Einsteigen
Fontane und die Mark Brandenburg: Für nicht wenige sind das Synonyme. Kein Ort, den der Dichter nicht bereiste, kein Dorf, das er übersah. Die Richtung stimmt, aber nicht ganz richtig. Die märkische Fläche ist bedeckt mit seiner Signatur, aber flächendeckend sind die literarische Landkarte der Wanderungen nicht. Mancher Ort blieb unscheinbar, mancher Zusammenhang dunkel, mancher Flecken hell. Einen, auf den ich meinen Finger lege, hat einen schönen Namen: Lebus. Betont auf der zweiten, nicht auf der ersten Silbe. Ist er eine Reise wert? Mir schon.
Gemeint ist das Lebus bei Frankfurt an der Oder. Lebus an der Grenze zu Polen. Lebus das Bistum mit einer längst abgetragenen nur noch aus der Geschichte emporragenden Kathedrale. Lebus, um das Schlachten geschlagen und Blut vergossen wurde. Lebus, dessen Existenz mir lange unbekannt war – und sich dann doch als ein vertrauter Name in meinem Gedächtnis eingespeichert hat. Denn jenes Lebus ist auch der Ort an dem Günter Eich geboren wurde.
Womit ich schon beim Hintergrund meiner Reise vom 9. Mai 2018 wäre: Theodor Fontane und Günter Eich. Doch was haben ein 1898 verstorbener und ein 1907 geborener Schriftsteller gemeinsam? Die Verbindung liegt, wie zu vermuten, im Unscheinbaren und im Kleinen. Eine erste Internetrecherche der beiden Namen verweist auf das Jahr 1951, in dem das Hörspiel Unterm Birnbaum ausgestrahlt wurde, Günter Eichs Adaption von Fontanes Kriminalgeschichte. Jeder weitere Versuch, Zusammenhänge ausfindig zu machen, verläuft in einer Sackgasse.
Und so sind es erneut die marginalen Beobachtungen, die neue Verbindungen kenntlich werden lassen. Beispielsweise wurde Fontane 1819 in Neuruppin geboren, Eich 1907 in Lebus. Beide Städte liegen in Brandenburg. Während Eich in seinem Leben verschwindend wenig zu seiner Heimatregion äußerte, schrieb Fontane einen in sieben Bänden aufgelegten Reiseepos durch ebenjene Region: Die Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Daher ist weiterhin anzunehmen, dass Fontane darin einige Worte zu Lebus verloren hat und der helle Fleck erste Konturen erhält.
Einschalten
Das Navigationsgerät vermittelt mir, dass, egal welche Route ich gen Lebus antrete, ich immer eineinhalb Stunden im Auto unterwegs sein werden. Fontane schrieb fast genau 156 Jahre früher über den Beginn seiner Reise von Frankfurt nach Schwedt, die Oder entlang:
Es ist Sonnabend um fünf Uhr morgens. An dem breiten Quai der alten Stadt Frankfurt, […], liegt der Dampfer und hustet und prustet. Es ist höchste Zeit. Kaum daß wir an Bord, so wird auch das Brett eingezogen, und der Dampfer, ohne viel Kommando und Schiffshallo, löst sich leicht vom Ufer ab und schaufelt stromabwärts.[1]
Meine Reise beginnt nicht wie bei Fontane in Frankfurt an der Oder, sondern am Rande Berlins, in Blumberg. Begleitet werde ich von meiner Schwester. War sie anfangs nicht besonders angetan von meinen Plänen, entwickelte sie sich im Laufe von Fahrt und Erkundung zu einer findigen und begeisterten Fotografin. Wir beginnen unsere Reise, wieder nicht wie Fontane, um fünf Uhr morgens, sondern erst nach einem ausgedehnten Frühstück gegen neun Uhr. Nachdem wir Seefeld und Werneuchen passiert haben, läuft unser kleiner VW-Up vollaufgetankt mit Benzin warm. In Tiefensee ereilt uns eine Schrecksekunde. Der Kreisverkehr mit drei Ausfahrten, von denen wir beide bislang nur zwei zu befahren pflegten, soll an der dritten ominösen Abzweigung verlassen werden. Die mechanische Stimme lasse ich danach verstummen, setzt sie sowohl meine Schwester als Fahrerin wie auch mich, einen sonst lässigen Beifahrer, unter Druck. Wir vertrauen lieber auf die stummen Bilder unserer digitalen Landkarte. Vertieft darin, dem richtigen Weg zu folgen, tuckern wir durch einen Ort namens Prötzel. Das Ortseingangsschild übersehe ich beinah, da es sich, wie auch das Örtchen selbst tief im Wald versteckt, meinem Blick entziehen wollte.
Meine Schwester erinnert mich aber rechtzeitig, den Stift zu zücken. Die schwarze Mine meines Kulis kratzt über das karierte Papier, quälend entlocke ich ihm einen Namen nach dem anderen: nach Prötzel folgen Prädikow – Ernsthof – Hasenholz – Waldsieversdorf – Jahnsdorf – Müncheberg – Friedrichshof. Erst zur Halbzeit unserer Reise fragt meine Schwester, wieso ich mir denn selbst den Namen eines Dorfes aufschreibe, dessen Einwohnerzahl, gemessen an den sichtbaren Häusern, kaum das Einstellige überschreiten dürfte. Meine Antwort stimmt sie weniger glücklich als mich, denn für mich ist sie eine weitere Gemeinsamkeit, die Fontane und Eich haben. Also lächle ich in mich hinein und erkläre ihr, während wir Heinersdorf – Arensdorf – Georgenthal (welch prächtige Namen!) passieren, den Grund.
Dass Fontane in seinen Wanderungen durch die Mark Brandenburg jegliche Orte, die er durchquert hat, erwähnt, belegt ein Registerband der Reihe, wo auf fast hundert Seiten sämtliche Städte und Dörfer seiner Reisen vermerkt sind.[2] Dass Eich ebenfalls ein solches Register führte, belegen seine seit den Nachkriegsjahren erhaltenen Taschenkalender.[3] Ihn hatte es nach dem Krieg und einigen Monaten Kriegsgefangenschaft nach Geisenhausen in Bayern verschlagen, wo er als Schriftsteller wieder Fuß fassend, viele Autoreisen unternahm. Dabei notierte er sich in beeindruckender Zuverlässigkeit die Namen großer Städte und auch die kleiner Ortschaften.
Daher behalte ich meine sorgsame Vorgehensweise bei und kritzle schließlich, ganz im engen Sinne Eichs und im weiten Sinne Fontanes, die Namen Falkenhagen – Petershagen – Treplin – Alt Zeschdorf und Lebus auf das Papier.
Ankommen
„Endlich Lebus“, stöhnt meine Schwester als wir am Ortseingangsschild (leider nicht mit einem Foto bedacht) vorbeisausen und ich zeitgleich den Kuli aus meinen schwitzenden Fingern lege. Mittlerweile ist es halb Zwölf und außerhalb unseres kleinen Gefährts, welches uns auf Hochtouren mit kaltem Wind versorgt, steht die Luft bei 27 Grad Celsius. Fontane schrieb seiner Zeit von angenehmeren Temperaturen: „Der Morgen ist frisch; der Wind, ein leiser, aber scharfer Nordost, kommt uns entgegen, und wir suchen den Platz am Schornstein auf, der Wärme gewährt und zugleich Deckung gegen den Wind.“[4]
Wir durchfahren in einem entspannten Tempo, gewiss, das Ziel erreicht zu haben, die Neu- und Industriestadt, und sehen weder die strömende Oder noch den historischen Schlossberg. Aufgeregt will meine Schwester auf einem nahegelegenen Einkaufsladenparkplatz zum Stehen kommen, aber ich bewege sie zum Weiterfahren, denn meine Augen erblicken auf einem fernen Schild das Wort „Altstadt“. Mit einem letzten Kraftakt düsen wir eine
Backsteinstraße hinab, bis uns an der weiterführenden Kreuzung ein Parkplatz erscheint. Meine Schwester steuert ihn geradewegs an, er liegt sogar im Schatten, nur spendet diesen kein Birnbaum, dafür aber eine stattliche Kiefer. Als wir aussteigen, wird uns bewusst, dass wir angekommen sind, direkt gegenüber sehen wir einen Wegweiser mit der Aufschrift „Lebuser Haus“. Dahinter verbirgt sich das Museum der Stadt, eines der Ziele unserer Reise.
Erleichtert lächeln wir uns an, strecken unsere Glieder und genießen einige Momente die Hitze. In diesem Augenblick muss meiner Schwester der Gedanke auf ein kaltes Eis, das ich ihr versprochen habe, gekommen sein, ich hingegen entsinne mich der Worte Fontanes, als er Lebus erreichte: „Freilich erinnert hier nichts mehr an die Tage früheren Glanzes und Ruhmes.“[5] Mit dem ersten Zwischenziel meiner Reise hat der anfangs helle Fleck Umrisse erhalten. Nun möchte ich diese mit Farbe füllen.
[1] Theodor Fontane: Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Bd. 2: Das Oderland. Hg. v. Gotthard Erler und Rudolf Mingau. Berlin: Aufbau 1997, S. 13.
[2] Theodor Fontane: Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Personenregister. Geographisches Register. Bearbeitet von Rita Reuter. Berlin: Aufbau 1997, S. 363-448.
[3] Günter Eich: Taschenkalender. DLA Marbach. A: Eich, Notizbücher, Taschenkalender.
[4] Theodor Fontane: Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Bd. 2: Das Oderland. Hg. v. Gotthard Erler und Rudolf Mingau. Berlin: Aufbau 1997, S. 13-14.
[5] Theodor Fontane: Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Bd. 2: Das Oderland. Hg. v. Gotthard Erler und Rudolf Mingau. Berlin: Aufbau 1997, S. 16.
2 comments