Peter Wruck (1932-2007) – erste Erinnerungen und eine Grabrede

Peter Wruck (1932-2007) – erste Erinnerungen und eine Grabrede

In der kleinen EinfĂŒhrung zu der neuen Rubrik Fontane-Menschen: Erinnerungen habe ich bereits den Namen von Peter Wruck erwĂ€hnt. In meinen Unterlagen versammelt sich unter seinem Namen das umfangreichste Material. Von der ersten Begegnung an war mir seine Person so wichtig, dass ich jede Karte, jeden Brief aufbewahrte. Als er 1997 in den Ruhestand ging, ĂŒberließ er mir seine Ordner, spĂ€ter kamen Notizen, Briefschaften, Gutachten und anderes hinzu. Eine Zeitlang beabsichtigte ich, seine verstreut publizierten Arbeiten zu sammeln und mit einem aufgeschlossenen Studenten zu veröffentlichen, mit kurzen Kommentaren versehen und einem Lebensbild seiner Persönlichkeit. Mein Mangel an Zielstrebigkeit ließ das Beabsichtigte versanden. Die Notwendigkeit einer solchen Publikation bleibt bestehen: zumal es sich nicht nur um ein ergiebiges Kapitel Fontane-Forschung handelt, sondern gleichermaßen um ein vielschichtiges Rezeptionskapitel in der DDR.

Erst als PrĂŒfling im Staatsexamen 1977 hatte ich Peter Wruck kennen gelernt. War es Sympathie auf den ersten Blick? Von meiner Seite zweifellos. Der Zufall ermöglichte mir, an seinem Doktorand:innen-Seminar teilzunehmen. Wir lasen Heine, Marx und Nietzsche, beschĂ€ftigten uns mit dem Streit um Herweghs Partei-Gedicht, wogen Lassalles Drama Franz von Sikkingen und warfen einen Blick in Bismarcks Parlamentsreden. Was wir am Ende unseres Studiums geahnt hatten, bestĂ€tigte jede Sitzung: Unser Wissensfundus war unbedeutend, unsere literaturtheoretische Kenntnis einseitig unbeholfen und von einem angemessenen Umgang mit literaturgeschichtlichen PhĂ€nomenen konnte die Rede nicht sein. Wruck kommentierte die Menge der MĂ€ngel nicht, wir fĂŒhlten sie schmerzlich – und beglĂŒckt: Denn er demonstrierte, was uns fehlte, und fĂŒhrte vor, wie sich das, vielleicht, beheben ließ. Ohne uns vorzufĂŒhren. Sein Habitus gab das unverdiente GefĂŒhl von EbenbĂŒrtigkeit. Wir nickten verlogen, wenn er auf einen uns gĂ€nzlich unbekannten Text mit den Worten „Sie werden ihn kennen, ich verrate Ihnen da nichts Neues“ verwies. Nach Sitzungsschluss eilten wir in die Bibliothek, um wenigstens diese LĂŒcke umgehend zu schließen. Fontane stand, wenn ich mich recht entsinne, nicht auf dem Programm. Wruck zögerte in diesen Jahren, ihn in Seminaren oder bei PrĂŒfungen zum Thema zu erheben. Wann er zwischen uns GesprĂ€chsgegenstand wurde, vermag ich nicht mehr zu sagen. Vermutlich aus einer seiner beilĂ€ufigen Bemerkungen, nebenher eingeworfen, Beiwerk („will das hier gar nicht vertiefen“) und dadurch doppelt wirksam.

Als er mir einen Aufsatz ĂŒber Fontanes „Preußische Idee“, der in den Fontane BlĂ€tter erschienen war, mit den Worten in die Hand drĂŒckte „Wird Sie vielleicht interessieren, sollen allerdings viele Druckfehler drin sein – lassen Sie sich davon nicht abschrecken. Sind mir schrecklich genug“, wusste ich nichts ĂŒber die HintergrĂŒnde. Unbekannt war mir, dass dieser Aufsatz Wrucks wissenschaftliche RĂŒckkehr zu Fontane bedeutete. Wir hatten von Konflikten gehört, auch dass sie sich um seine Dissertation „Preußentum und Nationalschicksal bei Theodor Fontane. Zur Bedeutung von Traditionsbewußtsein und ZeitgeschichtsverstĂ€ndnis fĂŒr Fontanes ErzĂ€hlungen Vor dem Sturm und Schach von Wuthenow“ (1967) rankten, wusste aber nichts Genaues. Die Arbeit selbst war nicht zu beschaffen; wir hatten es nach kurzem Anlauf aufgegeben. GerĂŒchte um Gutachten kursierten, wir ließen sie auf sich beruhen. Wrucks Gegenwart war uns wichtiger als eine Vergangenheit, an die offensichtlich nicht einmal er rĂŒhren mochte. Der Umstand seiner Parteilosigkeit bestĂ€rkte mich in der eigenen Reserve gegenĂŒber einer solchen Mitgliedschaft.

Ich las den Aufsatz, meine erste LektĂŒre-Begegnung mit dem, was wir bald den „Wruck-Ton“ nannten – wie sich unter seiner SchĂŒlerschaft, die im Verlauf der achtziger Jahre entschieden heranwuchs, der Terminus „Wruckismus“ einbĂŒrgerte. Gemeint waren dabei Formulierungen, in denen sich ĂŒberlegene Sachkenntnis und ironisierende Selbstaussagen auf sonderliche Weise mischten. „Das hat sogar mich ĂŒberrascht“ etwa oder, nach informationsdichten AusfĂŒhrungen, „dies alles versteht sich weitgehend von selbst, wĂ€re da nicht [
]“. Da die kleine Studie auf ArchivbestĂ€nden beruhte, die mich bis dahin nicht weiter interessiert hatten, erkundigte ich mich nach dem Fontane-Manuskript. „Sieh‘ da. Dachte es mir fast“. So oder Ă€hnlich lautete seine Erwiderung auf meine Nachfrage. Er wolle um die Jahreswende mal raus nach Potsdam, vielleicht habe ich Lust und Zeit. „Immerhin sind Sie Familienvater.“ War das Ironie, war das Ernst? Es sei dahingestellt. Der Archivausflug kam zustande, wir wurden in einer weit geöffneten TĂŒr der Dortustraße in Potsdam vom Archivleiter, Dr. Otfried Keiler (1931-2016), empfangen, und nach einem Kaffee fĂŒhrten mich die beiden Herren, die sich bestens zu verstehen schienen, in die Fontane-Handschriften-Welt ein.

Peter Wruck, Eröffnungsvortrag der Internationalen Arbeitskonferenz „Theodor Fontane im literarischen Leben seiner Zeit“, Potsdam 16.-20. Juni 1986. [Foto: privat]
Den Fontane-Fingerzeigen zu folgen, versetzte mich in eine neue Welt. Sie war ursĂ€chlich verbunden mit Peter Wruck und bleibt es bis auf diesen Augenblick. „Wenn Sie sich auf einen Dichter oder eine Dichterin kaprizieren“, meinte er in unĂŒbersehbarem Selbstbezug, „dann achten Sie darauf, dass es genĂŒgend zum Lachen mit ihnen gibt“. Die Person aus Fontane-Umkreis, auf die mich Wruck, unterwegs zu einem gemeinsamen Mensa-Essen, nebenher verwies, bot da allerdings nicht viel – so bedeutend sie war: Franz Kugler, Kunsthistoriker, Geheimer Rat im Ministerium und befreundeter Förderer Fontanes. Den fand Wruck nicht unbedingt „lustig“, aber in der Forschung vernachlĂ€ssigt: „einigermaßen unverstĂ€ndlich und merkwĂŒrdig allemal“. Wie jeden Hinweis dieser Art griff ich ihn ohne Zögern auf. Was von Wruck kam, hatte Wert und Gewicht – nie bin ich enttĂ€uscht worden. Ich versank in Kuglers Handschrift. WĂ€hrend ich lĂ€cherliche Entzifferungserfolge bei unseren immer regelmĂ€ĂŸigeren Begegnungen ausposaunte, beließ es Wruck bei wenigen Bemerkungen, was ihn beschĂ€ftige: „Sie werden den Kopf schĂŒtteln, Herr Berbig, Fontane als vaterlĂ€ndischer Schriftsteller“. Eifrige Notizen zu diesem Thema machte er sich noch, als ihn Juni 1986 in Potsdam auf einer internationalen Fontane-Tagung Moderator Keiler bereits vorstellte. Das Zittern der vielfach korrigierten Seiten steht jedem, wer dabei gewesen ist, noch vor Augen, als Wruck den Vortrag begann, ĂŒbernĂ€chtigt und angespannt, aber seiner Sache sicher. Die tiefe Verunsicherung mehrerer Konferenzteilnehmer – samt und sonders Fontane-Prominenz –, die sich in lebhaften EinwĂ€nden Ausdruck verschaffte, Ă€nderte daran nichts. Ich hörte atemlos, ganz Partei, aber mitnichten auf der Höhe der Debatte. Die Brisanz indes, sie verstand ich wohl.

Peter Wruck bei seiner Verabschiedung, Humboldt-UniversitÀt Berlin, Juli 1997 [Foto: privat]
Diesen ersten folgten weitere Schritte – keinen ging ich ohne Peter Wruck: die erste Publikation in den Fontane BlĂ€ttern, die Aufnahme in den Beirat, ein studentisches Projekt zum Tunnel ĂŒber der Spree, die Vorbereitung der GrĂŒndung einer Theodor Fontane Gesellschaft mit der Wahl in deren ersten Vorstand, die Organisation einiger Fontane-Tage und wissenschaftlicher Tagungen der noch jungen literarischen Gesellschaft. Von dieser Zeit ErzĂ€hlenswertes aufs Papier zu bringen, braucht es ein Gestimmtsein, das noch fehlt. Als Peter Wruck am 2. Dezember 2007 starb, starb mir ein Freund. Die Familie bat mich, die Traueransprache zu halten. Als die damalige Leiterin des Theodor-Fontane-Archivs fragte, ob ich sie den Fontane BlĂ€ttern zum Druck geben möchte, lehnte ich ab. Es habe nur einen Ort fĂŒr deren Öffentlichkeit gegeben: das Grab auf dem Friedhof in Pankow. Wenn ich jetzt dieser ernsten Erwiderung zuwiderhandele, dann vielleicht, weil der Text selbst historisch geworden ist – ein Dokument, das sich von dem, der die Rede damals hielt, gelöst hat. Mit dieser Ansprache die neue Rubrik im Fontane-Blog zu eröffnen, mag vertretbar sein. Wenn dennoch dafĂŒr um VerstĂ€ndnis gebeten werden muss, dann vor allem beim Verfasser selbst.

 

Traueransprache fĂŒr Peter Wruck

[Berlin-Pankow, Friedhof Pankow III, Am BĂŒrgerpark 24, 13. Dezember 2007, 13:00 Uhr]

 

Liebe Verwandte, Bekannte, Freundinnen und Freunde von Peter Wruck,

das Leben dessen, dem unser Beisammensein heute und an diesem Ort gilt, begann am 10. Juni 1932 in Breslau und es endete am 2. Dezember 2007 in seiner Wohnung in Pankow. Hier, in der Achtermannstraße 49, war Peter Wruck zu Hause seit 1959. Sein letzter Blick fiel nicht auf graue KrankenhauswĂ€nde, sondern sah Vertrautes, von ihm und seiner Familie Eingerichtetes. Eine Verabredung mit den Söhnen stand ins Haus, der erste Advent versprach ein Tag der Zuwendung zu werden. So einsam Altern ist, drohte keine Einsamkeit. Der Tod, der diesen Augenblick zum letzten werden ließ, kam unerwartet. Kein Vorbote kĂŒndigte ihn an, alle Anzeichen einer Bedrohung fehlten. „Man kann“, heißt es bei Fontane, „nicht still genug in seine letzte Wohnung einziehn.“

Was, wir wĂŒnschen es, Gnade fĂŒr Peter Wruck war, ist uns Anlass zu großer Traurigkeit. Wir hĂ€tten, in Abwandlung eines Wortes von Ilse Aichinger, nicht jenes Abschiedslicht benötigt, um zu wissen, was uns Peter Wruck war. Auf einen solchen Abschied ohne Übergang waren wir nicht vorbereitet und sind es noch immer nicht. Wie gerne hĂ€tten wir uns noch in RĂŒcksichtnahme geĂŒbt – und können nun nicht mehr, als RĂŒckschau halten. Eben haben wir noch gemeinsam an einem Tisch gesessen, ein Glas Wein geleert und uns der Geborgenheit gefreut, die in jenem „Bis bald“ lag, mit dem wir uns trennten. Eben war noch Zukunft und kein Grund, um ĂŒber ihre Grenzen nachzudenken – trotz aller Besorgnisse der letzten Monate. Wer Ende September 2007 bei der kleinen Fontane-Tagung ihm zu Ehren im Senatssaal der Humboldt-UniversitĂ€t dabei sein konnte, der sieht Peter Wruck neben dem Rednerpult stehen und sich verbeugen – und glĂŒcklich ĂŒber Menschen, die ihm wohl wollen und denen sein Wohlwollen gilt seit Jahr und Tag. Nein, wir sind mit diesem Tod nicht einverstanden und haben doch keine andere Waffe, ihm zu widerstehen als unser Erinnern. Mit dem Erinnern bleibt Gegenwart, was das Sterben als vergangen besiegeln will.

Von der Bedeutung, die prĂŒfbare Daten und Fakten in einer Biographie haben, war Wruck ĂŒberzeugt. Ihnen in einer Grabrede Rechnung zu tragen, verstand sich ihm von selbst. „Das, lieber Herr Berbig, sind obligatorische Gattungsmerkmale eines Nachrufs“. Lesen, Rechnen und Schreiben lernte er in der Grundschule in Breslau-Lissa, und das, was darauf aufbaut, in der Breslauer Elisabeth-Oberschule. Die Flucht vor der nĂ€her rĂŒckenden Front Februar 1945, die den Schulabschluss verzögerte, schien ihm, so schreibt er in einem ungewöhnlichen und eindrucksvoll verfassten Lebenslauf 1951, „anfangs ein großes Abenteuer, an dem das Bedauerlichste war, dass es mich ein volles BĂŒcherregal und mein eigenes Zimmer kostete.“ Doch dieser Preis wurde aufgewogen. Der alles verlor, was man gemeinhin Heimat nennt, der mit seiner Mutter westwĂ€rts floh und das zerbombte Dresden mit anhaltend-tiefem Schrecken als GlutflĂ€che aus dem vorbeifahrenden Zug sah, um dann in Ronneburg und endlich im thĂŒringischen Erfurt wieder zum SchĂŒler zu werden, datierte seine eigene bewusste geistige Entwicklung vom Ende der NS-Zeit her.

Heinrich Bölls ResĂŒmee „Schule, ja, auch“, hĂ€tte Wruck mit einem „Schule, ja, gewiss“ gekontert. Die Zeugnisse mit der alles beherrschenden Note „Sehr gut“ waren Beruhigung fĂŒr seinen Vater, der als BrĂŒckenbauingenieur bei der Bahn tĂ€tig war, und fĂŒr seine Mutter. Beruhigend fĂŒr ihn selbst waren sie nicht: Als er 1951 sein Abitur ablegte, beklagte er, was anderen Grund zu Freude gewesen wĂ€re: eine fehlende einseitige Begabung. Sein Selbstbild und Fazit im erwĂ€hnten Lebenslauf: „Ein Mensch, der Lichtenberg liest, den Werther und Heine, der mit VergnĂŒgen gute Musik hört, ohne Kenner sein zu wollen, der gerne ein schönes Bild sieht und es haßt, aus dem Schönen eine Wissenschaft zu machen, ein Mensch, der ebenso gut einmal eine Nacht durchtanzt wie er sie einem Gedanken oder einer Arbeit opfert, der sich an Idealen Ehre, Redlichkeit und – vielleicht – Liebe erhalten hat [
].“ Was sollte aus einem solchen Menschen werden? Wir wissen es und nicht erst jetzt.

Wruck ließ das Pendel seiner Begabungen zwischen Natur- und Geisteswissenschaften erst einmal in Richtung Bergakademie Freiberg ausschlagen und verschaffte sich in der MaxhĂŒtte, im SAG Kali Bismarckshall und Oelsnitz nachhaltige EindrĂŒcke einer harten Arbeitswelt. Einmal als Bergmann gearbeitet zu haben, war ihm zeitlebens – und nicht grundlos – Anlass zu bescheidenem Stolz. Doch das Gegenpendel ließ nicht auf sich warten. Es brachte ihn an den Ort, der ihm Bestimmungsort wurde: an die Humboldt-UniversitĂ€t zu Berlin. Von 1952 bis 1956 studierte er hier mit vergleichbar mustergĂŒltigen Noten Germanistik und schloss den Studiengang fĂŒr Diplomanden mit erweiterter literaturwissenschaftlicher Ausbildung und einer Studie ĂŒber Johann Gottfried Seume ab. Wie die christliche Weltsicht seiner kritischen PrĂŒfung nicht Stand gehalten hatte, so der Marxismus. Der Partei, die dessen Deutungshoheit als Machtanspruch fĂŒr sich reklamierte, vermochte er, so sehr sein Herz zeitlebens ‚links’ schlug, nicht beizutreten. Seiner Einstellung als wissenschaftlicher Assistent folgte 1961 die Höherstufung als Oberassistent, 1970 erwarb er die Facultas docendi, die attestierte LehrbefĂ€higung. 1978 berief man ihn, der lĂ€ngst Fachkommissionen leitete und grundlegende Partien einer Geschichte der deutschen Literatur verfasst hatte, zum Hochschuldozenten. Eine fachwissenschaftlich gesehen sinnfreie, latent disziplinierende Delegierung an die Moskauer UniversitĂ€t nutzte er auf seine Weise. „Dort bin ich Ski gelaufen und habe den kompletten ‚Heine‘ gelesen, beides“, so Wruck in unverwechselbarem Plaudern, „nicht zu verachten.“ Erst nach einem krĂ€nkenden Kampf, der angesichts seiner allseits angesehenen Lehr- und Forschungsleistung fĂŒr ihn verletzend war, konnte er 1987 seine Berufung zum außerordentlichen Professor durchsetzen. Zwei Projekte – zum literarischen Leben Berlins und zur Literaturgeschichte der hauptstĂ€dtischen UniversitĂ€t – wurden nun möglich. Die besten seiner Studierenden hatten sich lĂ€ngst in Wruck-SchĂŒler verwandelt und blieben es.

Seine untadlige Haltung und eine IntegritĂ€t, die ihresgleichen sucht, ließen ihn zur maßgeblichen und Maßstab setzenden Persönlichkeit wĂ€hrend der politischen Wende 1989/90 und den Folgejahren werden. Die Personalstrukturkommission und die Strukturberufungskommission, die die Germanistik an der Humboldt-UniversitĂ€t neu einzurichten hatten, fanden in Peter Wruck einen Menschen, der durch Sachkompetenz, Besonnenheit und EinfĂŒhlungsvermögen wesentlichen Anteil am Erfolg jener heiklen und in der RĂŒckschau zunehmend problematischen Einrichtungen hatte. So wie Wruck in DDR-Zeiten, als persönlicher Verrat legalisierte Umgangsform geworden war, vornehme Diskretion im persönlichen Umgang pflegte, ja demonstrierte, so widerstand er jetzt jeder lauten Aufforderung oder leisen EinflĂŒsterung nach Rache und Richteramt. In Thomas Cramer, dem sein anhaltend hoher Respekt galt, hatte er auf westlicher Seite einen gleich gesonnenen Partner von Rang zur Seite. Wer die beiden erlebt hat und wer Zeuge ihrer unbestechlichen Einvernehmlichkeit gewesen ist, der bekam damals einen Begriff, welches positive Potential in jenem historischen Umbruch lag.

Seit dem 1. Dezember 1992, so liest es sich in Paragraph 2 seines Dienstvertrages vom 20. Januar 1993, war Wruck „berechtigt, die Bezeichnung ‚UniversitĂ€tsprofessor’ zu fĂŒhren.“ FĂŒnf Jahre blieben ihm bis zu seiner Emeritierung, den ĂŒber die Jahre verlorengegangenen Boden gut zu machen. Denn anders wird man das, was die Möglichkeiten wissenschaftlichen Arbeitens anbelangt, nicht nennen können. Die SelbstverstĂ€ndlichkeit, mit der heute in der Fontane-Forschung Wrucks Name als einer der besten genannt wird, war alles andere als selbstverstĂ€ndlich. 1959 hatte Wruck sich entschlossen, die verabredete Dissertation unter das Arbeitsthema „Das SpĂ€twerk Gottfried Kellers“ zu stellen. Eine alte, nie aufgegebene Liebe zu Kellers Werk stand dabei Pate – aber sie verblasste, als eben jener Autor von Wruck Besitz ergriff, bei dem sich wissenschaftliches Interesse, politische Herausforderung und persönliche Anziehungskraft verknĂŒpften wie bei keinem: Theodor Fontane. Der Weg von einer ersten Tagebuchnotiz des 17JĂ€hrigen unter dem 20. MĂ€rz 1949 „‚Irrungen Wirrungen’ hĂ€tten den besten Hintertreppenroman abgeben können, was den Stoff anbetrifft – und was hat Fontane daraus gemacht!“ bis zu seiner mustergĂŒltigen Interpretation dieser ErzĂ€hlung 1985 war weit – und er ist gezeichnet durch einen scharfen, unabgegoltenen Schnitt.

1967 verteidigte Wruck seine Dissertation „Preußentum und Nationalschicksal bei Theodor Fontane“ mit „summa cum laude“. Sie widmete sich eingehend dem ‚mittleren Fontane’ und nahm damit jenes Forschungsfeld vorweg, das erst – dank glĂŒcklicher UmstĂ€nde und dank des bahnbrechenden Hauptvortrags von Wruck auf einer nicht anders als legendĂ€r zu nennenden Konferenz in Potsdam 1986 – Mitte der achtziger Jahre seinen ihm gebĂŒhrenden Platz eroberte. Dass die Dissertation bis auf den heutigen Tag kaum mehr als eine Handvoll Leser hatte, verdankt sie der beklemmenden Vereitelungstaktik von Verlagsseite, bei der ein Gutachten, das eine Neuschrift verlangte, eine beschĂ€mende Rolle spielte. Wrucks Arbeit blieb ungedruckt, sie unterlag einem KalkĂŒl von Macht und Markt, auf das einzulassen sich ihr Verfasser außerstande sah. FĂŒr Jahre zog sich Wruck aus der Fontane-Forschung zurĂŒck. Otfried Keiler, damals Leiter des Theodor-Fontane-Archivs, erst vermochte es, ihn Anfang der achtziger Jahre in die wissenschaftliche Welt der Fontane-Forschung zurĂŒckzulocken. DafĂŒr kann ihm nicht genug gedankt werden.

Dass Wruck, nachdem er 1990 MitbegrĂŒnder und Vorstandsmitglied der Theodor Fontane Gesellschaft geworden war, forschungsergiebige und bindungsstiftende Konferenzen auf die Beine stellte, dass er eine Zeitlang Fontane-Tage an seiner UniversitĂ€t durchfĂŒhrte und dass sein Name den anstĂ€ndigen und respektierten Klang gewann, an dem seinem TrĂ€ger lag – das ist mehr als eine schöne Genugtuung jenen, die ihm zugetan sind und nicht vergessen haben, wie gefĂ€hrdet und hinderungsreich diese berufliche Laufbahn war.

Beruf, Literatur und Kunst, das ist eine Seite. Und die andere?

„[
] dieses sich eins FĂŒhlen mit der Welt! GlĂŒcklich bin ich, und herrlich ist das Leben“. Wie fröhlich und unbeschwert ist dieses GefĂŒhl, das das Tagebuch unter dem 6. MĂ€rz 1949 festgehalten hat. Wer sich an Peter Wruck erinnert, sieht ihn ja auch umgehend in ein Dasein voll Freude und Lust versetzt. Jede und jeder von uns hat ihre und seine Bilder an gemeinsam verlebte Zeiten, die kostbar sind und unverzichtbar ĂŒber den Tod hinaus: ihm ĂŒberlegen. „Einmal“, so erzĂ€hlte mir Peter Wruck vor Jahren, „bin ich mit Edith, meiner Frau, am Bodensee gewesen, wir haben uns ein Boot besorgt, sind gerudert und irgendwann war da nur der See, das Boot, der Himmel, wir – da war ich glĂŒcklich“. Ein Erinnerungsbild.

Ein anderes: Da sind die fĂŒr seine Jungs Ullrich und Stephan, auf deren Werdegang im Leben er spĂ€ter mit so viel stillem Stolz blickte, ausgestellten Vollmachten fĂŒr den Erwerb der Zigarettensorte „Jubilar“, wenn die Satzsucherei am Schreibtisch einfach kein Ende finden wollte. Und alles Arbeitselend der Welt, durchlittene NĂ€chte, um einem Satz oder zweien den letzten Schliff zu geben, wurden aufgewogen von Hohen Neuendorf, jenem kleinen Paradies bei Berlin, das Wruck – ganz gegen den landesĂŒblichen Sprachgebrauch – nicht Datsche, sondern „unseren Landsitz“ nannte. Hier kamen Freundinnen und Freunde zusammen. Wer einmal unter den hohen BĂ€umen in jener Naturbelassenheit gesessen hat und sich an einem warmen Sommerabend von den liebenswĂŒrdigen Gastgebern mit frischem Brot und kĂŒhlem Wein hat bewirten lassen, der vergisst da nichts und hat am Vergangenen Freude noch heute. Die Familie erlebte sich, wie mir die beiden großen Söhne im dankbaren Erinnern erzĂ€hlten, gegenĂŒber dem beengten Pankower Domizil plötzlich auf ganz neue, leichte Weise – morgens holte einer Brötchen, ein anderer kochte Kaffee, jemand stellte Teller und Tassen auf dem Holztisch bereit: und das GesprĂ€ch ging lebhaft und fröhlich, unbeschwert und heiter, als könnte es nie enden. Der Rat, den man erhoffte, kam wie von selbst, und als man sich, wie es so gehen mag und geht, aus dieser Welt herauswuchs, war doch diese Welt eine des Vaters, den man als Freund wusste, dem man Freund war und dessen Zuneigung trug. Dazu mochte spĂ€ter auch das Ritual zĂ€hlen, alljĂ€hrlich am 24. Dezember die Familie in der Achtermannstraße um einen Tisch zu versammeln, auf dem ihr „Karpfen blau“ liebevoll vorgesetzt wurde. Ob schlesisch zubereitet? Ich weiß es nicht, aber ich möchte es mir denken, jetzt fĂŒr uns hier. Bilder des Genießens und der Lebenslust. Die lachenden Schwiegertöchter Reila und Daniela, denen er zugetan war und ĂŒber die er mit WĂ€rme sprach, die Enkelinnen und Enkel 
 Oder die langjĂ€hrigen Freunde, die, alt nun alle, wandernd von Zeit zu Zeit durch die Mark zogen: Klaus Hermsdorf, Peter MĂŒller, und der liebste aller Freunde, Gerhard Schneider. Ich werde Wrucks Gesicht nicht vergessen, als er mir von dem Dank erzĂ€hlte, den er seinem fast gleichaltrigen Hochschullehrer am Sterbebett noch abstatten durfte: fĂŒr ein Leben in Freundschaft. Zum Ă€lter werden gehört Tapferkeit. Herr Wruck war tapfer, und er war traurig ĂŒber jeden Verlust, den das Alter brachte. „Es wird langsam einsam, Herr Berbig“, sagte er mir bei unserer letzten Begegnung, einer herbstlich-heiteren Weinprobe am Wittenbergplatz, zu der er mich geladen hatte.

Bilder der Freude verbanden sich – wie oft habe ich Herrn Wruck davon erzĂ€hlen hören – mit Lucas, seinem dritten Sohn. Noch einmal stand ĂŒber allem ein Beginnen, ein Anfang, ein Nochmal. Unbeschwerte Reisen mit Barbara in jene Ferne, in die es Peter Wruck immer wieder zog. Einen olympischen Wettlauf auf klassischer Strecke mit kleinen Jungen zu veranstalten und dabei ĂŒbermĂŒtig in das griechische Licht zu blinzeln, dessen fernes Herkommen ihm gegenwĂ€rtig war 
, Zeichnungen mit dem Stift, wie es von frĂŒh an erprobt worden war, nun Lucas an seiner Seite. AusflĂŒge durch das klassische Rom, mit dem Baedeker und allerlei Literatur sachgerecht vorzubereiten, das war ein Ja zu jenem Dasein, um dessen Herrlichkeit und um dessen Gebrechlichkeit er wusste und das er doch mit Herz und Sinnen liebte. Der als junger Mann eine durchtanzte Nacht zu schĂ€tzen wusste, der schĂ€tzte diese Erinnerung so sehr, dass er es im Alter noch einmal wagte, mit einem Tanzkurs zu beginnen. Aufmerksamkeit, heißt es in Paul Celans Meridian-Rede in Anlehnung an Benjamin, ist das natĂŒrliche Gebet der Seele. Von dieser Aufmerksamkeit allem Sein gegenĂŒber hatte Peter Wruck viel. Geschichten, Bilder, wer könnte sie ergĂ€nzen, wenn nicht Sie und ein jeder, eine jede von uns.

Gleichbehandlung: Peter Wruck war das Lebensgesetz. Es einzuhalten, fiel ihm leicht. Es entsprach seinem Wesen. Wem er begegnete, dem begegnete er auf Augenhöhe. Eine soziale Differenz zu markieren, war ihm fremd. DĂŒnkel oder Neid, Eitelkeit oder Ehrsucht vertrugen sich nicht mit einer Haltung, die von weither kam und in der ein Gran Schlesisches vermutet werden darf. Feinsinnige Ironie, deren Schutz er bedurfte, stand vorbehaltfreie Freundlichkeit zur Seite, die nicht vergisst, wer sie erfuhr. Mit keinem Menschen habe ich lachen können wie mit ihm. (Einmal habe ich darĂŒber und ohne jede Reue mehrere AnschlusszĂŒge verpasst.) FĂŒr die Neigung, Wörter zu gebrauchen, die außer Gebrauch gekommen waren, mochten wir ihn – sehr. „LeibesĂŒbung“ fĂŒr die tĂ€gliche Fitness, „Muttersbruder“ fĂŒr den Onkel und als Wunsch fĂŒr den jĂŒngsten Sohn jene altertĂŒmliche „TĂŒchtigkeit“ – Worte, die in seinem Munde die Kraft ihres Ursprungs zurĂŒckgewannen 
 Als sein GedĂ€chtnis ihm nicht mehr gehorchte, wie er es sein Lebtag gewohnt war, sprach er von „Wortfindungsschwierigkeit“, als hoffte er, mit dem Begriff die Not zu bannen. Nur wer wusste, wie sehr ihm das gefundene und einzig passende Wort allzeit GlĂŒck war, ahnte vom UnglĂŒck, das ihm der Verlust dieser kostbaren Gabe bedeutete. Jahrzehnte haben wir von dieser Kunst dankbar profitiert und unsere Herzensfreude an ihr gehabt.

Zum Schluss ein letztes Erinnerungsbild. Es ist, wie es der Anlass gebietet, ein Bild des Abschieds. Noch einmal steht Peter Wruck vor uns. Ein geglĂŒcktes, glĂŒckliches Zusammensein ist an sein Ende gelangt. Wir nehmen seinen Mantel, reichen ihm Schal und Kopfbedeckung. Als wir ihm behilflich sein wollen, sagt er: „Das geht schon noch allein, bin ja froh darĂŒber“. Er setzt die unverzichtbare, immer etwas sonderliche MĂŒtze auf, wir schĂŒtteln einander die Hand, in einem Zugeneigtsein, das keiner Worte bedarf. Und ehe er fortgeht, dreht er sich ein letztes Mal um, seine Augen funkeln fröhlich-ernst, weil er die Wendung gefunden hat, die den Abschied wĂŒrdig besiegelt: „Leben Sie wohl“, sagt er. Und es ist, als habe er diesen alten, klassischen Trennungsgruß, der allen Wert birgt, in diesem Augenblick und nur fĂŒr uns gefunden. „Leben Sie wohl!“

Jeder Mensch sei ersetzbar, heißt es. Ich glaube es nicht. Jetzt nicht, hier nicht – nie.

 

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