Saša Stanišić ist – allein an der Vielfalt an ihn vergebenen Preisen gemessen – einer der herausragenden Schriftsteller des deutschen Literaturbetriebs. Seine Romane Vor dem Fest (gewann den Preis der Leipziger Buchmesse, 2014) und Herkunft (gewann den Deutschen Buchpreis, 2019) sind Bestseller. Ersterer ist darüberhinaus sogar als Teil des Hamburger Abiturs besprochen und prüfungsrelevant geworden.
Als feststand, dass er [der Roman Vor dem Fest] verbindlicher Referenztext für die Abiturjahrgänge 2019 und 2020 in Hamburg wird, stand auch für mich fest, mit den Lehrkräften und mit den Deutschkursen daran arbeiten zu wollen.
Dass es nicht nur bei „knapp sechzig Veranstaltungen“ an den Schulen und Gesprächen mit den Schüler:innen blieb, führt Stanišić auf seinen Ehrgeiz zurück:
Die Frage [ob Stanišić Vor dem Fest als Abituraufgabe gewählt hätte] hatte mich aber dann doch am Ehrgeiz gepackt und ich beschloss – wenn es irgendwie möglich sein sollte – die Prüfung parallel und unter gleichen Voraussetzungen mit den Schüler*innen zu schreiben.
Tatsächlich schrieb Stanišić das Abitur zu seinem Text. Um die „gleichen Voraussetzungen“ der Schüler:innen zu erreichen, verfasste er das Abitur unter einem Pseudonym: Elisabeth von Bruck. Ob mit dieser Namensgebung auf Fontane angespielt werden sollte, kann nur gemutmaßt werden – der Verweis zu Elisabeth (Baronin) von Ardenne, der Vorlage für die Figur Effi Briest, drängt sich jedoch zaghaft auf.
Die zitierten Passagen sind seiner Vorbemerkung zu dem Abdruck seines Abiturs entnommen. Erschienen ist der Abdruck im ersten Heft diesen Jahres der Zeitschrift für Germanistik. Ebenfalls vorangestellt ist eine redaktionelle Notiz, die die dreiteilige Aufgabenstellung, der sich Stanišić zu stellen hatte, paraphrasiert:
II.1 Charakterisierung der Titelfigur im ersten Kapitel von Fontanes Roman „Cécile“; II.2 Vergleich dieser Charakterdarstellung mit Lada in Stanišićs Roman „Vor dem Fest“ (S. 14-17); II.3 Hinzufügung einer eigenen Szene in die Festbeschreibung des Romans (S. 89 f.), in der Fontanes Cécile zu Gast bei den von Blankenburgs in Fürstenfelde ist.
Der Tagesspiegel nennt Stanišićs pseudonymisiertes Schreiben einen „literarischen Streich“, ein „selbstironisches Krönchen“, das sich der Schriftsteller „zur Kanonisierung zu Lebzeiten“ aufsetzen kann. Dass damit gleichwohl nur die eine Seite der Medaille benannt ist, wird deutlich, wenn Stanišićs eigener Anspruch an das so betitelte Experiment mitbedacht wird: „Die Arbeit sollte interessierten Lehrkräften des nachfolgenden Abiturjahrgangs zur Verfügung gestellt werden als Unterrichtsmaterial.“ (Stanišićs Vorbemerkung) Darüberhinaus sei die „Klausur, […] von großem literaturwissenschaftlichem und fachdidaktischem Interesse“ (redaktionelle Notiz).
Es ist das Konglomerat aus all dem und sicherlich noch sehr viel mehr, das Stanišićs Abitur-Experiment zu einer literarischen/wissenschaftlichen Fundgrube macht, die vor allem eins auszeichnet: Sie ist von jung bis alt – einfach für jeden gedacht und geeignet. Insofern ist sie ein Spiegel von Stanišićs Oeuvre per se, das neuerdings auch Kinderbücher präsentiert (Hey, hey, hey, Taxi! – nominiert für den Deutschen Jugendliteraturpreis). Und selbstverständlich bietet sein Abitur jeder/jedem Fontane Begeisterten einen Einblick darüber, wie er Fontanes Figur Cécile wahrnimmt, charakterisiert und in eine eigene Erzählung einflicht.
Wer auf Stanišićs Text neugierig geworden ist und wissen möchte, wie er die Prüfung abgeschlossen hat, dem sei unter nachfolgendem Link der Abdruck des Abiturs sehr empfohlen. Dieser findet sich als kostenloser Download über diesen Link.
Saša Stanišić: Experiment: Abitur über meinen Roman ,,Vor dem Fest“. In: Zeitschrift für Germanistik 32 (2022), H. 1, S. 199-205.
Es ist schon ein Armutszeugnis, wenn sich auf einer Seite, die sich einem großen Schriftsteller widmet, tatsächlich ein Gendersternchen tummelt. Ganz abgesehen von der Hilf- und Sinnlosigkeit dieser ach so fortschrittlichen Selbstdarstellung verstimmt es, gerade dort, wo das sprachliche Erbe bewahrt und gepflegt werden sollte, puren Opportunismus zu finden. Hoffentlich ist es nur Gedankenlosigkeit.
Ihrem Beitrag entnehme ich, dass Sie kein regelmäßiger Gast unserer Seite sind. Sonst hätten Sie gemerkt, dass neben dem Genedersternchen sich schon seit einigen Jahren hier weitere Gender-Alternativen „tummeln“ – und dies wohlgemerkt mit klarem Gedanken und bestem Gewissen. Überdies hätte Ihnen auffallen können, dass unsere Seite nicht „bewahren“ und „ehren“ will, sondern über die Lektüre der Werke des „großen Schriftstellers“ Neues entdecken, Altes aktualisieren und Möglichkeitsräume öffnen möchte. Ganz generell wollen wir einem normativen „sollte“ keinen Platz gegeben – denn alles kann, nichts muss.
Und ganz persönlich erscheint es mir andersherum, ein Armutszeugnis zu sein, sich über einen x-beliebigen Beitrag eines Internet-Blogs zu echauffieren.
Mit bester Hoffnung auf gute Lektüren gegenwärtiger Schriftsteller:innen – u.a. wäre Saša Stanišić zu empfehlen!
Saša Stanišić bzw. dessen Avatar ist leutselig. Im Rahmen einer Poetikdozentur der Hochschule RheinMain und der Landeshauptstadt Wiesbaden berichtete er von den Gesprächen mit seinem Sohn auf dem Weg zum Kindergarten. „Was arbeitest du?“ – „Damit er [gemeint: der vierjährige Sohn] – und die, deren Frage er hier weitergibt, sich etwas vorstellen können, habe ich geantwortet: Kranführer (oder war es Baggerführer?).“
Ist dieses Ich ein intradiegitischer oder metadiegetischer Erzähler? Wir sind nicht in einem philologischen Fachblatt und können die Frage unbeantwortet lassen. Derjenige, der als Beiträger der ‚Zeitschrift für Germanistik‘ als Saša Stanišić signiert, weist in seiner Bearbeitung der hamburgischen Abituraufgabe von 2019 allerdings Fontanes Céline einen „heterodiegitischen“ Erzählansatz zu (S. 201, Zeile 20), in Opposition zu einem „homodiegitische[n]“ (Seite 203, Zeile 10 von unten) im Roman ‚Vor dem Fest‘. Fachlich ist letzteres grober Unfug, man denke an die Analepsen und die Charaktere der Wiedergänger oder Zeitreisenden; auch das einzige Fontane-Zitat beweist in dieser Hinsicht keine Tragfähigkeit. Wer und wo würde darauf die Note eins geben, selbst mit Einschränkungen (13 Notenpunkte) ?
An mehreren Punkten klemmt die Story von der Klausur als „Interpretation eines Autors in einer realen Prüfungssituation“. Die Aufgabenstellung, „die hier nicht wörtlich zitiert werden kann“, kann der Verlag Stark in seinen lehrertintenroten Prüfungsvorbereitungsheften sehr wohl wiedergeben. Die Teilnahme an der Prüfung unter dem fontanesken Namen Elisabeth von Bruck hätte nach § 6 Absatz 1 Abschnitt 1 der am 22. Juli 2003 in Kraft gesetzten und bis heute gültigen Prüfungsordnung zum Erwerb von Abschlüssen der allgemeinbildenden Schulen durch Externe (ExPo) nur erfolgen können durch eine Anmeldung mit aktuellen Foto, zu verifizieren durch einen gültigen Lichtbildausweis bei Ableistung der Prüfung.
Hat „Elisabeth von Bruck“ an der Leistungsfeststellung auf grundlegendem oder erhöhtem Niveau teilgenommen? In der Hansestadt Hamburg wäre im betroffenen Zeitfenster beides möglich gewesen. Und welche Schule hat bei dem Hoax mitgespielt?
Die beschworene „Lehrerin“, welche die großzügige Benotung abgesegnet haben soll, ist genauso unplausibel. Wieso eine Frau? Wieso éíne? Bei dergleichen Staatsprüfungen gibt es grundsätzlich das Vieraugenprinzip, bei Diskrepanz erweiterungspflichtig.