Unmittelbare Empfindungen – Zu Fontanes Theaterkritiken und aktuellen Inszenierungen

Fontane und die „Freie Bühne“

Theodor Fontanes Begeisterung vom Theater war Zeit seines Lebens unabstreitbar und fand Dokumentation in über hunderten Theaterkritiken, die nun in der Großen Brandenburger Ausgabe neu editiert und kommentiert worden sind.  Auch wenn einige der Kritiken heute nicht mehr in ihrer Bandbreite der Leidenschaft für die Berliner Bühnen nachzuvollziehen sind, so lassen sich doch immerhin Impressionen darüber gewinnen, wie Fontane die Inszenierungen seiner Zeit aufgenommen hat. Die Überschneidungen der Stücke, wie sie zu heute auf dem Theater und bei Fontane zu finden sind, betrifft nicht nur die beliebten Klassiker Goethe und Schillers, sondern auch die Hauptmanns und Ibsens. So schreibt Theodor Fontane über die „Freie Bühne“ 1889 folgendes:

Der Verein „Freie Bühne“ eröffnete gestern die Reihe seiner für diesen Winter geplanten acht Vorstellungen auf der Bühne des Lessing-Theaters, und zwar mit Ibsens „Gespenstern“, eine Wahl, die mir in doppelter Hinsicht die richtige zu sein schien: einmal in Huldigung gegenüber Ibsen, der (wenigstens aufs Dramatische hin angesehen) als Ältester wie als Haupt der neuen realistischen Schule dasteht, zum zweiten aus gebotener Klugheit. (S.155)

Sein Verhältnis zu den von uns als klassisch kategorisierten Stücken, scheint also gespalten zu sein. Noch bereits 1898 lässt sich diese Haltung in der brieflichen Korrespondenz Fontanes mit Friedrich Stephany erkennen. So spricht Fontane Ibsen die Wahrheit in seinen Dramen nicht nur gänzlich ab, sondern manifestiert sie als „Ansammlung von Blödsinn“. Die Schriften zur Literatur Fontanes formen ein durchaus kritisches Ibsen–Bild, wohingegen die Kritiken über das Theater andere Komponenten der Inszenierungen und daher für den Artikel interessanten Aspekte in den Blick nehmen. Lässt sich also etwas von Fontanes Kritiken für unser heutiges Theatererleben ableiten? Gehen Sie über etwas hinaus als die bloße Kritik am Bürgertum, die sich gerade an den Inszenierungen der Schiller’schen und Goethe’schen Stücke aufhing?

Der Ibsen-Zauber

Die Beliebtheit klassischer, besonders der Ibsen-Stücke, scheint nicht verschwunden zu sein, wenn man sich die Spielzeiten der vergangenen Jahre von Berliner Theatern anschaut. Die von den meisten eher als „seichte“ Gesellschaftsdramen verstandenen Stücke Ibsens, werden damals wie heute mit Vorliebe gespielt und neuen Interpretationen unterworfen, wie beispielsweise durch Fusion der Wildente und  des „Volksfeinds“ am Hamburger Thalia Theater 2021. Was bleibt also vom Abend der Wildente im DT in der Regie Stephan Kimmigs, wenn man mit den von Fontane entwickelten Gedanken zum Stück das Foyer des Theaters betritt, Platz nimmt auf den breiten Sesseln und der Vorhang sich teilt?

Das Monströse ist Normalität geworden und die Normalität monströs, so die bittere Erkenntnis, als Gerdis Werle nach Jahren der Isolation und Abgeschiedenheit in ihre Heimatstadt zurückkehrt. Nicht, dass sie als Buchhalterin eines Außenpostens der väterlichen Firma hoch oben in den nordischen Wäldern die Unabhängigkeit und Klarheit gefunden hätte, nach der sie gesucht hatte. Die Gespenster der Vergangenheit trägt sie noch immer in sich. Doch was ist das gegen die Verbiegungen und Deformationen, die sie vorfindet?

Auf dem Bild: Paul Grill, Peter René Lüdicke, Judith Hofmann, Linn Reusse Foto: Arno Declair. Deutsches Theater: „Wildente“

So der Ankündigungstext des DT über die Wildente 2021, in dem die Kategorien des Normalen und Vergangenen bereits Erwähnung finden. Die dem Familiendrama inhärenten Konflikte des Alltags bargen auch für Fontane einen gewissen Reiz. So schrieb er über die Aufführung 1888 im Residenztheater:

Was hier gepredigt wird, ist echt und wahr bis auf das letzte Tüttelchen, und in dieser Echtheit und Wahrheit der Predigt liegt ihre geradezu hinreißende Gewalt. […] Es ist das Schwierigste, was es gibt (und vielleicht auch das Höchste), das Alltagsdasein in eine Beleuchtung zu rücken, daß das, was eben noch Gleichgültigkeit und Prosa war, uns plötzlich mit dem bestrickendsten Zauber der Poesie berührt. (S.162 f.)

Kimmings arbeitet die von Fontane hervorgehobenen Motive ebenfalls auf und ergänzt sie um das der totalen Zerstörung, Regisseur Thorleifur Örn Arnarsson in Hamburg fokussiert sich hingegen auf das das Motiv des Moralischen. Eigen ist beiden Inszenierungen die bildliche Abstraktion, die sich in sprachlichen und bühnenbildlichen Aspekten erkennen lässt (vgl. Abbildung DT).

© Matthias Horn BERLINER ENSEMBLE: „Gespenster“ von Henrik Ibsen, Regie: Mateja Koležnik. v.l. Paul Zichner, Corinna Kirchhoff, Veit Schubert

Die verhandelten Kategorien des Normalen und des Monströsen, definieren die Rezeption Ibsens auf dem Theater in herausragender Weise. Das Berliner Ensemble inszeniert in seiner aktuellen Spielzeit Die Gespenster, wobei sich das, was Fontane „Wahrheit der Predigt“ nennt, wohl am stärksten erkennen lässt. Das schlichte und drehbare Bühnenbild verschärft die sprachliche Komponenten des Dramas. Was im Dunkeln liegt und was erleuchtet wird, durchzieht sprachlich als auch bildlich durchgängig die Inszenierung des Gesellschaftsdramas.

Über die Kritik hinaus

Fontanes Theaterkritiken können als aufschlussreiche und unheimlich unterhaltsame Text- und Zeitdokumente gelesen werden, die auch moderne Inszenierungen um einen geschichtlichen Hintergrund bereichern und das Theatererleben intensivieren. Und es lässt sich möglicherweise auch der Kern herauslösen, der die Faszination um Ibsens Dramen bis heute enthält:

Zugrunde geht die Präsentation, die mit öden Redensarten die Welt reformieren will aber von Wissen und Können getragene Nüchternheit bewährt sich, und neben ihr kommt der nicht genug zu beherzigende Satz zu seinem Rechte, daß die Lebeleute, die sich zu fördern wußten (und wenn es selbst Schuld war, was sie förderte), lange nicht die Schlimmsten sind und schließlich, hilfreich und mitleidsvoll einspringend, ihre Schuld entweder quitt machen oder sie doch mindern, im Gegensatz zu jenen unklaren Köpfen, die, während sie von „Idealen“ sprachen, nur sich selbst meinen, und während sie von Weltverbesserung sprechen, nur ihrer Eitelkeit frönen wollen. (S.163)

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