Wer zur frühen Abendstunde ein Archiv betritt, erlebt einen anderen als den gewohnten Ort. Arbeitsatmosphäre und dienstliche Geschäftigkeit sind vergessen, etwas Feierliches liegt über den Räumen. Man lächelt sich heiter zu, ohne Zeitdruck und in unbestimmter Vorfreude. Die einem sonst hilfreich zur Hand gehen, den erbetenen Bestand auf den Tisch legen und Zettel dazu, der die Unterschrift erbittet, sie haben sich in Vortragende verwandelt, sie moderieren und präsentieren, bedienen Netbooks und hantieren mit Mikrophonen.
So auch am vergangenen Donnerstag, dem 24. November 2022, im Theodor-Fontane-Archiv. Geladen hatte man, um eine Reihe, die gute Tradition hat, das diesjährige Kapitel zu schreiben. Unter dem anspielungsfröhlichen Titel Neues Altes von Fontane wollte man einem interessierten Auditorium vor Ort vorstellen, was die jüngste Zeit an Fontane-Novitäten gebracht hat – zum ersten Mal auch als digitale Live-Veranstaltung. Wem der Weg in die Villa Quandt zu weit oder zu beschwerlich war, konnte bei einem Tee daheim am Bildschirm dabei sein. Wunderbar.
Und wunderbar war, was geboten wurde. Es begann mit einem unscheinbaren Bändchen, das aus einer Sammlung, die der Bibliograph Wolfgang Rasch dem Archiv übergeben hat, einem Album unfreiwilliger Komik. Es erschien seit 1877 in mehreren erweiterten Auflagen und vereinte, wie es im Untertitel hieß, humoristische Annoncen, Druckfehler und Aussprüche, alle sorgsam ausgewiesen nach den Quellen. In der hier von Rainer Falk mit sichtlichem Vergnügen vorgelegten Auflage findet sich doch tatsächlich auch etwas von Fontane, und das gleich zweimal: Verse, die vergnügt übermütig mit märkischen Ortsnamen spielen, und ein Satz aus Irrungen Wirrungen. Der lautet: „Und sie schmiegte sich an ihn und blickte, während sie die Augen schloß, mit einem Ausdruck höchsten Glückes zu ihm auf.“ Das Eigenwillige dieses Satzes war schon Zeitgenossen als merkwürdig aufgefallen, und Fontane hatte nicht angestanden, seine Dichterehre zu verteidigen.
Rasch hat den amüsanten Vorgang vor einigen Jahren in den Fontane Blättern quellenscharf publik gemacht, und Jens Bisky – als er noch an seinem für uns glücklichen und vielleicht eigentlichen Bestimmungsort in der Süddeutschen Zeitung war – einer großen Leserschaft weitererzählt.
Diesem Auftakt folgte etwas für eine Spezies der besonderen Art. Deren Neigung hängt mit Auktionen zusammen, auf denen Bücher und Handschriften höchstbringend versteigert werden. Bevor etwas unter den Hammer kommt, kommt es als verlockender Eintrag in einen Katalog, mit Beschreibung, zuweilen mit Abbildung und, natürlich, mit dem Ausgangspreis. Professionelle Auktionsbesucher:innen haben dann während der Versteigerung diesen Katalog auf den Knien und notieren die erzielten Preise. Und wenn sie besonders eingeweiht sind, ergänzen sie den jeweiligen Eintrag um einen Hinweis, an wen das Unikat ging. Archive sind hocherfreut, wenn sie in Besitz solcher persönlichen Kataloge gelangen.
Für die Provenienz-Forschung sind sie nicht selten ein Glücksfall: Wege, die Manuskripte oder Briefschaften gingen, lassen sich nachvollziehen, Geschichte von Nachlassbeständen rekonstruieren. Als Schriftstellersohn Friedrich Fontane sich 1933 gezwungen sah, den Nachlass seines Vaters auf diese Weise zu veräußern, hatte auch er einen Katalog erstellt und in das gedruckte Exemplar (vermutlichem mit tränenverschwommenem Auge) sich die lächerlich geringfügen Summen notiert, die bei diesem Verscherbeln erzielt wurden. Just dieses Exemplar befindet sich nun im Theodor-Fontane-Archiv, das weitere Exemplare bereits im Bestand hat: etwa das von Charlotte Jolles, der bedeutenden Fontane-Forscherin.
Nun weiß man, dass sich Klaus-Peter Möller vom Archiv solcher Leckerbissen mit kräftigem Appetit anzunehmen weiß. Doch wie schön, da saß bei der Präsentation eine Praktikantin neben ihm, Lea Brandenburg, die mit ihm ein Duo bildete, dem man nur zu gerne zuhörte. In ihrer Hand liegt es, die Kataloge gründlich zu sichten, die handschriftlichen Einträge zu transkribieren und nach Auswertungsverfahren zu fahnden. So soll es sein, die Jungen wachsen nach und folgen hellwach den Fährten, auf die die Älteren sie aufmerksam machen. Jolles, die mir vor Jahr und Tag ihren Auktionskatalog in London für das Archiv übergeben hatte, hätte ihr helle Freude daran. Kaum konnte ich widerstehen, die junge Kollegin in die Fontane-Blog-Welt einzuladen und ihr die Theodor Fontane Gesellschaft ans Herz zu legen.
Als diese literarische Gesellschaft im Verbund mit dem Archiv vor bald zwei Jahren den Plan fasste, einen Antrag auf Förderung durch die Kulturstiftung des Bundes zu schmieden, ahnte wohl keiner der Beteiligten, was daraus in der Realität entstehen könnte. Dass sich daraus eine digitale 3D-Ausstellungs- und Interaktionsumgebung entwickeln ließe, die auf den Namen FontaneVR hört und den Eindruck erweckt, man sei in einem zauberhaften utopischen Film – unvorstellbar. Dank eines weiteren jungen Kollegen, Ronny Zimmermann, der sich auf 3D-Design versteht und dessen Beruf Social Media Editor ist, Dr. Anna Busch vom Archiv und Vanessa Brandes von der Theodor Fontane Gesellschaft werden die Fantastereien von Antragsstellern zu einer frappierenden Wirklichkeit.
So viel da noch zu tun ist, das Getane verblüffte die Zuschauer schon allemal. Sie betraten ein virtuelles Fontane-Archiv, das dem realen ähnelt und doch ganz anders ist. Die Räume im Realen sind gefüllt mit jenem Etwas, das nur auf diese Weise optisch zu erzeugen ist. An den imaginierten Wänden Bestände des Archiv – und das Abenteuerlichste: eine handschriftliche Seite aus dem Stechlin-Manuskript mit unzähligen Besserungsschichten, die nun visuell feinsäuberlich voneinander losgelöst sind. Atemberaubend und ein Ausblick auf zukünftige Möglichkeiten! Dass das Team immer wieder versicherte, man sei bisher die ersten Schritte nur gegangen, ihnen müssten noch viele folgen, änderte nichts am Befund des Auditoriums: anhaltender Beifall.
Da der geplante Moderator der letzten Runde, Prof. Dr. Michelangelo D’Aprile, neuer Vorsitzender der Theodor Fontane Gesellschaft, im unentrinnbaren Stau stecken geblieben war, wechselte Rainer Falk kurzerhand das Gewand und schlüpfte in die vakante Rolle. Dass die ihm mehr als nur lag, bewies er in der letzten Runde des Abends auf nachgerade bravouröse Weise. Kurzweilig plauderte er mit seinem Chef, Prof. Dr. Peer Trilcke, über ein 672-seitiges Buch. Das stand eindrucksvoll in zwei, drei Exemplaren auf dem Podium, druckfrisch – man schien es beinahe zu riechen. Und spüren konnte man, dass dem Herausgeber mit dieser Buchwirklichkeit ein Stein vom Herzen gefallen war. Wie viel Arbeit musste es gekostet haben.
Die Beiträge, die in dem Fontanes Medien getitelten Band vereint sind, gehen zurück auf die große internationale Konferenz in Potsdam im Fontane-Jahr 2019. Aber dem Herausgeber hatte daran gelegen, nicht einfach die Vorträge mehr oder minder eilig drucken zu lassen und in die Welt zu versenden. Ihm stand eine grundlegende, das Thema von allen Seiten beleuchtende und den Tag überdauernde Publikation im Sinn. Auch verfolgte er die Absicht, dass alle, die ihre Vorträge mit einer anschaulichen PowerPointPräsentation versehen hatten, wenigstens Teile daraus veröffentlichten konnte. Ja, er ging so weit, dafür zu sorgen, dass die Abbildungen die nötige Druckqualität erhielten. Damit nicht genug. Herausgeber und Verlag de Gruyter kamen ganz und zeitgemäß und doch nicht selbstverständlich überein, dieses Buch komplett über Open-Access zugänglich zu machen.
Niemand, der nach diesem abwechslungsreichen und anregenden Abend nicht noch Lust hatte, mit den Veranstaltern anzustoßen, beherzt Dank zu sagen und untereinander Fontane-Fäden aller Art weiterzuspinnen!