„Glossen zu einem Klassiker“ – Hans Blumenberg über Fontane

Einleitendes

Seit meinem letzten Ehrentage ist schon mehr als ein halbes Jahr vergangen, was gleichzeitig beutetet, dass einige Geschenke bislang noch nicht die Wertschätzung erhalten haben, die sie eigentlich verdienen. Dazu gehört auch ein schmales Taschenbüchlein, dessen Cover niemanden anderes als Theodor Fontane ziert. Jedoch versteckt sich unter diesem Buchdeckel nicht direkt Fontane, sondern nur indirekt, reflektiert von einem anderen Autor: Hans Blumenberg.

Dieser wurde am 13. Juli 1920 geboren – dementsprechend unlängst seinen 100. Geburtstag feiern durfte – und starb am 28. März 1996. Er studierte Germanistik, Philosophie und Klassische Philologie; promovierte, habilitierte und lehrte in Hamburg, Gießen, Bochum sowie schließlich Münster. Zu seinen bedeutendsten Werken zählt u. a.  Arbeit am Mythos.

Meine Verbindung zu Blumenberg begann früh in meinem Studium. Ein ganzes Semester Auseinandersetzung mit dessen metaphorologischen Schriften wird als bestanden in meinem Zeugnis aufgeführt. Die Wahrheit, die sich dahinter versteckt, sieht jedoch weniger beständig aus. Mitgenommen habe ich aus dem Seminar nur zwei Bücher und eine unbestimmte Abwehr gegen alles Weitere von Blumenberg. Daher die Verzögerung, das argwöhnische Beäugen des kleinen Büchleins, der Respekt vor der erneuten Konfrontation, vielleicht auch die Furcht vor dem wiederholten Scheitern.

Das Buch

Zuvorderst muss betont werden, dass ich im Besitz einer Lizensausgabe des 1998 im Carl Hanser Verlag erschienenen Bändchens bin. Daraus ergibt sich eine Titelverwirrung: Aus dem Original „Gerade noch ein Klassiker. Glossen zu Fontane“ wurde „Vor allem Fontane. Glossen zu einem Klassiker“ (im Insel Verlag). Eine kleine aber entschiedene Akzentverschiebung. Am Inhalt wurde dagegen nicht gerührt ebenso wenig an den Paratexten, weshalb den Leser:innen nur mitgeteilt wird: „[W]ie ein roter Faden zieht sich eine Fontane-Spur durch Hans Blumenbergs nachgelassenes Werk“. Die Rezension der BerlinerLesezeichen stolperte ebenfalls über diesen Aspekt und zeigt die damit zusammenhängende Problematik auf:

Üblicherweise braucht Nachgelassenes einen Herausgeber, einen solchen hat es hier nicht, also kann man wohl davon ausgehen, daß die Anordnung und Betitelung dieser reflexiven Miniaturen Wille des Autors sind; eine Annahme, die nur dadurch irritiert wird, daß das Copyright „für die Texte“ bei „Hans Blumenbergs Erben“ liegt, „für diese Ausgabe“ beim Verlag […].

Die Texte, die Glossen

Somit müssen die Texte herhalten, ob sie einlösen, was der Titel verspricht. Auf eine Herausgeberinstanz kann folglich nicht zugegangen werden. Insgesamt 64 Glossen vereint das Buch. Die Gattung der Glosse kann sowohl als spöttische Randbemerkung oder erläuternde Bemerkung zu einer schwierigen Textstelle aufgefasst werden. Für die Blumenbergschen Texte bietet sich letztere Definition an:

Ist es noch nötig, darauf zu verweisen, daß dies „Glossen“ nicht im heutigen Sinne einer flotten Feuilleton-Rubrik „polemischer, spöttischer Kommentar“ sind? Sie sind es im älteren Sinne, etwa als „erläuternde Bemerkungen“, die aber weit entfernt sind von belehrender Trockenheit, eher ins Anekdotische gehen […].

Die Ergänzung ums Anekdotische trifft den Kern der Texte. Blumenberg nimmt sich „[e]in[en] Satz, eine Redewendung, ein[en] Aphorismus, eine Anektode [sic], eine Briefstelle, eine Gedichtzeile des Dichters“ und schöpft daraus „Anregung zu kurzen Ausführungen, gedanklichen Exkursen, gelehrten Anmerkungen, geschichtsbewußten Überlegungen und zeitnahen Assoziationen.“ Anekdoten über Anekdoten sozusagen. Texte, die selten aufs Ganze, häufig auf das Beiläufige und den Exkurs abzielen.

Bemerkenswert ist überdies, welche Fontane-Texte/-stellen Blumenberg für seine „erläuternden Bemerkungen“ auswählte. Es ist nämlich nicht das breite und bedeutsame Romanwerk, sondern die kleinen Formen, an denen er Gefallen findet (lediglich einige Seiten zum Stechlin, 9-14):

Sein Interesse gilt weniger dem großen Romancier, […], sondern mehr dem Wanderer durch die Mark Brandenburg, dem Kriegsberichterstatter, dem Brief- und Balladenschreiber, dem Rezensenten, dem Anekdotiker und Chronisten. 

Blumenberg über Fontane

In den Glossen selbst zieht sich der Autor zurück, bleibt implizit, Blumenbergs Begeisterung kann somit nur erahnt werden: „So liest wer ein Leben mit Fontane verbracht hat, am Ende tausend Seiten Gedichte, einfach um sich ’nichts entgehen zu lassen‘.“ (S. 43) Wenngleich seine Ausführungen nie ins abschätzige geraten, eher verhalten jubilieren:

Der „Gelegenheitsdichter“ steht für die genaue Umkehrung der vielfältig idealisierten Verfassung des lyrischen Subjekts. Es wird, im unpassendsten Augenblick […] von seinem „Einfall“ […] überwältigt und zum (beinah) Vollendeten niedergezwungen. Umgekehrt der Gelegenheitsdichter. Hat er es als solcher zu einiger Beliebtheit gebracht, muß er auf die Gelegenheit, auf den Jubeltag, den Festzug, sehenden Auges ohne Einfall zugehen. Nur gesichertes Handwerkszeug läßt ihn auf das vertrauen, was er oft schon probiert hat […].
Nun wissen wir nur von den Gelegenheitsgedichten, die zustande gekommen sind; von denen die ausgeblieben sind wissen wir nichts. Not lehrt dichten, das stimmt nicht immer, denn Gelegenheitsgedichte sind gewöhnlich ungewöhnlich schlecht. Es gibt Ausnahmen, austrainierte Gelegenheitsmeister, denen sogar das Geburtstagsgedicht an die Ehefrau Jahr für Jahr „gelingt“. Übrigens am ehesten in der humoristischen Variante, wie man an Fontane, einem dieser Okkasionsmeister, beobachten kann. Er dichtet anderen und sich nach Bedarf. (S. 92)

Weiterhin zeigt Blumenberg treffend einige der Fontaneschen Spezifika auf. Beispielsweise verweist er auf dessen „Exploration über Namen“:

Es geht nicht um die Gemeinheit „sprechender Namen“, obwohl es die auch gibt; eher um das, was Fontane einmal „Namenpassendheit“ genannt hatte, als ein für sich genommen aussagearmes Fräulein Stellmacher von einem für sich ebenfalls unsprechenden Herrn Wagenmann um ihre Hand gebeten wurde. (S. 9)

Außerdem markiert Blumenberg eine Facette von Fontanes Dialogkunst, die er als „small talk“ definiert:

Der „small talk“ ist von Theodor Fontane im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts in die deutsche Literatur eingeführt worden. […] Nun hat Fontane das, was man damals noch nicht so nannte, nicht nur als Epiker der literarischen Nachwelt vorgemacht. Er hat es auch als Lyriker eingesetzt, um einen besonderen Wert ausübender Sanftmut zu markieren, mit dem das kaum greifbare Atmosphärische, das als „Verlegenheit“ über Situationen liegen kann und sie so leicht „entgleisen“ läßt wie die Langeweile, abgetragen, aufgelöst, sogar im Wortsinn „zerredet“ wird. (S. 33/35)

Exemplarisch für den Einsatz des „small talk“ in der Lyrik Fontanes führt Blumenberg das Gedicht „Der Subalterne“ an. Hieran muss sich eine Einschränkung am gesamten Textbestand der Glossen über Fontane anschließen. Denn alle 64 Texte sind nicht im Sinn eines Gesamtwerks zu verstehen, sondern stehen selten unähnlich nebeneinander. Eine erneute Bemerkung über das Gedicht „Der Subalterne“ taucht daher in sich gleichenden Formulierungen auf Seite 165 erneut auf. Die Texte sind insofern einzeln zu entdecken. Überdies ist die Textgestalt nicht frei von rassifizierenden Begriffen (bspw. S. 173), worauf kein Paratext hinweist.

Darüberhinaus

…bietet der Band aber auch weitaus mehr als Anekdoten oder Bemerkungen über Fontane. Beispielhaft lässt sich dies an der Glosse zeigen, die mit einer Bemerkung zu Fontanes Theaterkritik an Gerhart Hauptmanns Stück Vor Sonnenaufgang (vom 20./22. Oktober 1889) beginnt. Blumenberg kritisiert – „Ganz so darf der Kritiker nicht schließen.“ (S. 105) – erst Fontanes paradoxe Anmerkung zum Erscheinungsbild des Dichters Hauptmann, die nicht zur restlichen, lobenden Theaterkritik passen will. Fontane hatte statt eines schlanken, jungen blonden Herrn einen bärtigen, gebräunten und breitschultrigen Mann mit Klapphut und Jägerschem Klapprock erwartet (vgl. S. 105).

Diese Kritik führt Blumenberg weiter aus. Er sinniert über den Jägerschen Klapprock, kommt von dort zum Zoologen Gustav Jäger und zurück zu Hauptmann. In einem letzten Schritt bedenkt er dessen als auch Heideggers Rollen während des Dritten Reichs und schließt:

Die Verführbarkeit des Philosophen ist der des Dramatikers so unähnlich nicht: Bis an die Grenze der Gewaltsamkeit des großen Worts setzen beide sich gegen den Verdacht zur Wehr, aus Beruf und Umgebung für bürgerliche Illusionsbereitschaft anfällig zu sein. (S. 110)

Resümierend bleibt zu sagen, dass dieser Band an „Glossen zu einem Klassiker“ überraschende und eigenwillige Zugänge zum Werk Fontanes bietet, jedoch auch über dieses hinaus geht. Es bleibt mit Blumenberg festzuhalten:

Als hätte er verhindern wollen, zum „Klassiker der Moderne“ zu werden, ist Theodor Fontane im vorletzten Jahr des Jahrhunderts gestorben, dem ganz zugehörig man noch ein „klassischer Dichter“ werden konnte. (S. 36)

 

 

Zitiert nach: Hans Blumenberg: Vor allem Fontane. Glossen zu einem Klassiker. Frankfurt a. M./Leipzig: Insel 2002.

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