieren – sie überschneiden sich in der Spätromantik oft mit historischen Gedichten ohne klares Genre, wie zum Beispiel in den lyrischen Sammlungen Heinrich Heines (Romanzero [1851]) oder Victor Hugos (La Légende des siècles [1859]).

Mitte des 19. Jahrhunderts waren A. K. Tolstoi (1817–1875) und A. N. Majkow (1821-1897) anerkannte Meister des Balladengenres in der russischen Poesie, was der heroischen Vergangenheit des heutigen philistischen Alltags widersprach. Die berühmteste Ballade in Majkows Werk ist „Emschan“ (1874). Sie eröffnete den Abschnitt „Nachklänge der Geschichte“ in der Sammlung seiner Gedichte. Tolstois und Majkows Zeitgenosse war der deutsche Romancier – als solcher ist er vor allem im In- und Ausland bekannt – und Dichter Theodor Fontane (1819 – 1898), der mit seinen Balladen zu Themen aus der englischen und schottischen Historie in die Literaturgeschichte einging. Viel Wertschätzung bei den Zeitgenossen, aber auch auch nach seinem Tod hat das Gedicht „Archibald Douglas“ (1854) gefunden.

Der Umfang beider Gedichte ist fast gleich – 76 Zeilen bei Majkow und 92 bei Fontane. „Emschan“ ist im jambischen Tetrameter geschrieben, „Archibald Douglas“ in chevy-chase-Storphenform, die seit Klopstock und Gleim in die deutsche Verskunst eingeführt war.  Majkows Ballade ist im 12. Jahrhundert temporalisiert, Fontanes im 16. Jahrhundert. Sowohl „Emschan“ als auch „Archibald Douglas“ scheinen trotz der Unterschiede in ihrer Themenwahl ähnlich zu sein – dies zu zeigen, ist Gegenstand dieses Artikels.

Die Handlung „Emschans“ basiert auf der erweiterten Nacherzählung einer Kurznachricht aus der Ipatiew-Chronik. In dieser Nachricht geht es darum, wie der polovtsische Khan Otrok von Fürst Wladimir Monomach besiegt und danach über den kaukasischen Kamm gebracht wird. Im Folgenden stirbt Fürst Monomach. Dies veranlasst Syrtschan, seinem Bruder Otrok einen Boten zu senden, der diesen davon überzeugen soll, in seine Heimat zurückzukehren. Syrtschan gibt dem Boten einen Haufen des Steppengrases Emschan (Wermut) mit. Otrok, der sich bereits daran gewöhnt hat, im Kaukasus zu regieren, will nicht auf den Boten hören und nach Hause zu seinem Bruder zurückkehren. Daraufhin reicht der Bote ihm den Haufen Emschan-Gras und lässt ihn daran riechen. Der Khan ist von nostalgischen Erinnerungen überwältigt und beschließt, sofort nach Hause zu gehen.

Dem gegenüber steht die Handlung der Ballade „Archibald Douglas“. Laut Fontane lehnt sie sich an Walter Scotts Erwähnung von Archibald Douglas 6. Earl of Angus an. Fontane verändert jedoch die Geschichte. In seiner Ballade kehrt der beschämte Adlige, der die Trennung von seiner Heimat nicht ertragen kann, nach sieben Jahren Exil zurück und bittet den König von Schottland, ihm zu vergeben. Der Monarch ist zunächst unerbittlich, aber Archibald Douglas erinnert sich beredt an die Kindheit des Königs, dessen Lehrer er war, und fordert den Souverän auf, ihn mit dem Schwert niederzuschlagen, wenn es ihm verwehrt bliebe, nach Hause zurückzukehren. Das erweicht das Herz des Monarchen, und er lädt den Vertriebenen ein, wieder mit ihm zu reiten, zu angeln und zu jagen – wie in den von Douglas erinnerten Zeiten.

Inhaltlich unterscheiden sich die Situationen: In Majkows Gedicht wird der Khan gebeten, zurückzukehren, in der Ballade Fontanes wird der König um Erlaubnis zur Rückkehr gebeten. Doch ist ein verwandter Zug zu bemerken. Es handelt sich bei beiden Gedichten um eine Vergegenwärtigung von Vergangenem, dem eine existentielle Bedeutung zukommt. Die Bitten zur Rückkehr stoßen in der Gegenwart auf Widerstand – der Khan freut sich über das Leben im Kaukasus, der König ist wütend auf die Brüder und die Familie von Archibald Douglas. Tatsächlich erzählen beide Balladen von einem Weg, diese Widerstände zu überwinden – und zwar durch einen emotionalen Appell an die Erinnerungen, die einer verlorenen Idylle gleichen.

Für Majkow ist ein solcher „Auslöser“ ein Büschel Wermut: „Emschan“. Die Chronik bezieht sich dabei auf das türkische Wort Gras, mit seinem stechenden Geruch, der Bilder eines freien Lebens in endlosen Weiten heraufbeschwört. Das Bild der Welt verändert sich augenblicklich, die gegenwärtige Lebensordnung verliert an Wert. Mehr noch: Die wiederbelebte Vergangenheit verlangt, was unmöglich ist: dorthin zurückzukehren. Die erste Episode mit der Klette in Leo Tolstois „Hadji Murad„, die zwanzig Jahre später entstanden ist, erinnert ebenfalls daran. In „Archibald Douglas“ lösen die Bilder der Kindheit des Königs, die vom Exilanten anschaulich beschrieben werden, plötzliche Vergebung aus.

Beide Balladen enden auch auf ähnliche Weise – mit einem optimistischen Bild einer Rückkehr (in beiden Fällen zu Pferd) in die Welt der Kindheit und Jugend:

Am nächsten Morgen ein kleiner Eselsnebel
Und die Gipfel der Berge wurden erleuchtet,
Ein Wohnwagen läuft bereits in den Bergen –
Otrok mit einem kleinen Gefolge.
Berg für Berg vorbei
Er wartet auf alles – bald ist die einheimische Steppe (Emschan)

Zu Roß, wir reiten nach Linlithgow,
Und du reitest an meiner Seit‘ (Archibald Douglas)

Und die letzten beiden Zeilen in beiden Balladen sind sogar fast identisch. Sie wiederholen jene Bilder des vergangenen Lebens, die der spirituellen Transformation dienten:

Und schaut in die Ferne, Steppengräser
Ohne das Bündel loszulassen. (Emschan)

Da wollen wir fischen und jagen froh,
Als wie in alter Zeit. (Archibald Douglas)

Die moralische und erbauliche Botschaft in beiden Balladen ist kongruent:

Tod in der Heimat
Meilen als Ruhm in einem fremden Land! (Emschan)

Nur laß mich atmen wieder aufs neu
Die Luft im Vaterland.
[…] und laß mich sterben hier. (Archibald Douglas)

Es gibt jedoch auch Unterschiede. In Majkows Gedicht geht es um ein patriotisches Gefühl, um die Möglichkeit, die frühere Macht der Polovtsy nach einer Änderung der geopolitischen Situation wiederherzustellen. In Fontanes Ballade haben die Ziele des Vertriebenen nichts mit politischem Ehrgeiz zu tun. Khan Otrok strebt in eine vielversprechende Zukunft, bereit für einen aktiven Kampf. Dementgegen träumt Archibald Douglas nicht mehr vom Aktionismus, seine Rückkehr zu den Ursprüngen unternimmt er um seines Alterswillen und zur Versöhnung.

Fontane und Majkow, so ungleich sie waren, bereichern das Balladengenre, indem sie die Erkenntnis des besonderen Werts lebendiger emotionaler Erinnerungen aufgreifen und innovativ in Versform bringen. Majkows Gedicht ist dabei origineller, weil die Handlungslösung in seiner Ballade ungewöhnlich und kompakt ist – ein Grashalm, der eine Vielzahl an Sinnbildern vermittelt, fungiert als Bedeutungsträger und lässt Wörter unnötig werden. Fontanes Poem hingegen ist traditioneller – das Kindheitsparadies wird mündlich beschrieben, Wörter dienen als Träger einstiger emotionaler Empfindungen.

Abschließend sei auf die Wahl der Protagonisten hingewiesen und damit auf ein letztes Kongruenzmerkmal: Beide Helden sind historische Persönlichkeiten, die dem höchsten gesellschaftlichen Stande zugerechnet werden. Majkow bekräftigt die Bedeutung des Patriotismus, die Liebe zum Vaterland und die Pflicht gegenüber diesem. Fontane zeigt seinerseits die Fähigkeit der Herrschaftsgewalt, Gnade und Reue auszudrücken. Noch 1898, in seinem Sterbejahr, erinnerte sich Fontane, danach befragt, an jene Worte, die Heinrich VIII. zugeschrieben werden: „A King’s face shall give grace“ (Brief an Carl Credner, 3. Februar 1898. In: FHB 4, S. 693-694).

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